Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Lektüre

Abends setzten sie sich in den Salon, um zu lesen oder Briefe zu schreiben.

Sie steckten eine Öllampe an, die ihnen trauter und heimatlicher dünkte als das grelle elektrische Licht, und spielten, wie es ihre Gewohnheit geworden, eine oder zwei Partien »Halma«.

Die Luft war still, die Fenster geöffnet und die breitgestreckten Flächen wurden nur von Mückennetzen verdeckt. Durch diese Vierecke von Draht kam mattes Geräusch von Blättern. Eine tiefe Schwärze stand dahinter wie die bodenlosen Eingänge von Höhlen. Dann kamen die nächtlichen Besucher, die Einlaß begehrten: Hunderte von heranschwirrenden Faltern, die sich mit einem Geräusch, wie wenn große Regentropfen auf ein Blechdach fallen, gegen den Draht warfen, mit glühenden Augen eine Zeitlang einen Veitstanz vollführten, weiß oder hellgrün aufblitzend, und sich dann wieder von der Schwärze verschlingen ließen.

Dazwischen kamen Augenblicke, wo dieser Regen von leichten Körpern einer Salve von Hagelschloßen glich, nämlich wenn hartgepanzerte Käfer, die jetzt im Juli immer häufiger auftraten, dazwischen fuhren, sich rasselnd an der Mauer besannen und ihr endloses, ermüdendes Gehämmer immer wieder aufnahmen, solange der gelbe Lampenstrahl dadrinnen blühte.

Diese Insektengeräusche wuchsen ins Riesenhafte, da die Stille so vollkommen war, daß man eine Nadel hätte fallen hören. Um diese Stille zu vertreiben, die höchstens durch den schlaflosen Hymnus der alten Palmer oder ein quäkendes Bedürfnis des entstellten Kindes aus dem Walde zerbrochen wurde, verfielen sie darauf, sich vorzulesen.

Mildred zeigte seltsamerweise kein Bedürfnis mehr nach philosophischer Lektüre, der sie sich sonst so gern hingab. Emerson verschwand wieder im Glasschrank und Poe eroberte sich eine grüblerische Andacht, wie sie ihm selbst bei Lebzeiten selten beschieden gewesen ...

Erwin wunderte sich, daß Mildred ein seltsames, fast krankhaftes Verlangen nach erregender Lektüre zeigte. Es schien, als wolle sie dann den Teufel mit Belzebub austreiben; als wolle sie sich dadurch, daß sie ihren Kopf mit unheimlichen Vorstellungen füllte, wappnen gegen die Stimmung der Umgebung; als wolle sie die Ausgeburten dieser Stille übertrumpfen und dadurch zurückscheuchen.

»Ich fürchte mich weniger vor dieser Stille,« meinte sie »wenn du etwas Unheimliches vorgelesen hast. Dann kommt mir alles hier wiederum rechteckig, traulich und natürlich vor, nach dem wirren Traum, der zu Ende ist, wenn man das Buch zuklappt. Man hat es ja jederzeit in der Hand, das Buch zu schließen; nur Wirklichkeitsträume setzen sich manchmal so fest, daß der Alp seinen Stempel auf alle Gegenstände drückt und kein klarer Gedanke imstande ist, die Verzauberung wegzuwischen. Buchträume aber kann man zunichte lächeln, wenn man will, denn man ist nicht allein, und man kennt sich zu gut dazu. Ich habe immer noch dein materielles deutsches Hirn zur Hand, um mich davon zu erholen.«

Erwin ging es anders.

Die Beschäftigung mit den mystischen Irrgängen des großen Dichters lenkte seinen Geist wieder in jene gefährlichen Winkel, in denen er nie gern weilte und denen er sich, er wußte nicht warum, fast zu nahe wußte, seit er dieses Haus betreten. Immerhin vermochte er es noch, sich durch geistige Beschäftigung der Gegenwart gänzlich zu entrücken.

Ruskin, den er entdeckte, öffnete ihm eine neue Welt. Er spekulierte abstrakten Verknüpfungen nach, dem Geist im Kristall... halbentfaltete, seiner deutschen Jugend entstammende Keime drängten aufzubrechen; Gedankengange, halbverwirrt nun, die sich auf edle und heikle Stoffe bezogen, ketteten sich an, schienen danach zu verlangen, daß er sie zu schönem Gewebe füge. Er fühlte sich reif und trächtig von entstehenden Werken; ihm war, als habe er eine Metallader angeschürft und er meinte, es sei nur ein wenig System nötig, um sie voll aus dem Boden zu heben.

Das Milieu, in dem er sich befand, dieses Haus, jedes Säulchen des Treppengeländers, jeder Laut der Pumpe dort unten und das Gebühren und Gespräch der seltenen Menschen, die kamen und gingen: – dies alles schien ihm so seltsam entrückt, schier traumhaft, so daß er zwischen diesen Möbeln, die doch noch von Menschennähe warm waren, umherging, als sei er ihnen stofflich gar nicht verwandt.

Ihm war, als sei all dies nur ein Übergangsbegriff, der jederzeit über Bord geworfen werden könne; als trete alles rein unpersönlich in den Hintergrund und als benütze er es nur als Gast aus fremden Sphären, dessen schwache Spur ebensoschnell wieder erlöschen müsse. Denn nicht bloß dieses Haus schien ihm fremd selbst bei täglicher Benutzung: – all dieses sehr Gegenständliche und Grelle war ihm unverwandt, fremdartig bis in die kleinste Erscheinungsform hinein, ebenso wie dieser ganze kolossale Kontinent, den er wohl in seinen Lebensäußerungen verstand und objektiv richtig abschätzte, der ihm aber nichts zu sagen hatte, gleich wie er, Erwin, nichts in ihn hineinzutragen vermochte.

Das war vielleicht ein Zustand und eine Empfindung, die keine Berechtigung hatte; aber seit seiner ersten Ankunft in der Neuen Welt war er sich dieses unpersönlichen Verhältnisses drückend bewußt gewesen. Die einzige Rettung schien ihm, die Umgebung als bloße Photographie, fast als Film zu betrachten, der sich vor ihm abrollte, vor ihm, der nichts sehnlicher wünschte, als wiederum ein Stück der verwitterten, aber geistig unendlich mehr befruchtenden Atmosphäre der Alten Welt zu sein.

Mildred dachte primitiver. Sie hatte eine schlichte Tatsachenerkenntnis. Sie stellte ihre Gewohnheiten neben die fremden, verglich sie zu Ungunsten der fremden, und beruhigte sich dabei. Das Land beeinflußte sie nicht, ebensowenig wie es Erwin zu irgendwelcher Nachahmung verlockte.

Noch rann die Fremde an ihnen ab, wie Tropfen von den Flügeln eines Wasservogels, noch waren sie voll heiterer Ironie ihrer Tradition behaglich ergeben. Sie hatten sich einen Modus zurechtgelegt, mit dem sie eine halbe Auskömmlichkeit mit dem Volk erzielten, und somit war es gut. Übrigens wäre alle Lebensphilosophie ja verschwendet gewesen, denn gegen ihren Willen saßen sie ohnehin isoliert da, aller Ansprüche an Menschen enthoben und spürten das fast noch als willkommene Gelegenheit, sich einmal über sich selbst klar zu werden... Er liebte ihre grauen, etwas strengen Augen unter den dunklen Brauen, die sich fast über der leicht gebogenen Nasenwurzel zusammenfanden; ihr schmales, helles Gesicht, ihr über den Ohren gestutztes Haar, das ihr im Verein mit den schmalen Hüften, der keuschen Knappheit der Brust und den energischen, kurzen Bewegungen etwas Knabenhaftes gab. Er liebte ihre klaren Gedankengänge, den unfehlbaren Instinkt, mit dem sie sein oft schweres und mühsames Empfinden zu formulieren und dadurch zu erledigen verstand. Er liebte die Unabhängigkeit ihres Wesens, diese heitere, selbstwillige Unabhängigkeit auf dem Hintergrund eines nationalen Gedankens, der ihm durch seine Vielfalt und Machtvollkommenheit in allen Ecken der Welt, in die er getragen wurde, imponierte; er liebte ihre etwas tiefe Stimme, die sich so selten zu Koseworten fügte; wenn sie aber eines aussprach, es aufschimmern ließ wie einen schlau versteckten Edelstein. Denn ihre Ausdrücke waren sehr praktisch, und der Sprachschatz, den sie benutzte, nicht besonders reich, da die echt englische Wortfaulheit sie dazu verführte, selbst kurze Wörter noch spielend zu beschneiden.

Mildred hatte eine ausgesprochene Gleichgültigkeit, die sich launenhaft zur Abkehr zu vertiefen drohte, vor Deutschen. Sie sah an ihnen gewisse abstoßende Äußerlichkeiten. Sie wußte, daß dies Äußerlichkeiten waren, aber man lebt doch, pflegte sie zu sagen, mit dem was man sieht, nicht mit dem, was etwa jemand denkt.

Es war Rasse, die sie in ihm liebte, ebenso, wie er das an ihr schätzte. Sie hatte Blick dafür, und wenn er nur deutsch gewesen wäre, so hätte das keine Offenbarung für sie bedeutet.

Daß er aber so über die Maßen typisch deutsch, urgermanisch und teutonisch war, das gefiel ihr an ihm, denn er machte so absolut kein Hehl daraus. Er hatte auch nicht die Sorte Schwerfälligkeit, die bisweilen, wie es bei vielen seiner Landsleute der Fall war, auf Gefühlen anderer herumtrat und sie mit Intellekt durchsiebte. Er hatte die entgegengesetzte Art der Schwerfälligkeit, nämlich er ging an eine Empfindungsform einer anderen Rasse wie etwa an ein seltsames Gewächs heran, das man nicht behutsam genug behandeln kann und erst mit unendlicher Gründlichkeit beobachten muß, ehe man es wagt, eigene Empfindungen gleichwertig daneben zu setzen.

Sie hätte ihn oft bei den Schultern packen und hin und her schütteln können wegen der ungeheueren Behutsamkeit, mit der er ihr Seelenleben beobachtete; und wenn er zuweilen daneben griff, so verletzte es sie auch selten, sondern amüsierte sie höchstens. Denn seine Instinkte waren die richtigen, wenn auch die Familientradition beider ziemlich verschieden war.

Sie entstammte einer Kaufmannsfamilie, die patrizierhafte Ideen seit Jahrhunderten weitergezüchtet hatte, während er seinen Stammbaum vom Ostseestrand herleitete. Manche Leute von nachdenklichen Berufen waren ihm vorausgegangen, weltfremd, mit etwas tiefliegenden Augen und zuweilen seltsam abenteuerlichen Gelüsten. Bei ihm selbst war dies uralte Gelüsten nach dem, was Kipling »the trail, that is always new« nennt, unwiderstehlich zum Durchbruch gekommen, und so hatte sich die Linie der Familie diesmal mit fremdem, freierem Blut verquickt. Er ließ es geschehen, daß sie vielleicht einen etwas absonderlichen Verlauf zu nehmen drohte, aus einer etwas selbstgefälligen Neugier heraus, was aus diesem Komplex von Veranlagungen wohl noch entstehen könne.

Wenn wir je ein Kind haben, dachte er zuweilen, so wird es eine Mischung darstellen, die unserer langsamen Rasse bislang fremd war. Den biederen Wandersleuten, die sich eine Gegend sozusagen mit dem Knotenstock in der Hand betrachten, wird vielleicht einer folgen, dessen Flugzeug sich brausend durch ungewohnte Himmelsstriche tummelt, neuerer und seltsamerer Beseligungen gewärtig.


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