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Die weiße Eule

Von

Agnes Freifrau von Verschuer

»Habt ihr gesehen, wie sie vorüberflog?« sagte die Polarfüchsin zu ihren schwarzbehaarten Kleinen, die sich in dem warmen Höhlengang des Baues schnuppernd um sie drängten. Da drinnen fand man Schutz vor Sturm und Schneetreiben und vor all der grimmigen Kälte draußen; denn es war ja ganz oben im hohen Norden, an der Küste der Insel Spitzbergen, die noch so viel weiter nordwärts gelegen ist als Norwegen und als alle die anderen bekannten Gegenden der bunten Länderkarte von Europa.

»Habt ihr die weiße Eule gesehen? Gebt acht, wenn sie noch einmal da drüben über die Klippen fliegen wird! Seht sie euch ordentlich an; denn sie ist ein Wundervogel, weit über neunhundert Jahre alt, und ihresgleichen gibt es nicht wieder!«

Am kalten Strande draußen lagen die Seehunde und sonnten sich in den bleichen Strahlen der Mitternachtssonne, die immer ganz tief am Horizont stand und doch nicht untergehen wollte. Sie blinzelten mit den sanften Augen und schauten bedächtig auf; denn auch sie hatten die weiße Eule vorüberfliegen sehen.

Diese Eule war der geheimnisvolle Vogel, den alle Tiere des Polarkreises mit Ehrfurcht betrachteten. Sie hatte viel gesehen und große Weisheit gesammelt. Ja, sie hatte sogar den Nordpol gesehen! Ihre großen, weißen Flügel trugen sie stark und sicher dahin über all die unendlichen Eisflächen, die zwischen Spitzbergen und dem Nordpol wohl hunderte von Meilen weit ausgedehnt liegen.

»Aber auch nach Süden zu kann die Eule fliegen, bis dahin, wo es so abscheulich heiß ist«, sagte der Eisbär, der unter der Klippe auf einer Scholle saß. Er schüttelte sich vor Unbehagen bei dem Gedanken an so viel Wärme. »Sie kennt sogar die Wohnungen der Menschen und hat uns davon erzählt, wie töricht das Menschenvolk ist, weil es immer wieder welche unter ihnen gibt, die so lange den Weg nach Norden suchen, bis sie vom Eis begraben oder vom Meerwasser verschlungen werden.«

»Oder bis die Eisbären sie verspeisen,« sagte der alte Seehund mit dem treuherzigen Blick. Sein Haar war spiegelblank zurückgekämmt und weich wie Seide. Er ließ sich jeden Morgen von den Wellen kämmen, ehe er zum behaglichen Sonnen an den Strand kroch.

»Besser, wir verspeisen sie, als daß sie sich unsere Tatzen wohlschmecken lassen«, erwiderte der Eisbär, und wälzte seinen dicken Leib auf die andere, kältere Seite der Eisscholle, auf der er ruhte. »Auch unsere schönen weißen Kleider ziehen sie uns aus, um sich damit zu schmücken.«

Er schlug mit seiner gewaltigen Pranke auf das Eis, daß es krachte und splitterte, so daß ein paar schwerfällige Fettgänse, die in seiner Nähe am Ufer saßen, erschrocken aufflogen, jedoch nur, um sich gleich wieder dicht daneben im seichten Wasser – plumps! – niederzulassen.

»Hört, macht nicht solchen Lärm mit euren breiten, plumpen Schwimmfüßen!« rief die Füchsin vom Eingang ihrer Höhle her. »Ich höre einen anderen Ton in der Luft. Ihr wißt, mein Gehör ist fein und trügt niemals. Ich höre den nahenden Flügelschlag der weißen Eule.«

Im Dämmerschein des Polarabends kam sie lautlos herangeflogen mit großen, ausgebreiteten, schneeweißen Flügeln. Sie ließ sich auf die Klippe nieder, von der der Eisbär sogleich ehrfürchtig zurückgerollt war, und blickte über die Küste hin mit großen, wunderbaren, immer grau verschleierten Augen. Sie war ein herrlicher

Vogel in ihrer fleckenlosen Weiße, aber das schönste an ihr waren doch die Augen, welche aussahen, als ob sie alle Dinge dieser Erde und alle Geheimnisse bis auf den letzten Grund gesehen hätten.

In der großen Stille ringsum vernahm man deutlich jedes Wort, als sie mit ihrer leisen, feinen Vogelstimme zu reden begann:

»Ich grüße euch, meine Kinder vom nördlichen Eismeer! Ich wollte euch wiedersehen auf meiner Reise nach Süden und wollte euch erzählen, was ihr alle so gern hört, und von dem ihr doch alle nichts wissen könnt – ich will erzählen von meinem letzten Besuch am Nordpol. Ich bin in diesem Jahr zum tausendsten Male dort gewesen, deshalb war es ganz besonders schön – und feierlich wie ein Jubiläum!«

Die Eule schlug ihre langen, spitzen Krallen fester in das graue Moos der Klippe, auf der sie saß.

»Ja, diesmal war es ganz besonders schön! Ich saß auf der Achse der Erde und sah die funkelnden Sternbilder um mich herum sich im Kreise drehen. Sie alle schienen meinen Ehrentag mit zu feiern, und meinen alten Augen schimmerten sie diesmal fast zu grell. Der Orion hatte sein glänzendes Schwert umgegürtet wie ein Held, und der große und der kleine Bär bewegten sich mit in dem festlichen Reigen. Der Nordstern leuchtete, und das Siebengestirn schien mir zu winken. Der Drache zog seinen glänzenden Schweif über den schwarzen Himmelsbogen hin. Ja, es waren Sterne ohne Zahl, die flimmerten auf mich herab und lehrten mich die alte Weisheit von der Kleinheit der Erde.

Dann kamen die Nordlichter und tanzten vor mir ihre blendenden Feuertänze. Bläulich schimmerte das Eis in ihrem Licht, und bläulich erglänzte auch mein Gefieder. Der Mond erbleichte, und selbst die Mitternachtssonne ward trübe – denn am Nordpol herrschten die Nordlichter. Die Sonne ist da oben wie gestorben – und auch der Sturm muß schweigen. Am Nordpol ist fortwährend Windstille, nicht einmal das Knacken des Eises würdet ihr hören und keines Vogels Geschrei – denn im Kreise um die Achse der Erde ist ewig Totenstille.

In dieser Stille war ich drei Tage und drei Nächte lang und füllte meinen alten Vogelgeist mit neuer Weisheit.

Jetzt aber will ich südwärts fliegen, bis hin zu den Meeresströmungen, von denen sich das Menschenvolk so gerne nach Norden treiben läßt. Wie sind sie klein und schwach in ihrem ehrgeizigen Streben nach Ruhm und Wissen.

Wie manches Schiff sah ich im Eis vergehen, und wie manches Gebein sah ich bleichen! Ja, einen sah ich in den Lüften fliegen – und doch auch in die Tiefe stürzen. Wie kann ein Menschenkind das Fliegen versuchen, wenn er nicht Flügel hat, die so stark und ausdauernd sind wie meine!«

Die greise Eule spannte bei diesen Worten ihre Schwingen wieder weit aus.

»Lebt wohl – bis zum nächsten Jahr!« rief sie beim Aufwärtsschweben – und aller Augen folgten der weißen Erscheinung, welche ebenso schnell und lautlos, wie sie gekommen, in den Nebeln, die über der Insel landeinwärts lagerten, verschwand.

»Das war eine schöne Geschichte, und das war Weisheit,« sagte die Füchsin; »aber nun, ihr guten Kinder, denke ich, wollen wir lustig sein und tanzen; denn der Mond ist aufgegangen, und zuviel Weisheit vorm Schlafengehen ist nicht bekömmlich.«

Die kleinen Füchse faßten sich gegenseitig bei den Pfoten und tanzten auf den blankgewaschenen Kieseln des Strandes, daß es eine Lust war. Die Seehunde wälzten sich im mondbeschienenen Wasser, bis der Schaum hoch aufspritzte und der alte Eisbär sich brummend weiter auf den Strand zurückzog. Nur die dicken Fettgänse blieben unbeweglich neben der Klippe sitzen: zum Tanzen waren sie zu bequem und vielleicht auch nicht mehr jugendlich genug.

Die weichen, flatternden Nebel, die über der Insel lagerten, wurden dichter und verhüllten schließlich ganz die Richtung nach dem Süden, in der die weiße Eule verschwunden war.

Aus dieser Richtung von Süden her kam langsam ein Schiff gefahren. Es war ein gutes Schiff, breit und kräftig gebaut, mit wuchtigem Bug, der auch den härtesten Eismassen Widerstand leisten konnte. Seine Masten waren harzige Tannenstämme, in Schwedens Küstenwäldern gewachsen und deshalb von Jugend auf an die Gewalt der Seestürme gewöhnt. Es war die »Maria«, das Schiff des schwedischen Schiffers Olaf Erichson, der trug eine große Sehnsucht in der Seele, ein ehrgeiziges Verlangen, es allen seinen Landsleuten zuvorzutun, zu sehen, was bisher noch keines Menschen Auge gesehen hatte – und endlich den Nordpol zu erreichen. Mit günstigem Wind war die »Maria« bisher gefahren – vorbei an Norwegens felsiger Küste, vorüber am steilen, dunklen Nordkap, daß so scharf gezeichnet ist gegen die dahinter sich dehnende Ferne der unbekannten Gewässer des Nördlichen Eismeeres.

Tage und Nächte lang immer nur Wasserfläche – stahlgrau und öde im kraftlosen Sonnenlicht – und dann kam die kahle Küste von Spitzbergen. Von da aus wollte man hinüber zum rätselhaften Franz-Josephs-Land und weiter hinauf – bis dahin, wo auf den Landkarten die großen, weißen Flecke anfangen – von denen niemand mehr sagen kann, was dort zu finden ist.

Ein jeder Schiffer, der dort hinauf will, muß wissen, ob er Mut genug in der Seele trägt, um auszuhalten in der grausigen Polarnacht, die sechs Monate dauerte, und in einer Kälte, die niemand recht beschreiben kann.

Der Schiffer Olaf Erichson hatte solch mutigen Sinn und eine starke Hoffnung, sein Ziel zu erreichen. Er blickte vom Deck seines Fahrzeugs auf das kalte, graue Wasser, das sich öde und weit vor ihm ausdehnte. Das gleichmäßige Rauschen der See schläferte ihn ein, und er schloß die Augen.

Da sah er im Traum das Bild seiner Heimat. Er sah ein kleines, weißes Haus in Schweden, das in sonnigen Dünen dicht am Strande gebettet lag. Er schaute durch das niedrige Fenster in eine helle Stube hinein und sah ein Weib am Tische sitzen: es war Maria, seine Frau. Die linke Hand hatte sie aufgestützt – und ihr Gesicht war nach der Seeseite zu gewandt. Die rechte Hand hielt den hölzernen Rand einer Wiege, in der ein Knabe schlief: das war sein Sohn. Und im Traum erlebte er noch einmal die Stunde des Abschieds, in der Maria den goldenen Ehering an seiner Hand geküßt hatte.

»Du wirst mich niemals vergessen, solange du den Ring hast, und du wirst wiederkommen, so Gott es will«, hatte sie dabei gesagt.

Dann erwachte Olaf Erichson und fühlte nach seinem Ring und drückte ihn fest. Er wußte, daß er sein Weib und Kind nicht vergessen konnte – in alle Ewigkeit nicht! –

Der weiße Schleier der Polarnacht, die im Sommer hell ist, weil die Sonne nicht untergeht – senkte sich herab. Es war Dämmerung. Im Tauwerk der Masten schwankten rechts und links die beiden Laternen, grün und rot. Der Steuermann war vorne in seinem kleinen Haus, und die übrige Mannschaft ruht in der Kajüte aus vom schweren Tagwerk.

Kurs nach Nord! Immer gerade aus in die graue Ferne hinein. Der Schiffer blickte nach oben, ob die Nebel sich noch verdichteten, denn kein Stern war zu sehen, kein Licht außer den beiden Laternen. Da fiel ein sonderbarer Schein auf sein Gesicht. Er kam aus einem bisher noch nie gesehenen Augenpaar, das unverwandt auf Olaf Erichson gerichtet war. Im Mittelmast, auf der Rahe, saß eine große, weiße Eule, und im Nebel, der rings umher lagerte, schien das Gefieder des Vogels selbst aus feinen Nebelstreifen gewoben zu sein.

War's Sinnestäuschung, oder war es ein Gespenst, das des Schiffers noch halb vom Traum befangene Sinne narrte?

Geräuschlos breitete der Vogel seine Flügel aus und ließ sich zu Olafs Füßen auf das Deck nieder.

»Sieh da, ein Polarvogel, eine weiße Uhuart, wie sie in diesen Gegenden manchmal vorkommen sollen«, sagte der Schiffer.

Aber gleich darauf schnürte ihm ein beklemmendes Gefühl die Kehle zu, wie der fremde Vogel seine Schleieraugen plötzlich weit aufmachte und ein ganzes Bündel von gelben Strahlen daraus hervorschießen ließ.

Dann vernahm er eine fremde Stimme, die mit Menschenstimmen gar keine Ähnlichkeit hatte und die er trotzdem sehr gut verstand.

»Ich bin die weiße Eule,« sagte die Stimme, »bin die Älteste meines Geschlechts und komme, dich vom Nordpol zu grüßen, Olaf Erichson!«

»Vom Nordpol?« Dem Schiffer stieg vor Erregung das Blut ins Gesicht; denn dieses Wort bedeutete ihm alles, was sein Herz begehrte: Ehre, Erfolg und die Befriedigung seiner geheimsten Wünsche.

»Erzähle mir vom Nordpol, und wenn du kannst, so führe mich dorthin, du fremder Vogel!« rief er begeistert aus.

»Gib mir Unterkunft auf deinem Schiffe, in deiner warmen Kajüte, so will ich sehen, was ich für dich tun kann«, erwiderte die Eule, und wie Olaf verlangend seinen Arm ausstreckte, da flog sie vom Boden auf und setzte sich darauf. Sie ließ es geschehen, daß er sie behutsam und immer noch wie traumbefangen in seine Kajüte hinunter trug.

»Ich will mich einmal mit diesem Menschenvolk etwas näher einlassen; denn auch das wird Weisheit bringen«, sagte die Eule leise vor sich hin. Diesmal sagte sie es in ihrer besonderen Vogelstimme, und davon verstand der Schiffer keine Silbe. Unten in der Kajüte ließ Olaf die Eule sich niederlassen auf den Rand des kleinen Schrankes von dunklem Eichenholz, in dem seine Gefährten der Einsamkeit, seine Bücher, aufgespeichert waren. Sie saß davor, gerade als ob sie dahin gehörte, und sah in ihrer Ruhe aus wie ein ausgestopftes Tier. Nichts verriet ihr Leben als nur dann und wann ein müdes Blinzeln der verschleierten Augen, aber herrlich und milchweiß glänzte selbst hier das Gefieder im trüben Lichte der kleinen Öllampe, die von der Decke herunterhing. Solche weißen Eulen hatte Olaf Erichson in Schweden niemals gesehen. Da gab es nur graue und braune Vögel dieser Gattung – die versteckten sich am Tage und flatterten des Nachts im Kiefernforst umher. Die machten Jagd auf Mäuse und riefen »Kiwit! Kiwit!«, so daß viele Leute sich vor ihnen fürchteten.

Vor dieser Eule aber hier empfand der Schiffer keine Furcht, obgleich er wußte, daß sie kein gewöhnliches Tier, sondern ein Zaubervogel war. Und weil sie seine eigene Sprache sprechen und auch verstehen konnte, so wurde er immer vertrauter und redete zu ihr wie zu einem alten Freunde.

So blieb sie in der kleinen Kapitänskajüte der »Maria« viele Tage und viele Nächte.

Die Mannschaft bemerkte den fremden Vogel, ohne sich weiter viel zu verwundern, denn auf Seereisen gewöhnt man sich überhaupt bald das Wundern ab.

Der kleine Schiffsjunge schlich sich eines Morgens unbemerkt in die Kajüte, und nach einigem Zögern und Anstarren streckte er behutsam die Finger aus, um das weiße Gefieder, die beiden starken, über dem Schwanz gekreuzten Fittiche ein wenig zu betasten.

Sie ließ es sich gefallen, aber dann blinzelte sie mit den Augen, da fuhr er erschrocken zusammen und lief wieder an Deck hinauf, so schnell seine Füße ihn tragen konnten. Der Leichtmatrose oben, der gerade eine Pfeife stopfte, räusperte sich und meinte: »Was nur unser Kapitän an dem alten Kauze findet! Wenn's wenigstens noch ein eßbarer Vogel wäre, dann wäre das freilich eine andere Sache.«

*

In den stillen Abendstunden, wenn die Lampe drunten tröstlich brannte und man die Kälte draußen vergessen konnte, bei lustig ringelndem Dampf, der aus Teekesseln und Groggläsern hervorstieg – an solchen Abenden erzählte die Eule dem Schiffer auf ihre Weise von den Geheimnissen des Nordpols. Er wußte freilich hinterher nie ganz genau, ob er gewacht oder geträumt hatte. Aber alle diese märchenhaften Dinge setzten sich in seiner Seele fest – und erfüllten ihm schließlich Sinne und Gedanken ganz.

»Wer den Nordpol erreichen will, der muß alles in der Welt, was ihm sonst lieb ist, verlassen und vergessen können. Er darf auch nicht darauf hoffen, jemals zurückzukehren, denn dort oben ist das Reich der ewigen Vergessenheit!« So sprach die Eule, und dem Schiffer griff es kalt ans Herz.

»Weib und Kind kann und will ich nicht vergessen, denn ich liebe sie mehr als alles in der Welt«, sagte er leise und drückte den goldenen Ring Marias an die Lippen.

Von diesem Augenblick an wußte die Eule, daß sie niemals volle Gewalt über diesen Mann gewinnen würde, solange der geweihte Ring an seiner Hand war. Deshalb trachtete sie danach, ihm den Ring zu rauben. In einer Nacht, als er in tiefem Schlafe auf seinem Bette lag, flog sie leise und listig von ihrem Sitz hernieder, flog auf den Bettrand und pickte und faßte mit ihrem gebogenen Schnabel nach dem kleinen Reif. Der Schiffer regte sich und wollte erwachen, da schoß sie ein Strahlenbündel ihrer Augen nach ihm, das betäubte ihn, und er bemerkte nicht, wie der Vogel den Ring von seinem Finger nahm und über die eigene rechte Kralle zog, bis hinauf unter die dichten Federn des Flügels, da war er sicher und, für niemanden mehr sichtbar, verborgen.

Am anderen Morgen, als der Schiffer erwachte, da war der Ring verschwunden und mit ihm des Ringes Segen, und er merkte es nicht einmal; denn er hatte sein Weib und Kind, seine Heimat und alles, was dahinten lag, vergessen. – – – – –

»Land außer Sicht und weiter Kurs auf Nord!« sagte der Steuermann und drehte zwischen seinen Händen das wuchtige Ruder, das vom vielen Anfassen schon ganz blank und schwarz geworden war.

Inzwischen war es Herbst geworden und die lange, dunkle Polarnacht hereingebrochen. Draußen war eine furchtbare Kälte, und die Menge des Eises hemmte bald den Lauf des Schiffes, daß es festgemauert liegen blieb in den ungeheuren Eismassen. Ohne Bewegung, aber auch ohne Zagen; denn man war ja wohlgerüstet auf solche langen, kalten Monate und auf die Öde des Wartens in der Finsternis.

Die Kajüten waren trotz alledem warm und behaglich. Die Öllampen brannten, und die kleinen eisernen Öfen wurden geheizt, bis sie vor Hitze fast zersprangen. Die Mannschaft verkroch sich in diese warmen Löcher im Innern des Schiffes wie die Murmeltiere.

*

»Halte aus bis zur Wiederkehr der Sonne im Frühling, dann führe ich dich zum Nordpol!« flüsterte die Eule dem Schiffer ins Ohr, und sie vertrieb ihm weiter die Langeweile der Dunkelheit mit ihren Zaubergeschichten.

»Sieh durch die Luke auf das Eis hinaus!« sagte sie. »Siehst du am Horizont das Nordlicht strahlen? Siehst du seinen herrlichen, blauen Schein, der die Schneefelder erleuchtet, und die glänzenden, weißen und roten Bogen, aus denen bunte Lichtstrahlen hervorschießen? Ganze Feuergarben schleudert es zum Himmel empor! Das ist ein Feuerwerk, wie ihr Menschenkinder es nicht nachmachen könnt!

Hörst du draußen den heiseren Ruf des Polarwolfes, vor dem sich alle Tiere fürchten? Aber du fürchte dich nicht; denn er kann dir nichts anhaben, solange ich bei dir bin und dich beschütze. Alle Tiere kennen und ehren mich und lassen Kämpfe und Streiten ruhen, wenn ich mich unter ihnen zeige!«

*

Olaf Erichson lag in einer windstillen Nacht, in dicke Bärenfelle gewickelt, auf dem Verdeck und starrte hinauf in den blauschwarzen Himmel über sich mit den zahllosen Sternen. Sie flimmerten in seine Augen, und je länger er hinsah, desto größer wurde ihre Zahl. Ein altes Lied kam ihm in den Sinn:

»Weißt du, wieviel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt?«

Er hatte es früher singen hören, aber er wußte nicht mehr, wann – und wo – und von wem. Weil er alles vergessen hatte, was hinter ihm lag, so hatte er auch vergessen, daß es das Lied war, welches seine Frau sooft gesungen hatte, wenn sie an der Wiege ihres Kindes saß. Er versuchte die Sterne zu zählen, aber es war ein vergebliches Bemühen und verwirrte ihm die Gedanken. Dennoch konnte er nicht einschlafen, und das war auch nicht ratsam bei dieser Kälte, selbst wenn man bis an die Nase in einem Bärenfell steckte.

Die Eule flatterte aus der Kajüte hervor und setzte sich auf die dicke, grünliche Glasscheibe über der Windrose des Kompasses. In dem warmen Bretterverschlag auf dem Vorderdeck heulten die Schiffshunde, die bestimmt waren, den schweren Reiseschlitten über das Eis zu ziehen.

»Warte, bis der Frühling kommt, bis die hohe Eismauer drüben wieder niedriger wird, dann will ich mich vorne auf deinen Schlitten setzen und ihn steuern!« sagte die Eule. »Dann wird der Sturmwind kommen, der rast schneller als zwanzig Hunde, der treibt dich über das blanke, schwarze Eisfeld, über Spalten und Risse und selbst über den gähnenden Abgrund dahin. Er bläst die großen, weißen Segler, die Eisberge, vor sich her, so leicht wie Vogelfedern. Das ist die Flotte des Nordpols! Die werden dein Schiff umringen und zum Nordpol führen, Olaf Erichson!«

»Und werden uns alle zusammen versinken und ertrinken lassen«, dachte der Schiffer, und ein heimliches Grauen erfaßte ihn.

War dieser Vogel sein wirklicher Freund – oder war es ein Dämon, der ihn lockte und reizte? War es der Dämon seiner eigenen, ehrgeizigen Gedanken, der in diesem Tier Gestalt angenommen hatte? Würde diese Eule ihn und sein gutes Schiff und seine treue, auf ihn vertrauende Mannschaft ins Verderben treiben – während sie ihm Dinge vorspiegelte, die gar nicht waren, und Herrlichkeiten verhieß, die sich in Wirklichkeit niemals erfüllen konnten? – – –

Solche Gedanken zogen jetzt oft beunruhigend durch des Schiffers Seele, wenn er in einsamen Nächten wachte und grübelte, während seine Leute fest schliefen.

Aber die große Stille dieser Nächte in der eingefrorenen Welt rings um das Schiff herum ging eines Tages zu Ende. Zuerst hörte man nur ein dumpfes Dröhnen in weiter Ferne, wie das Rollen fernen Donners, der wieder verstummte und nach einer Weile von neuem ertönte.

Die Magnetnadel am Kompaß fing an zu zittern, denn sie spürte von allen zuerst das große Ereignis, das sich ankündigte, den nahen Aufbruch des Eises, das Kommen des Frühlings!

Dazu erhob der Sturm sein Getöse. Heulend fuhr er über das Schiff dahin, daß es in allen Fugen zitterte. Ganze Säcke voll flimmernder Schneeflocken warf er jedem ins Gesicht, der sich auf Deck hinauf wagte, und riß das gute, feste Takelwerk der Masten in hundert kleine Fetzen.

»Hu, wie er uns drückt und zu beugen versucht!« sagten die Mastbäume, die ja in Wirklichkeit starke Tannenstämme aus Schweden waren. »Wir beugen uns, wir neigen uns, wir neigen uns – aber wir brechen nicht!«

Des Sturmwinds laute Stimme ward noch übertönt durch das Krachen des aufbrechenden Eises. Wie sich die Schollen gegenseitig schoben und preßten, sich zu hohen Mauern auftürmten und dann wieder auseinanderbarsten, bis das hervordringende Seewasser sie überflutet!

Alles an Bord der »Maria« geriet in Aufregung.

Auch die Eule schlug mit den Flügeln und setzte sich auf die schwankende Rahe, um über das weite Schlachtfeld des Eises Ausschau zu halten.

»Hei, wie der Südwind weht, der Frühlingsbringer, der mich und alle mit sich reißen wird auf seinen starken Schwingen! Ich grüße den Südwind und lade ihn ein, mich zu begleiten auf meiner tausendundersten Reise zum Nordpol!«

Der Schiffer verstand nicht, was die Eule sagte, in dem schrecklichen Lärm; er achtete auch nicht mehr auf sie; denn eine große Sorge um sein Schiff und seine Mannschaft hatte ihn erfaßt. Immer mächtiger flutete die See über das tauende Eis, und auf einmal war die »Maria« wieder frei im tiefen Wasser, sie drehte sich im Kreise, und es kostete eine große Anstrengung, sie jetzt nicht aus der Gewalt zu verlieren und vor den treibenden Eisschollen zu bewahren. Im Gedränge der Arbeit achtete man nicht darauf, was von Westen, von der großen, freien Wasserseite her heraufkam. Nur die Eule sah es, sie flatterte von ihrem Mast herunter und setzte sich dem Schiffer auf die Schulter.

»Sieh dich um, Olaf Erichson, sie kommen, sie kommen, die weißen Segler, die dich abholen wollen zur lustigen Fahrt nach Norden!«

Der Schiffer blickte zur Seite und sah mit Entsetzen die vielen weißen Punkte, die am Horizont erschienen, die jede Sekunde größer wurden und, von der Strömung getrieben, mit Windeseile herankamen.

Das waren die gefürchteten Eisberge, die jedem Schiffe sicheres Verderben brachten.

»Wir müssen südwärts steuern und ihnen ausweichen, Kapitän!« rief der Steuermann. »Sonst sind wir verloren. Gib Befehl: Kurs nach Süden. Warum zögerst du?! Willst du uns alle zusammen in den Tod führen?!« – – –

Olaf Erichson stand wie versteinert; er schaute nach dem schimmernden Berg, der da, haushoch aus dem Wasser ragend, mit schrecklicher Geschwindigkeit geradewegs auf die »Maria« zu steuerte.

»Sie tun dir nichts, solange ich bei dir bin. Behalte Kurs nach Norden!« flüsterte die Eule in sein Ohr.

Wie sie sah, daß er unschlüssig war, da flog sie mit rauschendem Flügelschlag zum Steuerruder hin und setzte sich darauf. Sie hob die rechte Kralle, wie drohend und zur Abwehr gegen jeden bereit – da fiel etwas Blinkendes unter ihrem Flügel hervor und rollte auf das glatte Schiffsdeck, dem Kapitän gerade vor die Füße.

Es war sein goldener Ehering, der Ring, dem Maria ihm gegeben. Er bückte sich und nahm ihn und steckte den kleinen Reif wieder an den Finger der linken Hand – und dann richtete er sich hoch auf. »Kurs nach Süden, Steuermann!« rief er mit lauter Stimme, und blitzschnell drehte dieser das schwere Rad herum, daß die Eule ihren Halt verlor und vor dem rauhen Griff des Steuermanns zurückflatterte.

»Kurs nach Süden!« – – – Das Schiff bebte und wendete in dem schäumenden Wasser. In diesem Augenblick drängte die haushohe Masse des Eisberges haarscharf an dem Bug des ausweichenden Schiffes vorüber. – – – – –

»Zurück zur Heimat, zurück zu Maria! Euch alle will ich retten und heimwärts führen!« rief der Schiffer, aber seine Stimme wurde vom Krachen der aufeinanderstoßenden Eisberge übertönt.

Die weiße Eule hatte das südwärts gleitende Schiff verlassen. Sie saß nicht mehr auf dem Mast, sie saß auf dem schimmernden Eisberg und trieb mit ihm in die dunkle Ferne der nördlichen Gewässer.

Olaf Erichson schaute ihr nach, aber seine Gedanken waren nicht mehr bei ihr, seine Gedanken waren bei Weib und Kind, die er einen ganzen Winter lang hatte vergessen können. Nun ging's zurück zu ihnen mit voller Fahrt, und kein dämonischer Vogel würde ihn mehr verhindern, südlichen Kurs zu steuern. In diesem Augenblick erschien ein schmaler, blutroter Streif über dem Eis im Osten – es war das erste Zeichen der endlich wiederkehrenden Frühlingssonne.

*

Die Eule fuhr auf dem Eisberge so lange nach Norden, wie das offene Wasser reichte, dann breitete sie die Flügel aus und flog über die große Eiswüste, die von da sich endlos dehnt, dem ihr wohlbekannten Nordpol zu. Mit Menschenkindern und deren Treiben wollte sie von nun an nichts mehr zu tun haben. Sie kehrte in ihr kaltes Reich zurück, zu den Tieren, die dort wohnten und die sie verehrten und verstanden.

Hinter dem dichten Schleier, der das Reich des Nordpols noch immer undurchdringlich verhüllt, ist sie verschwunden. –


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