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Inge, die Möwe

Von

Helene Freifrau von Schrötter

Weit draußen in der Elbmündung liegt eine schmale Sandbank, die bei Ebbe hoch aus dem Wasser ragt.

Dort lagen an einem Nachmittag im Hochsommer ein großer, dunkelgrauer Seehund und mehrere junge Hunde im silberglänzenden Fell und sonnten sich.

Der Tag war schön, der Strand warm, kein Jäger in Sicht, also war die ganze Gesellschaft guter Laune.

»Erzähl uns doch was, Gevatter,« baten die jungen Seehunde, »du hast so viel von dem Leben und den Menschen gesehen. Du mußt doch wundervolle Geschichten wissen!«

»Wie alt bist du eigentlich?« fragte der jüngste Seehund, der immer ein bißchen fürwitzig und neugierig war.

Der alte Seehund mit den langen Barthaaren, die wie spitze Nadeln um seine Schnauze standen, ließ sich erst ein Weilchen bitten.

»Uralt bin ich, uralt und ewig muß ich noch die Flut durchkreuzen. ... Viel erlebt habe ich wohl, und erzählen könnte ich schon. Wißt ihr eigentlich, daß ich einmal in meinen Leben zu etwas nütze gewesen bin und beinahe erlöst worden wäre?«

»Ach, fang doch endlich an!« rief der fürwitzige junge Hund, und die andern rollten sich schwerfällig näher, um ja kein Wort zu verlieren.

Der alte Seehund lugte mit seinen traurigen, sprechenden Augen, die wie die Augen aller Seehunde den Blick von Menschen hatten, hinauf auf das glitzernde Meer, legte sich auf die Seite, daß die warmen Sonnenstrahlen seinen alten Rücken wärmten, und begann:

»Ihr habt doch gewiß schon einmal gehört von den zahlreichen Möwenscharen, die zur Winterzeit weit her von der See und der Marsch, von den Elbinseln und den Sümpfen herein gezogen kommen in die alte, vieltürmige Hansestadt Hamburg?

Dort fütterten sie mildtätige Herzen und offene Hände auf der schönen Promenade an der Alster am neuen Jungfernstieg.

Pfeilschnell fliegen die zutraulichen Tiere hin und her. Sie kreisen in ununterbrochenem Flug über den Häuptern der zuschauenden Menge und erhaschen in rasendem Dahinsausen gewandt den Leckerbissen, den ihnen die Vorübergehenden zuwerfen. Wie Silber leuchtet das weiße Gefieder gegen den blauen Himmel.

Von diesen schlanken, weißen Möwen, deren Flügelrauschen klingt, wie wenn der Frühlingswind sich aufmacht zum Tanz, will ich euch etwas erzählen.

Es war einmal ein mächtiger Deichgraf, der herrschte weit über das friesische Land, über Marsch und Strand bis dahin, wo die Wellen der Nordsee schäumend das grüne Land umschmeicheln.

Weit ragte sein Besitz, und seine Sensen surrten auf grünen Wiesen, und auf seinen Äckern wogte goldne Saat. Er war ein schwerreicher Mann. Aber sein größter Reichtum war seine Tochter Inge, eine gar schöne Jungfrau, schlank und hochgewachsen, wie echte Friesinnen sind. Ihr Haar gleißte und glänzte in der Sonne wie eitel Gold.

Der Deichgraf war ein ernster Mann, der wortkarg seinen Geschäften nachging und den nur selten ein Mensch lächeln sah, denn auf ihm lastete seit Jahren eine große Angst und Sorge:

Das Elbweib, die große, mächtige Wasserfee des Elbstroms – die ihr Jungen freilich nicht so kennt wie ich – zürnte ihm, und ihre Macht war so groß und reichte so weit, daß er beständig auf seiner Hut sein mußte.

Vor langen Jahren, als er noch ein schmucker, junger Bursch gewesen, da war ihm eines Abends im Frühling, als der Vollmond die Fluten des Flusses mit seinen Strahlen in flimmerndes Metall verwandelte, ein wunderschönes Weib begegnet. Glitzernde Perlenschnüre hielten das feuchte, blonde Haar, in dem blasse Wasserrosen nickten, und grüne Schleier wehten um die schlanken Glieder.

Das Weib hatte ihn gebeten, sie hinauszurudern in den silbernen Mondschein, dorthin, wo das flimmernde Wasser sich einte mit dem leuchtenden Himmel.

Ihn aber hatte ein Grauen erfaßt, als die kalte Hand des Weibes sich beschwörend auf die seine legte, und er war davongeeilt, und hatte den Spruch gegen die bösen Geister vor sich hingemurmelt, der am Roland auf dem Markt eingemeißelt stand:

›Alle guten Geister
Loben Gott den Meister ‹ ...

Scheu nur hatte er sich umgeblickt. Da war die ruhige Flut auf einmal in Aufruhr. Laut schlugen die weißköpfigen Wogen auf den gelben Strand, und eine große, mächtige Welle rauschte in weitem Bogen von der Stelle zurück, auf der das Wasserweib mit den Wasserrosen eben mit ihm gesprochen.

Und seit diesem Augenblick hatte der Deichgraf eine unüberwindliche Abneigung gegen das Wasser. Wo er konnte, ließ er Dämme aufrichten gegen die nagende Flut und ließ Land aufschütten und drängte das gierige Naß zurück in sein eigenes Reich. So gewann er dem Festland gar vielen urbaren Boden, der herrlich trug; denn die Wasser hatten ihn jahrhundertelang gedüngt.

Aber sein Haus baute er weitab von der Elbe: drinnen zwischen der jungen Saat, wo der Blick auf einem Meer von wogenden Ähren ruhte. Und seinem Weib und seiner Tochter verbot er aufs strengste, gen Westen zu gehen, wo der Boden sich zum Strand senkte. Denn er fürchtete der Elbnixe Zorn gegen seine Sippe. Die Elbnixe hatte laut getobt und gerast, als sie an jenem Abend von dem Erdensohn verschmäht worden war.

Die Bewohner der Elbufer, die wackeren Fischer von Övelgönne und Blankenese, die Schiffer von Schulau und die Deichbauern drüben in den alten Landen hatten ihren Zorn gefühlt. Laut auf hatte die Stimme der Elbe begehrt gegen den erlittenen Schimpf. Den Sturm hatte sie herbeigerufen, den finsteren Gesellen. Der gürtete sich rasch und sprang auf den weißen Kamm des Wellenrosses und jagte gegen die Ufer. Laut schallte sein gellendes Lachen über die tobenden Fluten, und die erschrockenen Strandbewohner schürten das Herdfeuer und drängten sich um das Licht der Flamme und suchten einer am anderen Rat und Stütze. – Die Elbe aber rauschte hinunter nach dem Meer, stürzte sich in die Arme des Meergottes, der sie schon lange in heißem Flehen umworben hatte, und unter dem donnernden Brausen der Brandung feierte das Elbweib die Vereinigung mit dem Meergott.

Noch heute wissen die Menschen zu erzählen von den Schrecken jener Nacht, wie das wilde Meer dahingebraust sei auf den Flügeln des Nordwindes und wie die wogende, brauende Wasserfläche alles Land weithin überschwemmt habe.

Jahrzehntelang rang der Deichgraf in stetem, stillem Kampfe mit dem Elbweib und dem Meergott und gewann ihnen allmählich immer mehr Land ab in emsiger Arbeit.

Inge, des Deichgrafen einziges Kind war heimlich versprochen mit einem jungen Schiffer, der mit seinem Ewer, der ›Angelica‹, die seltenen Zwiebelgewächse und die Reisfrucht des fernen Japan aus Holland nach Hamburg brachte.

Bei dem Hünengrab auf der Heide, als das Osterfeuer brannte, hatte sie ihn kennen gelernt, und wie der ›heilige Brand‹ aufflammte und leuchtete weit durch das Land, da war auch die Flamme der Liebe eingezogen in ihr Herz.

Sie gelobte, ihm zu folgen hinaus in die weite Welt, und er schenkte ihr einen goldenen Reif, den sie fortan am Arme trug.

Aber dem Deichgrafen hatten sie noch nichts gesagt von ihrem Verspruch, denn sie wußten, daß er gegen das Wasser war und einen seebefahrenen Mann nicht als Tochtermann haben wollte.

Seben Dierks aber – so hieß der junge Schiffer – wußte gar wundervoll zu erzählen von der schmeichelnden Flut, die seinen Ewer so gefällig an die friesische Küste brachte, und von den grünen Wogen der Elbe, deren jede einzelne ihr weißes Schaumkrönlein so stolz trug. Inge wurde nicht müde zuzuhören.

Eines Tages übermannte sie die Sehnsucht, diesen grünen, schweren Ewer zu sehen mit seinen rostbraunen Segeln, die wie mächtige Flügel über dem trägen Kahn in den Lüften flatterten. Heimlich stahl sie sich von ihres Vaters Hof. Hin durch die Fluren eilte sie immer dem Winde entgegen, der sie mit kühlem Salzhauch grüßte und ihr zurief: ›Komm, ich führe dich, ich führe dich!‹ – Und wie sie so atemlos die sandige Anhöhe erklommen, da lag sie vor ihr, die breite Wasserfläche der Elbmündung. Kecke Sonnenstrahlen tanzten auf der Flut, und das Wasser blitzte und blinkte so wunderbar, wie Inge noch nie etwas gesehen. Hunderte von leuchtenden Edelsteinen schienen über das Wasser gestreut zu sein. Gar nicht losreißen konnte sie sich von dem Anblick. Das war also das Wasser, von dem ihr Seben so begeistert gesprochen und das ihres Vaters Verbot ihr so gefahrdrohend geschildert! Der Vater mußte sich irren, vielleicht hatte er nie diese goldene Flut gesehen! Gleich heute abend wollte sie ihm davon erzählen. – –

Weiter aber kam Inge in ihren Plänen nicht. Ihr Ungehorsam gegen des Vaters Verbot wurde furchtbar an ihr gestraft. Jahrelang hatte der Deichgraf sie von dem Machtgebiet des Elbweibes entfernt gehalten. Und nun war sie in ihren Bannkreis gekommen und war ihr verfallen.«

Der Seehund hatte sich warm geredet und tauchte seinen spitzen, kleinen Kopf erst einmal in die Flut und schüttelte ihn, daß das Wasser weithin spritzte, ehe er fortfuhr:

»Dort, wo noch eben die schöne Friesin gestanden, flatterte in unsicherem, ängstlichem Flug eine kleine, weiße Möwe, das Köpfchen zitternd in den silbernen Federn versteckend.

Weit draußen im Meer, wo die grünen Wasser des Elbufers sich vermischen mit den grauen Wellen des Meeres, ragt ein zerklüftetes Eiland aus den Fluten, das ›hyllige Land‹, von dem der Volksmund singt:

Rot ist die Kant'
Grün ist das Land,
Weiß ist der Sand –
Das sind die Farben
Von't hyllige Land.

Das habt ihr jungen Seehunde doch schon einmal aus der Ferne liegen sehen, wenn ihr zum Heringsfang ausgezogen seid?

Also denkt euch, das war in alten Zeiten das Schloß des Elbweibes, wo es mit dem Meergott hauste. Die roten Klippen, die ihr heute noch seht, das waren Riesen, die als Wächter bestellt waren. Und heute noch könnt ihr ihre Gesichtszüge im Stein erkennen.

Diese Wächter verkündigten dem Elbweib das Nahen der Schiffe, und je nachdem die Schiffer der Elbe genehm oder unlieb waren, ließ sie dieselben mit ruhigem Wasser in die Elbmündung ziehen, oder sie machte sich auf und eilte mit dem Sturm herbei und türmte ihnen schwere Wogen vor den tiefgehenden Kiel.

Dort, auf dem ›hylligen Lande‹ war fortan Inges, der Möwe, Heimat. Von hier aus sandte sie das Elbweib als flinke Botin hin zu den Nixen des Alsterflusses, der durch die alte Hansestadt Hamburg zieht, zu den Wasserjungfern, die in der Elbe und in der Lühne hausten, und ihnen allen mußte sie Bescheid und Botschaft von der Herrin bringen, wenn es galt, Schiffe zu geleiten oder zu verderben oder sie gar vor mir zu warnen, wenn ich von meiner Hallig manchmal eine kleine Vergnügungsfahrt in die Elbe antrat.

Ihr wißt ja, die lustigen, kleinen Nixlein wollen von uns plumpen Gesellen nicht viel wissen!

Seben Dierks aber war traurig, als das Verschwinden seiner Inge im Lande bekannt wurde, und der Deichgraf ließ Tag für Tag ausschellen durch den Dorfschullehrer, daß er einen Goldgulden jedem gäbe, neben freien Essen für ein ganzes Jahr, der ihm Nachricht von dem Verbleib seines Lieblings geben könne.

Aber so viele sich auch einbildeten, etwas zu wissen, und ganze Geschichten erdachten, immer erwies es sich, daß niemand etwas Ernstliches wußte. Der Deichgraf wurde immer verschlossener und hatte an nichts mehr Freude, und als eines Tages eine schneeweiße, kleine Möwe um das strohbedeckte Giebeldach flatterte und sich auf das Fenstersims niederließ, ängstlich mit den Flügeln schlagend und klagende Töne ausstoßend – da scheuchte er das zierliche Tierchen mit rauher Hand weg, nicht ahnend, daß er damit sein Liebstes von der Schwelle vertrieb.

Seben Dierks aber fuhr weiter auf dem Wasser mit seinem breitbauchigen Ewer – der ›Angelica‹ – dem die Wogen nicht so leicht Schaden antun konnten, denn er war arm und mußte sich sein Brot selbst verdienen. Und immer, wenn er von Holland an der Küste entlang nach der Elbmündung steuerte, und das ›hyllige Land‹ in Sicht kam, dann kam pfeilschnell durch die Luft eine schneeweiße Möwe und setzte sich auf den Klüverbaum und sah mit aufmerksamen Augen zu, wie er die Segel zum Winde stellte. Und die ganze Reise elbaufwärts blieb die kleine Gefährtin ihm treu; nur dann und wann flatterte sie auf kurze Zeit davon, um am Ufer den Nixen Botschaft zu bringen, daß sie die ›Angelica‹, den grünen Ewer, verschonen möchten mit ihrem neckischen Spiel.

Seben Dierks aber hatte die gefiederte Begleiterin bald lieb gewonnen. Er gab ihr Fische, die der Bootsjunge mit dem Netz fing, und freute sich, wenn die weiße Möwe sie verspeiste und mit ihrem kleinen Köpfchen so zierlich zu ihm hin grüßte, als wollte sie sagen:

›Schönen Dank, schönen Dank.‹ Fuhr der Ewer, nachdem er seine Ladung gelöscht, wieder seewärts, flugs kam wie ein Blitz die silberne Möwe durch die Lüfte, setzte sich auf den Klüverbaum und flog erst langsam, zögernd, ängstlich mit den Flügeln schlagend davon, wenn die rote Kant' in Sicht kam!

Aber eines schönen Tages kam Inge zu spät heim nach dem Seeschloß. Sie hatte ihren Seben elbaufwärts begleitet. Das Elbweib zürnte gar sehr und gab der armen Möwe gar böse Worte. Von der Krähe, dem Unglücksvogel, der immer auf andere Vögel hackt und ihnen nichts gönnt, hatte sie gehört, daß Inge ihren Verlobten auf seiner Fahrt begleitet hatte. Und wenn die Elbe zürnt, dann rast sie auch, das wissen wir Seehunde ja auch. Wild auf schäumt sie im Zorn, daß die Schiffe tanzen wie Nußschalen und die Leute am Ufer ihr Hab und Gut zu bergen beginnen. Hochwasser! Horch, wie das donnert und stürmt! Im Eillauf stürzen die Wellen mit ihren Schaumköpfen heran, eine will flinker sein als die andere, sie überstürzen sich, daß der weiße Gischt hoch aufspritzt, wie ein Springbrunnen! Wie gewaltige Rosse rauschen die Wogen heran – ihre weißen Mähnen zerflattern im Winde – hoch auf den gelbweißen Sand leckt die Wasserflut. Ja, machtvoll ist das Wasser! Was ihm in den Weg kommt, reißt es nieder!

Inge hatte kaum die Absicht des Elbweibes, ihren Geliebten zu vernichten, gemerkt, als sie trotz Dunkelheit und Sturm dahinflog, um ihn zu warnen. Auf der Höhe von Neumühlen erkannte die arme Möwe endlich die Lichter des auf- und abschwankenden Ewers. Schwer rollte er von einer Seite zur anderen, und die wütenden Fluten ergossen sich in Sturzseen über die Reling.

Inge flog auf ihren alten Platz am Klüverbaum. Seben Dierks stand in hohen Wasserstiefeln und gelben Ölzeug breitspurig auf dem Verdeck. Das brave Schiff wehrte sich, so gut es konnte, gegen die Fluten.

Als er die treue Möwe erkannte, flog der Sonnenschein eines Lächelns über sein bekümmertes Gesicht. ›Na, bist all wedder da, min lütt Vagel! Na, heut ist es ungemütlich, min söte, kleine Deern, was willst du heute hier? Flieg lieber schnell ans Land!‹

Aber die Möwe flatterte ängstlich hin und her und zeigte ihre Unruhe so deutlich, daß Seben aufmerksam wurde. Sie ruhte nicht wie sonst auf ihrem Lieblingsplatz, sondern flog landeinwärts und wieder zurück zum Kahn, setzte sich auf des Schiffers Schulter und schlug das glitzernde Gefieder ängstlich zusammen. Kopfschüttelnd schaute Seben dem Treiben des kleinen Tierchens zu.

›Willst mich wohl warnen, du Sturmvogel?‹ fragte er. Die Möwe stieß den gellenden Schrei aus, der den Möwen eigen, und nahm ihren Flug hinüber nach Övelgönne, wo in den Fischerhäuschen die Lichter winkten. Eine aufkommende Bö stieß schwer in das Großsegel, und das Brausen und Toben des Sturmes nahm überhand.

Mitten in der Dunkelheit sah Seben die weißen Flügel flattern.

Er riß das Ruder herum und ließ das Schiff platt vor dem Winde auf das Ufer laufen.

Kaum hatte er dies gefahrvolle Manöver ausgeführt, so setzte sich die weiße Möwe wieder auf ihren Platz auf seiner Schulter.

›Nun bist du zufrieden, daß ich dir folge?‹ Die Möwe nickte lebhaft mit dem zierlichen Köpfchen, flog dann wieder auf, mitten im Sturmgebraus die Richtung auf das Ufer zeigend.

Von der Flut getragen, schob sich der breite Ewer auf den Sand, Seben sprang hinaus und vertäute das Boot.

Die Möwe blieb jetzt ganz ruhig auf seiner Schulter sitzen und folgte, sich an ihn schmiegend, allen seinen Bewegungen. ›Bist mir ja zur Retterin geworden, du schlanker Seevogel‹, sagte Dierks und streichelte ihr Gefieder. Und der Vogel sah ihn so verständnisvoll an, daß Dierks, den Kopf schüttelnd, vor sich hinbrummte: ›Nun sag einer, daß Vögel nicht vernünftig wie Menschen sind. Meine Silbermöwe hat mehr Verstand als manches zweibeinige Getier, das unter uns einhergeht.‹

Es war die höchste Zeit gewesen, daß Dierks sich ans Ufer rettete; die Flut raste hinter ihm her, daß ihm Hören und Sehen verging und sein Ewer wankte, und die Wellen versuchten immer wieder, ihn mitzureißen, aber die schwere Ankerkette hielt den Elementen stand.

In dem kleinen Fischerdorf Övelgönne, dessen Häuschen wie Vogelnester an dem steilen Elbufer angeklebt sind, fand Seben mit seiner seltsamen Begleiterin freundliche Aufnahme und blieb auf das Zureden der Schiffer in dem Fischerdorf. Da er des Elbweibs Launen jetzt fürchtete, verkaufte er seinen Ewer an einen Lotsen und tauschte dafür ein kleines Häuschen ein, das in halber Höhe am hohen Ufer lag und zu dem eine ganze Kette von steilen Stufen emporführten. Aus den Fenstern konnte er sein geliebtes Wasser sehen. Rote Schindeln deckten das Dach, und hellgrün blinkten die Fensterläden. Und in seinen Fenstern standen gar mancherlei Raritäten, die er aus dem fernen Holland mitgebracht hatte: bunte Kacheln und Muscheln und selbstgeschnitzte Schiffchen, so kunstvoll und fein, daß alle Vorübergehenden stehenblieben und seine Fenster betrachteten. In diesem Häuschen hauste nun Seben mit seiner lieben Möwe. Sie flog frei umher, setzte sich zierlich auf den Tisch, wenn er speiste, und schaute ihm aus klugen Augen zu, wenn er im Hause herumhantierte. Ging er frühmorgens, ehe der Tag dämmerte, nach Neumühlen in Tagelohn, zu dem Bootsbauer Krüger, so begleitete ihn die treue Möwe und flog dann eilig zu dem Berghäuschen zurück und hütete das Haus. So lebte Seben in steter Arbeit. Seine Gedanken wanderten aber täglich zu Inge, und es verging kein Tag, wo er nicht hoffte, Kunde von ihr zu bekommen.

Kam ein Händler durch das Fischerdorf – die fahrenden Leute waren damals noch die Überbringer aller Nachrichten – so ließ Seben alles im Stich und eilte, Neues zu hören, aber er vernahm auf all sein Fragen nur, daß der Deichgraf ein finsterer Mann geworden sei und das niemand im Marschlande je wieder Schön-Inge gesehen habe.

Die Möwe war Sebens einzige Freude, und er gewöhnte sich so daran, mit dem lieben Tierchen zu sprechen, als sei es ein Mensch, daß ihn seine Nachbarn im Spott den ›Vogelnarr‹ nannten.

Eines Tages, als sie ihn wieder neckten und hänselten, rief er aus: ›Und meine Möwe ist doch zehnmal klüger als ihr. Wenn sie nur sprechen könnte, da solltet ihr mal hören, wie gescheit sie ist.‹

›Wenn's weiter nichts ist,‹ meinte Jakob Extra, Dierks' nächster Nachbar, ›dem kann ja abgeholfen werden!‹

›Was meinst du damit?‹

›Trag doch deinen Schatz einmal nach Teufelsbrück zur Strandmutter –‹

›Wohin? Nach Teufelsbrück?‹

›Nun ja, du kennst doch den Weg, hier immer weiter den Strand elbabwärts, bis du nach dem Quellental kommst, von wo sich ein kleiner Bach in die Elbe ergießt. Die Gegend heißt Teufelsbrück, weil früher da des Teufels Baumgarten gestanden, und dort in dem Borkenhaus unter der Rüster wohnt die Strandmutter.‹

›Wer ist denn eigentlich die Strandmutter?‹

›Ist es möglich, du kennst die Strandmutter nicht? Die Strandmutter ist eine gar weise Frau. Die sagt Wind und Wetter voraus, und wenn die Elbe heult und schäumt, dann steht sie am Ufer, und ihr schneeweißes Haar flattert im Sturm, und mit ihrem Krückstock macht sie den Wellen ein Zeichen, daß sie zurückfließen und ihren Fuß nicht netzen.‹

›Und was soll die Strandmutter mit meiner Möwe machen?‹

Jakob machte ein pfiffiges Gesicht, schaute sich vorsichtig um und sagte leise: ›Strandmutter kann hexen, sie macht die Kinder gesund und heilt die Kranken und Siechen, und es heißt sogar, daß sie den Vögeln das Zungenband löst, daß sie sprechen können wie wir Menschen.‹

Seben war Feuer und Flamme für den Rat und machte sich noch desselben Abends auf! Wie herrlich wäre es, wenn seine treue Gefährtin reden und er mit ihr plaudern könnte von seiner Inge! Wenn er jetzt ihr erzählte, wie schön sie gewesen und wie lieb sie ihn gehabt hatte, und dann sagte: ›Ja, eine Inge, die vergißt man im ganzen Leben nicht‹, dann lachte die Möwe nur gellend: ›Hahahaha!‹ und Dierks schalt: ›Spottlustiges Tier‹, bis ihm einfiel, daß ja die Möwen keinen anderen Laut von sich geben können als das häßliche Lachen, das so gar nicht paßt zu ihrem hübschen, zierlichen Aussehen.

Als er zur Strandmutter kam, war sie gerade beschäftigt, ihre Abendsuppe aus Rapunzeln und Hopfenkeimchen, die sie im Wald gesammelt, zu kochen. Ein gar lieblicher Geruch von Frühlingskräutern zog durch den Raum.

›Schön guten Abend‹, sagte Dierks höflich – denn wenn man von jemand etwas erbitten kommt, ist man immer höflich – und machte einen Kratzfuß. ›Würde die geehrte Strandmutter meinem Vogel hier wohl das Zungenband lösen wollen? Viel kann ich ihr dafür nicht geben, aber dieser Sack mit Reis, den ich von Holland mitgebracht, soll ihrer sein.‹

Die Strandmutter sah durch ihre große Hornbrille, die aus dem Zahn eines Walrosses geschnitzt war, Seben aufmerksam an und ließ sich des langen und breiten erzählen, wie es ihm ergangen war, und betrachtete währenddessen das Tierchen, das sich wieder auf Sebens Schulter niedergelassen hatte. ›Das Eure Möwe keine gewöhnliche Möwe ist, sehe ich auf den ersten Blick‹, sagte sie; ›seht doch das gelbe Ringlein hier um den Fuß Eurer Gefährtin. Das hat keine andere Möwe. Ist Euch das noch nicht aufgefallen? Eure Möwe ist sicherlich ein verzauberter Mensch, der an der Stelle einen Goldring trug, und Gold kann man wohl verzaubern, aber eine Spur hinterläßt es immer.‹

›Meine Möwe eine verzauberte Prinzeß, meint Ihr?‹ Seben sprang vor Erstaunen auf. Die Möwe schlug wie zustimmend mit den Flügeln hin und her. ›Da löst ihr nur flink das Zungenband, damit sie uns erzählen kann, wer sie ist.‹

Die Strandmutter humpelte nach einem kleinen Wandschrank, der neben der Feuerstelle hing. Da kramte sie zwischen allerlei Dosen und Schächtelchen umher, und Seben sah es manchmal blitzen und funkeln, als ob da Messer und Klingen verwahrt wären. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Seben mußte die Möwe zwischen die Knie nehmen, die geduldig still hielt und mit ihren Augen die beiden abwechselnd in heißem Flehen ansah, als ob sie begriffe, was ihr bevorstände.

Die Strandmutter hielt mit einer Hand den Schnabel auf, zog die kleine Zunge heraus, und blitzschnell machte sie mit einem winzigen Messerchen einen Schnitt durch das kleine Hautbändchen, das die Zunge des Vogels festhielt. Ein einziger roter Blutstropfen viel auf das weiße Gefieder und leuchtete dort wie ein Rubin.

Die Möwe aber machte sich mit einem Flügelschlag frei aus der Gewalt des erstaunten Seben, flatterte voll Lust in dem engen Raum hin und her und rief dabei. ›Dank Euch, gute Strandmutter, und Dank dir, mein treuer Seben, ihr habt mir die Sprache wiedergegeben; ich bin Inge, die das Elbweib verzaubert hat an dem Tage, als ich ausging gegen des Vaters Verbot, um den Elbstrom und dein Schiff zu sehen.‹

Nun hättet ihr die Freude von Seben sehen sollen!

Fast hätte er das zierliche Tierchen zerdrückt vor Entzücken: er war nahe daran, der Strandmutter vor lauter Seligkeit und Dankbarkeit um den Hals zu fallen. Doch erinnerte er sich glücklicherweise noch im letzten Augenblick an ihre Haut, die wie Leder aussah, und an die Mütze aus Otternfell, die nach Tran duftete.

Glückselig machte er sich mit seiner Möwe auf den Heimweg. Aber er war noch keine zehn Schritt gegangen, da fiel ihm ein: ›Du hast ja vor lauter Freude vergessen, zu fragen, wie du Inge aus dem Möwengefieder erlösen kannst.‹

Und er fragte Inge, die Möwe, aber die konnte sich auf nichts besinnen. Sie wußte nur, daß eine mächtige Welle sie bei ihrer Verzauberung überflutet und betäubt hatte, und das sie sich beim Erwachen im Wasser im Bilde als Möwe erblickt hatte.

Sofort kehrten sie nun um nach der Strandmutter Borkenhaus. Nachdem ihr Seben seinen neuen Kummer geklagt hatte, sagte die Alte kopfschüttelnd: ›So sind nun die Menschen! Immer wollen sie mehr haben! Statt daß du nun hübsch dankbar bist, daß deine Möwe sprechen kann, kommst du schon wieder mit einem trübseligen Gesicht! ›Na, na‹, beschwichtigte sie, als Seben auffahren wollte, ›man immer tranig Blut, das bekommt am besten. Ich kann dir leider nicht helfen, mein guter Junge, denn die Künste der Strandmutter sind gar gering. Aber soviel höre: gerade als du weggingst, hat mir die Krähe, die bei mir ihr Nest hat, ins Ohr geraunt, daß du von einem Seehund das Mittel erfahren wirst, durch das du deine Inge erlösen kannst. Dieser Seehund war der Diener des Elbweibes und wurde von ihm zu allerhand Diensten herbeigezogen. Nun ist er gefangen worden, und sein Herr zieht auf den Jahrmärkten im Land herum und läßt ihn für Geld sehen. Von diesem Seehund kannst du Näheres hören. Und das nimm zum Zeichen, der Seehund, der die Hilfe bringen kann, ist auch einmal verzaubert worden und trägt auch einen feinen, goldgelben Strich am Vorderfuß.‹

Seben dankte der Strandmutter von Herzen und machte sich auf den Weg. Er legte die grünen Fensterläden vor die Fenster seines Häuschens, riegelte die Tür zu, nahm die Möwe unter seinen Arm und wanderte, seine ganze Barschaft von 5 Hamburger Schilling im Brustbeutel, elbaufwärts nach Hamburg. Dort waren auf dem Berg gar viele Schaubuden mit fremden Getier, Schlangen aus dem heißen Indien und bunt schillernde Papageien. Dicke, schwerfällige Schildkröten watschelten im Käfig, wo das Lama, Robinsons braves Haustier, zu sehen war. An all diesen Buden schlich Seben vorbei und spähte nach dem Seehund mit dem goldenen Streifen um die rechte Vorderflosse. Und wenn er mutlos wurde, dann flüsterte die Möwe ihm zu: ›Nur Geduld, nur Mut!‹ Ganz leise sagte sie das; denn sie hatten verabredet, daß niemand merken sollte, daß die Möwe eine menschliche Sprache führte. Aber so leise sie auch geflüstert hatte, der Herr neben Seben hatte es doch gehört. Es war Hagenbeck, der berühmte Tierbändiger, der mit seinen gelehrigen Schülern viel Ehre einlegte beim hohen Rat wie in der ganzen Umgegend. Dem hätte so eine sprechende Möwe gerade gepaßt, und er machte Seben den Vorschlag, ihm das Tier zu verkaufen.

Aber Seben schüttelte nur heftig den Kopf und drängte sich hastig durch das Gewühl und rannte, was er konnte. Er hörte noch, wie die Menge hinter ihm schrie: ›Haltet den Gänsedieb!« denn seine hübsche Möwe hielten die dummen Leute für eine einfache Hausgans. So geht es nämlich manchmal in der Welt: die Leute halten das, was einem das Schönste und Liebste ist, oft für was ganz gewöhnliches. Und da er gute Beine hatte und eine gesunde Lunge, so rannte er wie toll, sprang mit einem Satz durchs Millerntor, ehe der dicke Torwart seinen Krug mit Einbecker Bier niedersetzen konnte, und rannte immer weiter ins Land hinein, das sich elbaufwärts hinzieht.

Da kam er denn in einen wahren Blumengarten. Ganze Wiesen voll süßduftender Maiblumen und Felder voll Levkoien und Rosen taten sich vor ihm auf. Auf den Äckern standen Erdbeerbüsche, mit dicken, saftigen, roten Früchten behangen, so groß wie ein Ei. Und wohin das Auge sah, nichts als Blumen und Beeren und Beeren und Blumen. ›Bin ich denn im Schlaraffenland?‹ fragte er seine Möwe.

Aber die antwortete: ›Aber das sind doch die gesegneten Vierlande, kennst du die nicht? Da ist der Boden gar fruchtbar, und seit Jahrhunderten ist dies der Garten Hamburgs, der die ganze Stadt mit Blumen und Obst versieht. Hast du noch niemals die schmucken Vierländerinnen gesehen mit ihren gelben Hüten und den trangestärkten, schwarzen Schleifen daran, die weit abstehen, wie die Flügel einer Windmühle?‹

Und als gerade eine freundliche Frau kam in der beschriebenen Tracht, bat Seben, ob er sich ein paar leuchtende rote Beeren pflücken dürfe, und die Frau erlaubte ihm, sich satt zu essen.

Mitten zwischen den Blumenfeldern stand das Dorf mit seinen strohbedeckten Häusern. Auf dem Markt drängten sich Frauen und Kinder um eine Schaubude, und Seben hätte beinahe laut aufgeschrien vor Freude; denn da plätscherte in der Bütte mit Wasser ein Seehund, und der Seehund hatte, das war das beste, einen goldgelben Streifen an der Vorderflosse.

Aber nun galt es vorsichtig zu sein. Still setzte er sich in den Schatten des Brunnens und schloß die Augen. Er wollte sich schlafend stellen, bis die Menschen sich zerstreut hätten. Und mäuschenstill saß er da, und die Möwe regte sich auch nicht; denn sie wußten ja beide, daß sie kein Aufhebens machen durften.

Und nicht lange, da stieg feiner Rauch aus dem Schornstein in den blauen Himmel und die alte Kirchenuhr schlug mit ihrer blechernen Stimme, die schon ganz heiser war vom Alter, zwölf Schläge. Da liefen die Kinder eiligst nach Hause; denn sie wußten, es gibt Strafe, wenn man nicht pünktlich zum Essen nach Hause kommt, und die saumseligen Frauen rannten so schnell, wie sie konnten, sich um das Essen zu kümmern; denn darin verstehen die Eheherren keinen Spaß.

Leise schlich Seben an die Bude. Der Besitzer des Seehunds machte auch gerade seine Mittagspause und war hinüber zum sprudelnden Brunnen gegangen, um sich zu laben. ›Ergebenster Diener, hochverehrter Herr Seehund‹, begann Seben; denn er bekam allmählich schrecklichen Respekt vor allen Tieren, und wer weiß, dieser Seehund konnte wohl gar ein verzauberter Königssohn sein. Auf keinen Fall wollte er ihn erzürnen.

›Die hochgeehrte Frau Strandmutter in Teufelsbrück hat mich an dich gewiesen, und wir suchen dich mit großer Sehnsucht. Du allein kannst mir meine liebe Möwe, die Tochter des Deichgrafen meine verlobte Braut, erlösen helfen. Ich bitte dich von Herzen, hilf uns, guter Seehund!‹

Der Seehund – natürlich habt ihr längst gemerkt, ihr klugen, jungen Hunde, daß ich das war – also ich schaute mir den jungen Schiffer prüfend an, und als er mir gut gefiel in seiner Bescheidenheit, sagte ich: ›Freilich bin ich der, den ihr sucht! Und ich kann euch helfen, aber erst soll eure Möwe herfliegen und mir den goldgelben Streifen zeigen, wo der Ring saß, den sie als Menschenfräulein getragen, dann will ich euch sagen, was ich weiß.‹

Die Möwe kam gehorsam herbeigeflogen, und ich ließ mir ihr rechtes Füßchen zeigen. Wirklich, da war der feine, goldgelbe Streifen an der Stelle, an der sie als Menschenfräulein den goldenen Armreif ihres Verlobten getragen hatte an dem Tage, als sie verwandelt wurde. Ich erinnerte mich der Sache ganz gut, denn ich selbst hatte damals auf meinem Rücken das Elbweib herbeitragen müssen, und so konnte ich denn dem armen Seben und seiner Inge helfen.

›Halt, Kinder, einen Augenblick Geduld‹, sagte ich, als mich beide in ungestümer Zärtlichkeit bedrängten. ›Ich habe soviel in meinem langen Leben gehört, ich muß mich erst besinnen‹ – wie tat das gut; wie sie mich beide so freundlich streichelten und die Möwe mir mit ihren Flügeln Kühlung zuwehte! – Also hört: das Elbweib sprach: ›Nicht eher sollst du wieder menschliche Gestalt erlangen, als bis dich eine treue Seele um Mitternacht auf die Schwelle deines Elternhauses niederleget.‹ Ich höre noch das höhnende Lachen des Elbweibes; denn es glaubte natürlich, daß niemand seinen Zauberspruch vernommen hätte und Inge für ewige Zeiten Möwe bleiben müsse. Die Dankbarkeit der beiden kannte keine Grenzen. Der gute Seben wollte mich durchaus mitnehmen; denn er meinte, mich vielleicht auch erlösen zu können. Er holte mich vorsichtig – ich war damals noch lange nicht so schwer und groß wie jetzt – aus meinem Wasserbad heraus; ihr könnt euch denken, daß ich froh war, aus der Gefangenschaft zu entrinnen.

›Trink dich noch einmal ordentlich satt, guter Seehund,‹ sagte Seben, ›denn nun geht's über Land, und es kann lange dauern, ehe du wieder in dein Element kommst.‹ Und dann hob er mich hoch, wickelte mich in seine Jacke, nahm das wunderbare Bündel über seine Schulter und stahl sich vorsichtig im Schatten der Häuser davon.

Vorher aber hatte er in die Bütte an meiner Stelle seine ganze Barschaft von 5 Hamburger Schilling gelegt; denn zum Dieb wollte er nicht werden, und lieber wollte er unterwegs hungern, als daß er den Händler um sein Gut betrügen wollte.«

Ein schrilles Pfeifen unterbrach hier die Erzählung des alten Seehundes. Es war die Dampfpfeife des weißen Schiffes, das die Badegäste zu den friesischen Inseln führt. Im Nu waren die Seehunde in den Fluten verschwunden, und erst als die Wellen sich wieder beruhigt hatten und das Dampfschiff weit hinten am Horizont nur noch wie ein weißes Pünktchen aussah, krochen sie, unwillig über die Störung, wieder auf den warmen Sand.

»Diese dummen Neuerungen,« brummte der alte Seehund, während er sein Fell schüttelte, »warum lassen uns die Menschen nicht unsere Ruh'? Da muß der olle Kaptain richtig die Dampfpfeife ertönen lassen, nur damit wir uns aufmachen und die Menschen auf dem Schiff renommieren können, sie hätten leibhaftige Seehunde ins Wasser gehen sehen, zu dumm«, und er brummte noch eine ganze Weile vor sich hin.

»Aber die Geschichte, Gevatter, die Geschichte!« rief der junge Seehund.

»Ja so, wo war ich denn gleich stehen geblieben? Bei unserer Wanderschaft zu dreien! Also, die Möwe flog immer vor uns her und zeigte uns den Weg und erzählte mir dabei, was ich von ihrer Geschichte noch nicht wußte.

Seben vermied die großen Straßen und ging allen Leuten aus dem Weg; denn wenn man einen Menschen mit einem sprechenden Seehund auf den Schultern und einer

sprechenden Möwe im Gefolge begegnet, dann hält man ihn entschieden für einen Zauberer und Hexenmeister, und dafür wollte Seben doch nicht gelten.

Am Tage lagerten wir hinter den dichten Hecken, die hierzulande die Äcker einfrieden, und ruhten uns aus. Wenn der Mond aufging, dann machten wir uns auf den Weg und wanderten fürbaß über die weite Heide und hin über das Moor, wo ich mich wieder wohler fühlte, denn ich witterte das Wasser und konnte meinen Durst stillen in den Wasserlachen zwischen den Erdschollen. Seben nährte sich von den Moosbeeren, die er auf der kahlen Heide fand, und von Eiern, die die Möwe in einsamen Nestern aufspürte und zu denen sie ihn hinführte.

Aber gar beschwerlich war die Reise, besonders für mich, und ich begann schon ordentlich nach Wasser zu schnappen; denn es taugt nichts, wenn man aus seiner gewohnten Lebensweise gerissen wird. Da sah Seben ein, daß es mit mir nicht so weiterging, und er entschloß sich, die letzte Strecke der Reise auf dem Wasserwege zu machen. Wir beratschlagten, daß wir uns mit unserem Kahn dicht am Ufer halten wollten, damit uns die Wasser nichts antun könnten.

Seben erhielt von seinem früheren Nachbar Jakob Extra ein gutes Ruderboot geliehen – zwar hätte der lieber gesehen, wenn wir einige Tage bei ihm Rast gemacht hätten. Er war schrecklich neugierig, von mir etwas näheres zu hören, aber Seben drängte vorwärts, denn er konnte die Zeit nicht erwarten, wo Inge wieder als seine liebe Braut neben ihm stände. Seben barg die Möwe unter seiner Jacke, und ich kam im Boot unter der Bank zu liegen. Wir waren auch mit der Ebbe rasch elbabwärts gekommen, ohne daß uns etwas Besonderes passiert wäre. Der Abend dämmerte stark, als wir von weitem den hohen Kirchturm auf einsamer Werft herübergrüßen sahen, der zu des Deichgrafen Reich gehörte. Da plötzlich hörten wir ein Flügelrauschen über uns. Ich blickte auf. Die Krähe, der Unglücksvogel, hatte uns gewittert. Und als sie hastigen Flugs hinwegschoß, wußten wir sogleich, daß sie das Elbweib benachrichtigen würde und daß Gefahr im Anzuge sei. Mit ein paar kräftigen Ruderschlägen trieb Seben das Boot auf den flachen Strand und sprang heraus, die Möwe zu freiem Flug ins heimatliche Land loslassend. Nun wollte er auch mir heraushelfen, der brave Gesell, und richtig hatte er mich unbeholfenes Geschöpf schon herausgehoben und auf den Strand gesetzt. Da kam plötzlich eine große, mächtige Welle und überschwemmte uns. Ehe Seben daran denken konnte, mich festzuhalten, hatte das zurückkehrende Wasser mich weit hinweggerissen in des Elbweibs Bereich. So kam's, daß ich weiter leben mußte in meiner bisherigen Gestalt und wohl auch in Ewigkeit ein unbeholfener Seehund bleiben muß; denn treue Menschen, die sich um eines Seehunds willen so plagen, sind heutzutage rar.

Was aus Seben geworden ist, wollt ihr wissen? Ja, das weiß ich zufällig ganz genau von einer jungen Nixe, die den beiden gefolgt ist, bis weit hinauf in den Wassergraben, der die Marschlande durchzieht.

Inge, die Möwe, flatterte ihrem Seben voraus, und wenn er nicht mehr weiter konnte – denn er war müde vom Weg und dazu traurig über mein Schicksal –, dann sah er hinauf nach der Möwe, deren blinkendes Gefieder wie ein silberner Stern am nächtlichen Himmel leuchtete, und es überkam ihn ein neuer Mut und neue Ausdauer.

Gerade als er in die Dorfgasse einbog, begann die alte Kirchenglocke die Mitternachtsstunde zu verkünden. Dumpf hallten die Klänge durch die Nacht, und die Möwe kam nur zitternd und zögernd herbeigeflogen. Seben aber nahm sie fest in den Arm, lief, so schnell er laufen konnte, sprang über die blühende Hecke um des Deichgrafen Haus, und gerade als die Glocke zum zwölften Male zu tönen anhub, legte er seine liebe Möwe auf die Schwelle ihres Vaterhauses nieder.

Er selbst aber sank in die Knie und betete so recht aus Herzens Grund.

Und mit dem letzten, tiefen Glockenklang war der Zauber des Elbweibs gebrochen. Auf der Schwelle ihres Vaterhauses stand Inge in ihrer friesischen Tracht und mit dem Armreif, genau so, wie Seben sie in der Erinnerung hatte, und streckte selig lächelnd die Arme aus, und er stürzte mit einem Jubelruf zu ihr.

Und als sie sich genugsam gefreut hatten, gingen sie Hand in Hand in des Deichgrafen Haus. Der war schon auf; denn zur Erntezeit heißt's früh aufstehen in der Marsch – etwas, was die Menschen, besonders die jungen, nicht recht mögen – und die Freude war groß, und der finstere Deichgraf lächelte wieder und ließ die beiden nicht wieder von sich ziehen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

Der Seehund hatte sich müde geredet: er schloß die Augen, watschelte schwerfällig in die steigende Flut und schwamm der roten Abendsonne zu, die das Wasser weithin vergoldete.

»Ja, ja, wenn man doch einmal so etwas erleben könnte!« seufzten die jungen Seehunde. »Heutzutage ist's wirklich zu langweilig«, und sie gähnten, daß ihr kleines Mäulchen ganz groß wurde, und stürzten sich dem alten nach in das flimmernde Wasser.


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