Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Zweiter Teil

Der Fall des Leutnants Zuckschwerdt

Er führt sich ein

Erwin stand vor dem kleinen Tunnel unter den Zweigmassen des großen Wacholderbaums. Hier hatte er sich einen Tisch und eine Bank aufgestellt und nannte es seine Arbeitshöhle. Aufgeschlagene Bücher lagen dort, Hebbels Tagebuch und einige Manuskriptblätter... Das Laub war so dicht, daß es kaum einen Regentropfen, geschweige denn einen Sonnenstrahl durchgelassen hätte. Grüne Dämmerung herrschte, und die einsame Bekennerstimme des kranken Titanen Hebbel schien eingefangen wie der Ruf des Meeres in der Muschel. War es nicht, als schwebten noch einzelne Seufzer aus einer zeitlich und räumlich so fernen deutschen Leidensgruft umher? – Kostbarer Geist, hier bist du unverständlich; nur in verstecktestem Winkel vermagst du Schattenflügel zu regen! –

Übermannshohe Wiesengewächse verdeckten die Aussicht in das Tal. Das Haus, das Erwin jetzt bewohnte, stand auf dem Abhang eines Hügels mitten in Ohio, in der Gegend Cincinnatis auf dem Lande, unfern einer kleinen Bahnstation namens Tower-Hill; doch hätte es ebensogut auf der Luftlinie aller Radien stehn können, die von ihm ausstrahlten über den Kontinent; und nirgends hätte es Befremden erregt. Es war eine zweistöckige Villa: zusammengenagelte Latten auf einem Backsteinfundament mit einer gaisblattumwucherten Veranda.

Nichts erinnerte in dieser Gegend daran, daß die amerikanische Kriegserklärung bereits drei Monate alt war. Der Hochsommer des Jahres siebzehn trug hier das Gesicht der früheren. Der »Kleine Miami« schlängelte sein silbriges Lehmgrau durch Gruppen kompakter Erlen oder an einzelnen turmhoch ragenden Pappeln vorbei, die wie Stümpfe eines Riesenhains der Vorwelt die Landschaft sprenkelten. Die Hügel trugen gelichtete jüngere Waldbestände. Ein breiter blendender Glanz erfüllte den Umkreis. Eine durch kochende, schier tropische Glut hervorgelockte Fruchtbarkeit zwängte sich in alle von Menschenhand gehackten Lücken und überspann sie neu: Unendliche Einfälle Gottes; zitternder Formenreichtum.

Die Luft über der abfallenden Wiese schwang wie hinter blasser Flamme, durchbraust vom Sieden der Pflanzensäfte und vom Geschwirr schönfarbiger Wespen. Nichts tat Erwin lieber, als diese Wiese langsam zu durchqueren; mit zärtlich wachsamem Knie durch das Dickicht neue Gänge zu stoßen, die sich aufschnellend hinter ihm schlossen.

Er war stärker geworden, behäbiger wohl auch: die Behäbigkeit einer stumpf harrenden Resignation ohne unmittelbarste Brotsorge ... Sein Gesicht war farblos, wenn auch nicht ungesund. Doch sein Blick bekam etwas Entgleitendes, sobald er fernere Gegenstände zu fixieren suchte.

Mr. Bye, der Farmer auf dem Nebengrundstück – der gerade in die Beschäftigung vertieft war, Maishülsen zu rupfen – warf einen Blick hinüber und deutete sich murmelnd an die Stirn. Was wohl dieser beschäftigungslose Dutchman da wieder in der Wiese machte! – Er war ja freundlich; es war kein schlechtes Auskommen mit ihm. Aber Mr. Bye hatte sich längst berichten lassen, daß jener ein Deutscher war. Man hatte ihm geraten, ein halbes Auge auf die Bewegungen des Fremden zu halten; – hatte er, Mr. Bye, der semmelblonde lattendürre Farmer-Zimmermann, das aber nötig! – He! – Er wußte nur zu gut, daß seiner eigenen Verschmitztheit nichts entgehen könne; daß jener zu korpulent war und zu durchsichtig zugleich, um jemals auch nur den kleinen Finger für Spionage oder sonstige tiefkriminelle Unternehmungen zu rühren ... Außerdem wußte der Farmer, daß es außer dem seinen noch mehr halbe Augen gab, die sich in regelmäßigen Zeiträumen der kompletten Ungefährlichkeit des Fremden versicherten. Seine Bauernbedenklichkeit wäre auch nie erwacht, hätte er Phantasie genug besessen, zu begreifen, was Erwin tat. Aber er begriff es nie!

Erwin hatte Momente, wo er jung und klein war und sich in einem Garten im Herzen Mitteleuropas beschaulich fühlte. Mit zerschrammten Knien saß er auf dem Boden und erlebte atembeklemmende Andachten vor dem Wunder eines Schmetterlings, der ruckweise unter der Hutkrempe enthüllt ward; dessen Zappeln man dämpfen mußte, um ihn zwischen spitzen Fingern betrachten zu können ... Erwachsene Menschen in Amerika, selbst wenn sie solche Momente haben, vermeiden es, in den Verdacht zu kommen, kurzhosig zu sein, das heißt: zu träumen. Es gibt dort keine Wunderdinge, die man mit Hüten aus der Luft holt.

Jetzt stand der Deutsche wieder auf und wurde dadurch um zwanzig Jahre älter. Er schützte seine Augen und blickte umher, während Mr. Bye sich murmelnd wieder seinen Maishülsen zuwandte. Erwin genoß sein tägliches Panorama: die Schwalbenschwänze dieses Himmelsstrichs. Da war der Turnus, der in Gruppen auf den Dolden saß unter eitlem Beben leuchtend-zitronengelber Schwingen. Da schoß es schwarzblau vorüber: der Ajax mit bräutlicher Schleppe; wie ein getigerter Pfeil. Erwin kannte sie alle; sie waren seine Freunde, seine Geschöpfe. Sie waren eine stumme Gemeinschaft unbefangen flatternder, ihm innigst verwandter Wesen. Sie wußten nichts von den anschwellenden Energiekrämpfen der Menschenhirne nach zwölf Monaten tagtäglicher Peitschenhiebe; tagtäglicher Mißhandlung und Irreführung! –

Die Türglocke unten erscholl. Erwin fuhr auf und ging weiter. Dort am Fuß des Hügels, auf der pulverweißen Straße stand ein kleines Automobil; und schon sah er Mildred um das Haus herum kommen in Begleitung eines Mannes. Was an diesem Mann sofort auffiel, war eine eigentümliche Art zu gehen. Es war als trete er die Luft vor sich nieder.

»Besuch«, dachte Erwin. »Aber wer in aller Welt kann das sein?«

Mildred stieg ihm allein entgegen. Der Mann machte Halt und stellte sich auf bescheidene und doch selbstbewußte Weise in den Hintergrund.

Mildred schien erregt.

»Du, ein Deutscher; er hätte von dir gehört. Heißt... Sökswert... oder so ähnlich; wünscht dir vorgestellt zu sein.«

Erwin kam langsam näher, worauf der Besucher ihm ein gerötetes Gesicht zuwandte. Transpiration gab seinem Lächeln noch eine besonders erschöpft hingebende Note. Auch lächelte ein buntes Hemd aus einer blauen Jacke hervor; und weiße Flanellhosen entblößten, diskret und doch deutlich, bei jedem Schritt Seidensocken über lederbekappten Segelschuhen. Der Herr, nach abwartender Abschätzung der richtigen Entfernung, begann mit leicht zuckenden Verbeugungen bei selbsttätigem Oberkörper. Die Beine schlossen sich zum starren Sockel. Die Bewegungen waren durchaus unamerikanisch. Der Herr nannte mehrmals seinen Namen, der zunächst nur einem schnalzenden Zischlaut glich, und erklärte den beschmutzten Zustand seiner Hände mit einem Hinweis auf den Kraftwagen.

»Viel Dreck, verstehen Sie ... Pardon! ... meine Fett; Benzin, und solche Sachen!«

»Lassen Sie das nur gut sein. Mein Frau gibt Ihnen Seife und dann sehn wir uns beim Essen.«

Der Gast war einverstanden. Abkühlung sei heute nötig, he he! – Etwas gedämpfter zu Erwin: »Er schwitze wie eine Braut im Juni!«

Seine Augen blitzten. Etwas Forsches, zu Mildred geäußert, die neben ihm um die Ecke des Hauses zurückging, verschmolz sonor mit den verschiedenen Sommer- und Küchengeräuschen. Da scholl das aufquietschende, aus der Ratlosigkeit leerer Verdauungsschläuche steigende Gebrüll der schwarzbehaarten Säue im Verschlag; da schoß Rascheln zusammen; – da gackerten die Plymouthhühner; da tönte die schrille Lockstimme der Frau Sniggers. Und durch alles hindurch klang die Stimme des Besuchers, lauter noch als das töricht-schnappende Gebell des Jagdhundes Smutty, der, noch immer erstaunt über den Besuch, Monologe hielt und auf der abfallenden Wiese erregt über die eigenen jungen Pfoten stolperte.

Der Tisch war gedeckt. Erwin fragte Mildred: »Was will er und was ist er?« – –

»Er würde das erklären, wenn er dich spricht. Ich glaube, ich sehe ihm zu englisch aus; bei dir taut er auf. Still, da kommt er.«

Man hörte das Kracken von Treppenstufen. Hatte der Herr vorhin einen etwas beanspruchten Eindruck gemacht, so sah er jetzt aus, wie aus dem Ei gepellt. Er bediente sich geschickt und kräftig mit einem Stuhl, und saß.

Hierauf lächelte er freundlich und hob, während er mit der Gabel ohne hinzusehen aus der kalten Platte das Wesentliche herausstach, zu einer kleinen Selbsteinführung an. – Zunächst stellte er sich noch einmal und diesmal deutlicher vor: »Zuckschwerdt; Oberleutnant in der Pionierabteilung des 22. Artillerieregiments, Dinklage.« – – Das Ganze gelang ihm, indem er einmal kurz ausatmete. – »Momentan bin ich Maschineningenieur. Hörte, daß hier deutsche Herrschaften wohnen. Da sagte ich mir: »Zuckschwerdt, sieh dich mal um nach diesen Herrschaften. Landsleute müssen heutzutage zusammenhalten!« – – Werden auch nicht viel Verkehr haben, was?«

»Danke, es geht,« meinte Mildred.

Eine kleine Pause begann, die durch das Kauen des Gastes ausgefüllt wurde. Mildred war zu neugierig, um zu essen. Ihre geschwungene Lippe war leicht geschürzt; ihr Kopf stand aufrechter als sonst auf gestrafftem Hals. – Da war nun endlich einmal einer, der keine Umstände machte!... Doch auf der anderen Seite: es war auch wieder nicht die englische Art, sich bei fremden Leuten zu Hause zu fühlen. Es war ein Ansichraffen von Bekanntschaft; eine Adoptierung ihrer selbst und Erwins, was der Leutnant betrieb ...

Dies war der erste deutsche Krieger, den sie kennen lernte. Er wollte wohl als solcher betrachtet werden; denn sonst hätte er sich nicht als Oberleutnant eingeführt. Sie sah (und so ähnlich hatte sie sich die Kaste aus der Nähe vorgestellt) – gewisse unverwischbare Merkmale. Der runde Kopf hatte jeder Amerikanisierung widerstanden; vielleicht gegen den Willen des Besitzers. Aus dem Gesicht, roh und gut geschnitten, sprang eine Nase wie ein stumpfer Schnabel. Der Mund, der in Momenten, wo Zuckschwerdt an nichts Bestimmtes dachte – (und solche Momente sollten sich noch häufig zeigen!) – leicht offen stand, war lang, animalisch feucht und etwas wulstig. Über die Kiefergegend, die aggressiven Muskelknoten unterm Ohr, fühlte man sich getröstet, wenn Zuckschwerdt lächelte. Dann produzierte er seltsam weiche, geradezu anheimelnde Grübchen in der gesunden rostroten Wangenhaut.

Das Haar behandelte er auf landesfremde Art. Er scheitelte es seitwärts und kittete es an. Es war nicht lang; und so hatte es einer großen Menge des Bindemittels bedurft, um es in der gewünschten Form zu erhalten. Die Augen waren, was Mildred bei sich »Dachaugen« nannte: Stirnkämme wie ein Strich, und darunter hingen sie metallisch hellbraun, sperbermäßig kalt, und vom Glanz einer Säbelscheide. Sonst war er auf eine fröhlich legère Art gewandet. Weit geschnittene Kleidung bedeckte seine Energie atmende Person. Nur hie und da hatte er, um ja kein Faltengewimmel, keine disziplinlosen Wülste entstehen zu lassen, Plättungen oder Stärkungen gebraucht; – so bei den Hosen, deren Bügelfalten mit der Schärfe einer Messerschneide über die Knie krochen.

Die Kau-Pause war vergangen. Der Leutnant hatte heruntergeschluckt, was auf seinem Teller war, und blickte nun stramm über den Tisch.

Mildred war zufrieden. Die Vorstellung, die sie bislang von einem deutschen Krieger gehegt, bestätigte sich durchaus. So und nicht anders mußte sich diese Menschenart benehmen. Der da hatte einen Dunst von sprungbereiter Männlichkeit an sich. Er ging im Stechschritt auf sein Ziel los. Seine dicke Epidermis schützte ihn hier. Überall würde er dieselbe Rolle spielen; – unsympathisch zwar, aber doch als Typus halbwegs harmonisch ...

Als Zuckschwerdts Blicke sie jetzt blitzend trafen, verschleierten sich plötzlich seine Pupillen. Mildred war fast erstaunt, als das Burschikose seines Wesens zauberhaft hinweggeblasen schien und er mit der sanftesten Stimme der Welt die Zügel eines korrekten Tischgespräches aufnahm. So behutsam tat er das, als warte er nur auf eine Gelegenheit, um sie der Wirtin zu überlassen.

»Er komme nicht etwa aus dem Blauen geschneit,« sagte er. »Er wisse genau, daß es unlieb vermerkt werde, wenn man Leuten unangemeldet ins Haus falle. Er bringe Empfehlungen von der Familie Kielwasser.« – Hier nannte er ein auch Erwin bekanntes deutsches Pastorenehepaar. – »Reizende Leute seien das, Kielwassers. Bißchen wenig Schwung bringe der Mann ja in seinen Kirchenbetrieb. Kürzlich habe er sich ins Bockshorn jagen lassen, als einige reiche Gemeindemitglieder bei Predigten auf englischen Text gedrungen hätten. Aber sonst sei der Pastor eitel Herzensgüte, sehr gebildet. Und die Frau, wie eine Mutter sei sie; und koche fabelhaft. Mit der hohen Bildung des Pastors hänge es auch zusammen, daß er ihn, Zuckschwerdt, auf Herrn Notacker verwiesen habe.«

Erwin verbeugte sich leicht.

»Da sei ein Mann,« habe jener gesagt, »den habe ein widriges Schicksal während des Krieges in Amerika festgehalten; ein feiner Gelehrter, der sich einsam fühle, ohne Gedankenaustausch sei und fern von der Heimat. Gehen Sie zu ihm, Herr Leutnant, und versuchen Sie, ihn aufzuheitern!« – »Das habe ich mir natürlich schleunigst gemerkt und deswegen bin ich hier.«

»Sind Sie schon lange in Amerika?« fragte Erwin.

... Man schritt zum Kaffee und Zuckschwerdt bemäntelte die Tatsache, daß er sich anscheinend die Frage überlegte, mit allerlei kleinen Höflichkeitsbezeugungen. Er konzentrierte sich mit blitzendem Auge auf Mildred und wich der Wucht von Erwins Nachforschung gleichsam dadurch aus.

»Kaffee sei sein Lieblingsgetränk,« sagte er. »Es erinnere ihn immer an zu Hause, von schöner Damenhand das köstliche, stets erfrischende Gebräu entgegennehmen zu dürfen. Mäßigkeit sei überhaupt in diesem Breitengrade nur gesundheitsfördernd.«

Es war, als ob ein unsichtbarer Geist ihm dabei über den Scheitel streiche, ihn kindlich und gefügig mache. Er schlürfte dankbar, seine Augen verschleierten sich, dann runzelte die geglättete Stirn sich wieder und er sprach, wieder Erwin zugewandt:

»In Amerika, ach ja, hin und wieder früher schon; und jetzt hat mich der Krieg hier festgehalten. Wir fahren im gleichen Boot. Gern bin ich nicht hier, das können Sie glauben. Das Leben hier ist wie eine Walze, die alles aus einem herausquetscht, was man noch so an europäischem Feingefühl besitzt. Ein Restchen behält man sich trotzdem noch vor; das reserviert man für liebe Freunde und Landsleute.«

»Haben Sie hier irgendeine dauernde Beschäftigung?«

»Mehr als das, mein verehrter Herr. Ich weiß oft gar nicht, wo mir der Kopf steht. Aber Zähne zusammen gebissen und die Sache scharf ins Auge gefaßt, dann erledigt man die Schwierigkeiten. Muß mir mit dem Ellenbogen Bahn brechen. Das Gesindel hier versucht einem fortwährend ein Bein zu stellen. Aber wissen Sie, der Zuckschwerdt riecht immer rechtzeitig, wenn die Sache faul ist. Momentan bin ich Ingenieur; das können Sie auf meiner Karte lesen. Hab' die Karte auf dem Vorplatz gelassen. Freut mich riesig, Interesse zu erwecken.«

»Sie kommen in einem seltsamen Augenblick,« sagte Mildred plötzlich, wobei sie Erwin halb schmollend, halb belustigt ansah. »Wir sind nämlich heute drei Jahre verheiratet. Mein verehrter Gatte hat das natürlich vergessen. Er treibt sich immer unter den Bäumen herum, fängt Insekten und läßt sie wieder laufen. Manchmal schreibt er auch eine Zeile, und im allgemeinen ist der arme Mann recht schlimm dran. Ein bißchen Aufmunterung, gemeinschaftliche Interessen könnten ihm gar nichts schaden.«

Man sah es Erwin an, wie aufrichtig ihn die Mitteilung erschreckte.

»Unser Hochzeitstag,« sagte er stockend vor sich hin, und trotzdem auch sein Gesicht von der Hitze rosa gefärbt war, schien es doch, als erblasse er flüchtig. Seine Augen vergrößerten sich, es war, als blicke er durch die gegenüberliegende Wand hindurch und sähe dort etwas Erschütterndes, was zu sehen er sich mit allen Fibern innerlich sträubte.

Mildreds Gesicht, nach einer schnellen Strenge, die darüber gehuscht war, lächelte ihm zu. Auf den Leutnant hatte die Mitteilung eine geradezu elektrisierende Wirkung.

Wie ein Mann, der eine große Geschäftsgelegenheit in Reichweite sieht und sich mit Sammlung seiner ganzen Energie darauf stürzt, stand er auf, so daß die Tassen klirrten, und brüllte: »Hurra, das nenne ich einen Fund! Das trifft sich ganz famos! Man feiert selten Feste hier. Und ich soll gerade dazukommen, wo Sie einen von Ihren wenigen schönen Momenten hier haben? Da sind Sie bei Zuckschwerdt an den Richtigen gekommen!«

»Kein Grund zur Aufregung,« sagte Mildred besänftigend. »Ein Tag ist hier wie der andere, mir ist schon beinah, als wäre ich mein Leben lang hier gesessen. Das Panorama und die Menschen, –: es ist alles so jämmerlich egal. Wir vegetieren nebeneinander hin und könnten ebenso gut auf einem anderen Planeten zufällig zusammengeraten sein.«

Zuckschwerdts Miene nahm den Ausdruck tiefster Verständnisinnigkeit an, was ihm etwas drollig stand. Seine begeisterte Haltung verlor sich, er wurde zahm, sah etwas betrübt und leer drein und murmelte dann: »O ja, natürlich, diese Zeiten; und dann so abgesperrt sein. Wollen nicht gern dran erinnert werden, verstehe das, gnädige Frau. Aber trotzdem – – (und hier zwinkerte er vergnügt mit dem einen Auge) – – wie wär's, wenn ich Sie einladen dürfte, eine kleine Landpartie zu machen? Ich habe einen Sechssitzer draußen stehn, hat 7000 Dollar gekostet, ganz neu von der Fabrik, läuft wie Butter, da wollen wir uns einmal ein wenig Wind um die Ohren wehen lassen. Eine Flasche Kentucky erwischen wir unterwegs, und die Welt ist ja immer schön, wenn man nur schnell genug darin herumsaust.«

Mildred fuhr freudig in die Höhe.

»Das machen wir sofort!« rief sie, und Erwin sah ihr erstaunt nach, mit welch ungewohnter Hast sie zur Tür hinausflog, die Treppe in ein paar Sprüngen nahm und sich gleich darauf oben mit schnellen Schritten hörbar machte, als stände etwas Unerhörtes vor der Türe, das größte Fixigkeit erheische.

Jetzt kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, wie schwer ihm die Zeit an den Händen gehangen. Wie ein großes Amphibium am Rande eines Sumpfes war er hier gesessen, hatte träge Gedanken gesponnen und keine Wellen geschlagen. Er hatte dies leichte Geschöpf belastet mit einer grüblerischen Gegenwart. Qualvolle Ernüchterung hatte ihn gleichsam gedunsen und fett gemacht.

Lebensstürme waren fern vorübergerauscht. Kaum hatte er geblinzelt, so tief vergraben war er gesessen im Schacht seiner selbst. Er richtete einen vollen sinnenden Blick auf diesen Mann. »Primitiv ist er ja«, dachte er, »aber du lieber Gott, er kann einem nützen.«

»Wo hab ich dich doch schon drüben gesehen? Warst du nicht einer von denen, die hoch zu Roß vorüberklirrten, um die man einen kleinen Bogen machte, wenn sie einem auf der Straße begegneten? Die immer in Gruppen standen, immer alles arrangierten, immer schmiedeten, geschäftig die Kulissen rückten, immer einen Hintergrund mit breiten Farbklexen darauf für uns graue Existenzen stellten? Früher war das Aktivität von einer üblen und überflüssigen Sorte; jetzt hat das auf einmal einen Schein von Berechtigung, scheint mir... Wo sich alles in der Welt die Köpfe blutig schlägt, kann sich ein Muskelmensch austoben, wenn er auch nur an der Peripherie gedeihen darf.«

Laut sagte er: »Ich glaube auch, daß Sie in diesem Moment ein Himmelsgeschenk sind, Herr Zuckschwerdt. Wissen Sie, wir sind beide ein wenig verkommen hier. Da tut es wohl, wenn uns eine kräftige Hand einmal herausreißt und uns spazieren fährt.«

»Ha,« sprach der Leutnant und reckte sich, daß die Nähte an seinem bunten Hemde krachten, »man soll nie verzagen. Der Zuckschwerdt kommt oft im richtigen Moment. Betrieb ist doch die Hauptsache. Über Ihren Büchern müssen Sie ja auch verblöden.«

»Verblöden ist vielleicht zuviel gesagt,« fügte Erwin vorsichtig ein. Ihm war, als sei ein großer Stein in den Sumpf gefallen, ein Meteor vielleicht, der habe aufgezischt und ihn von oben bis unten mit kaltem Wasser bespritzt.

»Welch entzückend unbewußte Unverschämtheit,« dachte er. »Verblöden,« sprach er laut weiter, »gibt es wohl nicht für jemand, der in dieser historischen Epoche lebt. Aber eine gewisse Erblindung gegen Tatsächliches befällt einen, wenn man Tag für Tag mit den größten Ungeheuerlichkeiten überschüttet wird. Das stumpft genau so ab, wie wenn Sie sich neben eine Fabriksirene stellen. Man vergißt dann, daß es noch feinere Klänge gibt.«

Hier hörte man Mildred wieder herunterkommen und Zuckschwerdt platzte fröhlich heraus: »Es ist gut, daß wir jetzt losziehn; denn philosophieren, das gibt es nicht!«


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