Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Das ferne Klirren

Es hatte seit zwei Wochen nicht geregnet. Tagsüber sammelte sich über dem breiten Becken des Meergebietes eine brütende Hitze an.

Seit einiger Zeit waren auch die spärlichen Brisen ausgeblieben, die sich etwa um 7 Uhr eingestellt und die halbe Nacht hindurch gedauert hatten. Das Wasser blieb, da es immer tief aus dem Grund geholt wurde, eiskalt und so mangelte diese Erfrischung nicht. Lag man aber dann nackt auf den eisernen Betten, so fühlte man förmlich, wie die spärliche Kühle aufdampfte und die Haut sich mit einer leichten Schweißschicht überzog; und es tat weh, die Augen auf etwas zu konzentrieren. Müdigkeit, die sich in halbe Apathie steigerte, bemächtigte sich auch tagsüber dauernd ihrer Körper.

Es geschah um diese Zeit, daß die Moskitos sich vermehrten und die Jagd nach den wenigen, die sich durch das von Erwin gestoßene Dreieck in dem einen Mückennetz hindurch in das Haus verirrt, gab einen Teil der Abendbeschäftigung ab. Von zehn Uhr ab waren sie vollzählig.

Zuweilen schickten sie kleine Vorposten voraus, die spitz vor den Fenstern lärmten und ihren stechenden Gesang wie ein schrilles Ultimatum zur Übergabe zu zweit oder dritt vollführten. Dann kamen sie auf einmal wie eine Wolke aus den Waldgründen heraufgezogen und das Geräusch ihrer glasfeinen Flügel verschmolz zu einem schwebenden Ton, der dem der heftig gestrichenen E-Saite auf einer Violine glich, wobei man, wenn man die Lampe an das Netz heranhielt, mit dem Licht das grünlichgraue, tanzende Gewimmel kaum zu durchdringen vermochte.

Was geschehen würde, wenn durch einen Zufall eines dieser Netze herausfiele und die mörderische Wolke entfesselt sei, war kaum auszudenken. So aber stand der Feind vor dem Fenster und man fühlte sich wie in einer Burg, auf der die Besatzung stets gewärtigen mußte, daß durch eine Bresche herein schier unsichtbare vergiftete Waffen dringen könnten.

Trotz ihrer Vorsicht und trotzdem sie das Haus vom Dach bis zum Keller durchsuchten, geschah es öfters, daß in einen von übelwollenden Bildern erfüllten Traum hinein ein schrill aufjagendes Trompetensignal erscholl, wenn ein einzelner Moskito dicht an ihrem Trommelfell vorübersummte.

Dies war eine Plage, aber es war eine Plage der Nacht, denn tagsüber schienen die Tiere sich unter den Blättern oder im Unterholz zu verstecken. Eines Tages – es war gegen Ende Juli – als sie auf der Veranda saßen, erhielten sie einen plötzlichen Besuch. Er kündigte sich durch Geraschel im Wald an, und ein Hund erschien auf der Lichtung, der pfeilgerade und ohne Zögern auf sie zukam.

Das weißbraune, gefleckte Fell erinnerte sie sofort daran, daß es sich nur um den Hund handeln könne, den sie damals im Walde erblickt. Er kam zögernd heran, setzte sich vor sie hin und schaute sie an. Es war ein Beagle von zweifelhafter Rassenreinheit; so waren, was Mildred sofort bemerkte, seine Beine zu kurz. Müde mit dem Schwanz gegen den Verandaboden klopfend, saß er da. Er war ganz appetitlich, jedoch von abschreckender Magerkeit. Was besonders an ihm auffiel, waren seine kreisrunden, blutig geränderten, von schlehenblauen Pupillen fast erfüllten Augen. Es schien, als seien sie beim Anblick kummervollster Dinge halb erblindet; doch als halte nervöse Melancholie sie gewaltsam und ständig offen ... Es war ein bettelnder, hilfloser, verhetzter Hundeblick. Etwas nie wieder Gutzumachendes war ihm geschehen ... Nun suchte er sich seine Gesellschaft dort, wo es anderen ähnlich zu gehen schien.

Er ließ sich nicht vertreiben. Er ging wohl ein paar Mal um das Haus herum und begnügte sich mit einem Knochen, den er ohne Appetit abnagte; dann kam er wieder zum Vorschein und behauptete seinen Verandaplatz, als ob das der ihm von Gott zugedachte Ort sei, um seine letzten Tage zu verbringen. Obwohl er noch jung schien, hatte er etwas unendlich Altes und Unlustiges an sich. Bei Mildred überwog das Mitleid sofort den Abscheu; und Erwin, der mit dem Hunde stumme Augenzwiesprache hielt, faßte gleichfalls sofort ein halb kameradschaftliches Gefühl für ihn.

Ihm war, als trage dieser Hund irgend eine Warnung zu ihnen, die er nicht enträtseln könne; als läge in diesem blutunterlaufenen Blick die ganze Atmosphäre der trostlosen Gegend verdichtet.

»Ich will ihn herausfüttern,« dachte Erwin, »ihn waschen, pflegen und das Schicksal dadurch korrigieren. Vielleicht, wenn ich ihn mit neuer Lebenslust in die Welt schicke, geht es mir später besser. Auch auf diesem Hund sitzt der Stempel, mit dem dies rohe Volk hier alles Lebende belastet und verfolgt. Von den Menschen kann ich den Stempel nicht nehmen, der sitzt zu tief. Aber ein Hund ist vielleicht elastischer.«

Zudem war ihm der Gedanke, Bewachung für das Haus zu haben, nicht unangenehm. Jedesmal, wenn sich unvermutet jemand näherte, belebte sich das frühalte Geschöpf; schattenhafte Instinkte erwachten in ihm und rauhes, asthmatisches Gebell brach aus seiner Kehle. – Dies Gebell zur Nachtzeit wurde ihnen allmählich ein vertrauter Laut, selbst wenn es sie weckte...

Doch irgendwie wurde Erwin von der Ankunft des Hundes verstimmt. Er sagte sich zwar, daß Ursache und Wirkung oft kindlich verwechselt würden; aber seit dem Erscheinen des Gastes, der so viel Unaussprechliches mit sich herumzuschleppen schien, war sein Hirn auf Omina eingestellt. –

Er konnte mit der größten Willensanstrengung das Gefühl nicht verwinden, daß ihnen Beiden eine baldige Gefahr drohe, deren Wesen er nicht erkannte. So wußte er am nächsten Tage, als er die kleine Einfahrtsallee bis zum Postkasten hinunterschritt, schon auf dem halben Wege, daß er keine Briefe und keine Zeitungen vorfinden würde.

Siehe da, der Postkasten war leer.

Die Zeitung erschien zwar nach einigen Tagen wieder und war nur durch ein Versehen ausgeblieben. Aber mit der übertriebenen Hitze, mit der sich seine Phantasie sofort auf Kleines stürzte, um es zu verzerren, bemächtigte er sich auch dieses Vorfalls, um Gedanken daran zu spinnen.

Er hatte noch immer eine Art Fühlung mit der Außenwelt– (wenn sie auch ganz unpersönlich war) – durch die Zeitung empfunden. Als ihm plötzlich auch dieses Bindeglied zerhackt schien, erkannte er, mit betäubendem Schrecken, den Wert dieser kümmerlichen Abhängigkeit... Sollte er von jetzt ab jeden Morgen seine entnervende Selbstzerfaserung wieder betreiben müssen??

Mit einem toten Blick in den leeren Postkasten ging er den Weg halb zurück und setzte sich mit tödlich resignierter Bewegung auf den Boden zwischen Brombeersträucher; unfähig für einen Moment, das Haus wieder zu betreten. Er blickte wie ein gehetztes Tier umher, ob nicht irgendwo ein Ausweg sei...

Drüben bewegte sich der graugelockte Kopf der Miß Palmer wie immer rhythmisch hinter dem Verandageländer hin und her. Die gelbe Straße spann sich schnurgerade zwischen den Fichten weiter. Der Himmel flammte.

Er schloß die Augen und eine große Stille entstand in ihm. Ihm schien, als sitze er als einzig fühlendes Wesen inmitten einer Wüste, die keine Zungen hatte.

Ferne, fühlte er, gab es einen großen Ring, einen unsichtbaren Ring und dieser war in weitem Umkreis um ihn geschlossen. Zuweilen durchlief ein Klirren diesen Ring: traumhaftes Zwiegespräch von Metall. Poltern geschah, stufenweise abklingend. Die Erde war verödet, unterwühlt, dem Metall und dem starren Klirren ausgeliefert: Schwingungen aus murrenden Schlünden, in denen Menschen zu Millionen verkamen wie Geschmeiß. Sie durchbebten den Umkreis, und sein Herz schien stillzustehn.

Ihm schien, als ob dies alles sich erbarmungslos, mit gräßlicher Zielbewußtheit um ihn zusammenziehe, in entsetzlich langsamen, lähmenden Pausen; als ob das ferne Klirren es auf ihn abgesehen habe; als ob er als letztes Opfer, als letzte freie Intelligenz sich bäumen müsse gegen den Tod unter unabwendbarer Walze... Das war die Wand, die sich herzuschob; die aus Fanatismus, Hetze, Verlogenheit und widrigem Nichtverstehenwollen zusammengetragene Wand, in deren Bereich alles Lebendige, harmlos Produktive, Unverseuchte zerstampft wurde wie mit riesigen Hämmern.

Das Langsame in der Entfaltung der Gewalt war das Furchtbare. Wäre sie gekommen als befreiendes Gewitter, er hätte sie begrüßt. So aber fühlte er ihre zähen, gewaltigen Kräfte und Maße ausbalanziert. Sie schwankten träge gegeneinander und vermochten sich doch nicht von ihren granitnen Sockeln zu stürzen. Sie lauerten einander die fortschreitende Zersetzung ab... Ein befreiender Stoß schien undenkbar ...

»Warum lese ich überhaupt noch Zeitungen«, dachte er. Kopftitel amerikanischer Blätter, mit fetten Buchstaben in sein Hirn gebrannt, traten in glühenden Gruppen hervor. Und was meldeten sie? Woran mästeten sie sich seit Wochen? – –: Geplänkel aus Schützengräben. Attacken der Russen in Wolhynien, im Rigasektor; halb ermattetes Erstarrtsein, nervöser Niederbruch der Italiener; Stellungskämpfe bei Verdun, an der Somme, wo der große Vorstoß der Alliierten »The Big Push«, im Blut erstickte... All dieses bildete eine mächtige Atempause, die eines schweißbedcckten Giganten in der Arena. Halb hat er seinen Gegner mit sich gerissen; nun hockt er am Boden und pumpt sich die Lunge wieder voll, ehe er ihn in die entscheidende Position herumreißen kann ... Während dieser Atempause hüpft der Unparteiische, der mit dem Spitzbart und den blanken Semitenaugen, um das keuchende Paar herum und zählt. Das war der Journalismus der Welt; die Zeitungsmacht, die mit der Uhr in der Hand und dem Daumen am Pulsschlag der Telegraphen die Wochen zählte; die Monate zählte: ... bis diese gräßliche Vergeudung von Kräften durch eine Entscheidung vielleicht so etwas wie einen Sinn erhielt...

Erwin riß die Augen wieder auf. Tödliche Einförmigkeit schloß sich über ihm.

»Ich muß lesen«, dachte er. »Ich muß dieses verdammte Weltgeschehen, das mit mir Spielball treiben will, ignorieren können. Hätten diese Tausende hier den Mut, es zu ignorieren, eine Stimmung würde geschaffen, in der es sich noch zu atmen verlohnte.«

Er beschloß, sich aus der Leihbibliothek in Lakewood eine Liste von Autoren zusammenzustellen und sich mit Gewalt in eine andere Welt zu versetzen, in die heitere menschenwürdige Welt einer Friedenskultur, der man so unverantwortlich gewaltsam entrückt war.

»Ich will mir alle Sensationen meiner Knabenträume, den bunten Schimmer einer einst so greifbaren Zukunft mit Gewalt zurück zwingen... Ich will dies alles nicht sehen. Ich will hier mit dem Körper existieren, aber mein Geist soll zeitlos, gewichtslos sein, an keinen Ort gebunden.«

Seltsam getröstet betrat er das Haus und traf Mildred einsam, mit nichts beschäftigt und vor sich hinstarrend im Wohnzimmer an. Sie nickte kurz, als ob der Gedanke ihr selbstverständlich sei.

»Wenn du es fertig bringst, wo anders hinzureisen, dann nimm mich mit.«

Sie beschlossen dieselben Bücher zu lesen und in der nächsten Woche vermochten sie unbefangen in der Welt großer Persönlichkeiten zu Gaste zu gehn, heiter und beschenkt aus einem Gartentor in ein anderes schlüpfend.

So lebten sie in einem Scheinparadies, bis auf einmal die schützenden Zäune zusammenstürzten und die Wirklichkeit ihnen nüchtern-nackt entgegen drohte; öde gleich dem Ersten Ring des Inferno.


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