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Die Wunderbrille

Von

Ludwig Boerne

In einer schönen Stadt im Morgenland lebte einst eine alte Frau, die hieß Mariana. Die Leute aber nannten sie die Brillenmutter, weil sie eine große Brille trug mit zwei dicken, runden Gläsern in einer derben Horneinfassung. Die Alte wohnte nicht da, wo die großen, prächtigen Häuser standen, sondern weit draußen in dem Viertel der armen Leute. Dort war ihr Häuschen eines der unscheinbarsten und kleinsten. Es war für die Alte und ihre schöne Enkelin Fatmene, die bei der Großmutter wohnte, gerade groß genug.

Ihr müßt nun aber nicht glauben, daß Mariana, weil sie so arm war, unzufrieden oder mißmutig gewesen wäre. Im Gegenteil, einen zufriedeneren Menschen konnte man nicht leicht finden. Und wunderbar war, daß sie alles, was sie hatte, immer schön und gut fand. Sie trug dasselbe alte, abgetragene Wollkleid im Winter wie im Sommer. Wenn aber die Leute sie deshalb neckten oder bedauerten, lachte sie die alte Frau aus und sagte: »Was wollt ihr denn? Mein Kleid ist doch schön und fein. Ich würde es nicht mit dem Prachtgewand einer Königin vertauschen.« Trank sie morgens ihre dünne Mehlsuppe, so glaubte sie, es sei Schokolade, und wenn sie mittags bei ihren Kartoffeln saß – etwas anderes konnte sie sich nur selten kochen – und es wollte ihr jemand noch ein Stück Fleisch dazu schenken, so wehrte sie ab und meinte, sie habe doch solch köstliches Brathuhn, etwas besseres habe doch selbst der Sultan nicht auf seinem Tisch. Im Winter hatte die Alte so manches mal kein Geld, um sich Brennholz zu kaufen und ihren Ofen zu heizen, und es war bitterkalt in ihrem Stübchen; aber sie fror nicht. Denn wenn sie die Ofentür aufmachte, sah sie darin ein lustiges Feuerchen flackern, und sie fühlte sich warm und behaglich.

Daß die Alte alle Dinge mit solch zufriedenen Blick ansah, das machte ihre Brille. Durch die sah sich alles schön und gut an. Die ganze Welt schien, durch die Brille gesehen, ein wahres Paradies.

Die Leute wußten nicht, daß die Brille diese Zauberkraft hatte, dachten, wenn sie die Mariana so reden hörten, sie habe nicht ihren richtigen Verstand, und lachten sie aus. Andere wieder wollten die Mariana überzeugen, daß sie unrecht habe, daß ihr Kleid alt, ihr Ofen kalt und ihr Essen schlecht sei, und ärgerten sich und zankten mit der alten Frau, die sich gar nicht belehren ließ. Wieder andere wollten der Mariana durch Almosen und Geschenke helfen und fühlten sich gekränkt, wenn sie die milden Gaben zurückwies und meinte: »Ich brauche nichts, ich bin so reich wie der Sultan; ihr guten Leute, behaltet eure Sachen nur, ihr habt ja alles viel nötiger als ich.« So hatte es oft ohne Marianas Schuld Zank und Verdruß gegeben, und schließlich war es dahin gekommen, daß die Alte mit Fatmenen abseits von den Menschen ganz für sich lebte und kaum mit anderen Leuten zusammen kam. Nur einen Gast hatten sie bei sich, der sie nie verließ, daß war die Zufriedenheit.

Heute aber waren sie doch unter die Menschen gegangen; denn heute war ein Festtag ohne gleichen für die Stadt. Der junge Sultan Abdallah zog nämlich in seine Residenz ein. Vor einigen Monaten war sein Vater hochbetagt und von allem Volk betrauert, gestorben, und sein Sohn war ihm auf dem Thron gefolgt. Zunächst hatte der junge Fürst eine Fahrt nach dem Grabe des Propheten gemacht und dort hundert mal hundert Gebete verrichtet, Gott möge ihm eine glückliche Regierung und seinen Untertanen Segen und Wohlergehen schenken. Dann war er nach seiner Hauptstadt zurückgekehrt, und heute sollte der Einzug sein. Drum war alles Volk in Bewegung. Alle Fenster, Balkone und Dächer waren dicht besetzt. Wer da keinen Platz gefunden hatte, der stand auf der breiten Hauptstraße, durch die der Herrscher nach seinem Palast reiten sollte. Dicht gedrängt stand die Menge zu beiden Seiten der Straße.

Unter den Leuten in der vordersten Reihe war auch Mariana mit ihrer schönen Enkelin und freute sich, den Sultan bald sehen zu können; denn sie war eine treue Seele und liebte den jungen Herrscher, von dem man sich schon viel Schönes und Gutes zu erzählen wußte. Alles um sie herum war festlich gekleidet. Nur die arme Mariana, die kein Festgewand hatte, war in ihrem Alltagskleid gekommen. Drum ärgerten sich viele Leute und meinten, die Alte solle weggehen, sie passe nicht hierhin, sie solle wenigstens zurücktreten, daß der Sultan sie nicht sehe. Doch damit kamen sie bei der Mariana schlecht an. Die antwortete: »Der Sultan wird sich freuen, wenn er mich sieht; denn ich habe doch das allerschönste Kleid, der Sultan selbst trägt gewiß kein besseres.« Das ging den Leuten aber doch zu weit. »Was,« schrien sie, »was bildet sich die alte Närrin ein? Der Sultan soll kein schöneres Kleid haben als sie, die alte Lumpenliese?« So entstand ein lautes Streiten und Zanken, und es wäre der Alten wohl schlecht ergangen; doch da kam der Sultan angeritten, und bei seinem Anblick war alles andere schnell vergessen.

Man rief begeistert: »Es lebe der Sultan!« Und es war des Tücherwehens und Fahnenschwenkens, der Blumengrüße und Freudenrufe kein Ende. Wie kam aber auch der junge Fürst daher. Schön und edel gebildet, prächtig gekleidet, dankte er von seinem weißen Zelter herab huldvoll und freudig nach allen Seiten für den festlichen Empfang, bis er in den Toren seines Palastes verschwunden war. Doch das Volk hatte sich an seinem Anblick noch nicht satt gesehen. Immer und immer wieder lief es in den nächsten Tagen in hellen Scharen zusammen, sobald der Herrscher sich zeigte. Auch Mariana befand sich immer unter der Menge, obwohl die Leute sie immer wieder wegweisen wollten und ihr sagten, in ihrem alten Kleid dürfe sie sich dem Sultan nicht zeigen. Und da der Streit gar nicht aufhörte, ja sogar immer heftiger wurde, so fiel die alte Frau, auf die alle Welt so bös zu sein schien, schließlich auch dem Sultan auf, und er ließ seinen Großwesir nach dem Grund des Streites fragen. Nachdem Abdallah darüber berichtet war, befahl er, man solle die alte Mariana in Ruhe lassen. Von da ab hatte sie denn auch Ruhe vor den Leuten und konnte nach Herzenslust und ungestört den Sultan bewundern.

Fatmene blieb meistens zu Haus; denn sie war ein gar fleißiges, braves Kind und wollte von ihrer Arbeit nichts versäumen. »Ich bin noch so jung,« pflegte sie zu sagen »ich kann noch so viel Schönes sehen; jetzt will ich einmal arbeiten und die Großmutter spazieren gehen lassen, die sich schon so viel hat plagen müssen.« Nach ihrer Rückkehr am Abend erzählte dann die Alte dem jungen Mädchen, was sie alles gesehen und erlebt hatte, wie der Sultan ausgesehen und was für ein Gewand er getragen habe. »Ja,« sagte Mariana, »das ist merkwürdig. Jeden Tag denkt man, ein herrlicheres Kleid, als es der Sultan heute trägt, kann es doch gar nicht geben. Aber am nächsten Tag hat er wieder ein noch schöneres und prächtigeres an. Und doch – –«

Die Alte stockte und schien in trübes Nachdenken zu versinken. Ganz verwundert schaute Fatmene die Großmutter an und fragte:

»Was denn? Was meinst du denn, Großmutterchen?«

»Und doch,« fuhr Mariana nach kurzem Bedenken fort, »und doch ist der Sultan nicht mehr so herrlich, wie er war. Es kommt mir so vor, als sei er nicht mehr so freudig wie an den ersten Tagen. Und wie die helle Freude ihm aus den Augen geleuchtet hat, das war doch das Allerschönste an ihm.«

»Da mußt du dich geirrt haben, Großmutterchen.«

»Aber, Kind, du weißt doch, meine Brille täuscht nicht. Was ich durch die sehe, damit hat's seine Richtigkeit.«

Das mußte ja Fatmene zugeben, und sie widersprach deshalb nicht länger. Doch den ganzen Abend dachten beide an den jungen Fürsten und sannen, was wohl der Grund seines Kummers sein könne.

Wie erschrak aber Fatmene, als am nächsten Morgen in aller Frühe ein Diener des Sultans erschien und die Mariana im Namen seines Herren aufforderte, mit ihm in den Palast zu kommen. »Ach Allah,« jammerte sie, »der Sultan wird doch nicht böse sein und meine Großmutter köpfen lassen.« Mariana beruhigte das Kind, wie sie nur irgend konnte, und ging guten Mutes mit. Im Palast sah sie dann all die Herrlichkeiten, die sonst dem Volk verschlossen sind; hohe, weite Säle aus Marmor und Ebenholz, mit Gold, Perlen und Edelstein besetzt und mit den schönsten Gemälden und kostbarsten Teppichen geschmückt. Überall verbreiteten Springbrunnen Kühle und Wohlgerüche. In dem prächtigsten Saal saß auf goldenem Sessel der Sultan. Als die alte Frau eintrat, ließ er alle seine Minister und Offiziere hinausgehen und die Mariana neben seinem Lehnstuhl Platz nehmen. Es schien ihm schwer zu werden, etwas zu sagen. Einige Male wollte er anfangen zu reden, er hielt aber immer wieder inne. Doch schließlich sagte er: »Mariana, kannst du dir denken, warum ich dich habe holen lassen?«

»Nein; ich bin eine alte, einfältige Frau, ich wüßte nicht, was mein Herr und Sultan von mir wollen könnte.«

»Man hat mir gesagt,« fuhr Abdallah fort, »daß du immer zufrieden bist, daß du alles in deinem Leben schön und gut und wohl eingerichtet findest.«

»Das ist wahr,« antwortete Mariana, »ich bin ganz zufrieden. Aber wäre es nicht die größte Sünde, wenn ich es nicht wäre?«

»Du bist doch aber ganz arm, Mariana, hast keinen Palast und keine kostbaren Möbel und schönen Gärten, keine Diener, keine edlen Pferde kein gutes Essen und« –

»Das ist nicht wahr,« fiel ihm Mariana ins Wort, »gutes Essen habe ich auch, vielleicht besseres als du. Heute morgen habe ich eine Schokolade getrunken, etwas so gutes hast du wahrscheinlich noch nie gehabt. Darüber brauchst du gar nicht zu lachen«, fuhr sie etwas ärgerlich fort, da der Sultan lächelte. »Und wenn ich auch keinen Palast und schöne Gärten und das alles nicht habe, was du hast, arm bin ich deshalb doch nicht. Mein Haus ist auch schön.«

Darauf fing sie an, dem Sultan zu erzählen, wie hübsch es bei ihr sei und wenn auch klein, so doch wohlig und behaglich. »Besser«, sagte sie zum Schluß, »kann es überhaupt kein Mensch haben außer dir, hoher Herr.«

»Ja, siehst du, Mariana, ich hab doch nun alles Schöne, was es auf der Welt geben kann. Wenn ich morgens erwache, reicht mir ein Diener köstlichen Mokka, eine Sklavin singt zur Laute leise Lieder, eine andere fächelt mir Kühlung zu. Dann kommen Dichter, mir ihre Verse vorzulesen, Künstler drängen sich heran, mir ihre neuen Werke zu zeigen, und die weisesten und klügsten Männer wetteifern, mich durch tiefsinnige Gespräche zu unterhalten. Ehe ich einen Wunsch ausgesprochen, ja ehe ich ihn noch geahnt habe, ist er schon erfüllt. Und doch bin ich nicht glücklich und zufrieden. Was ich höre und sehe, scheint mir fad und langweilig, nichts macht mir rechte Freude, und die Tage werden mir so lang, daß ich schon am Morgen wünsche: Wenn es doch erst Abend und Zeit zum Schlafengehen wäre!«

Der Sultan hielt inne, als ob er auf ein Wort der alten Frau wartete, aber die sah nachdenklich vor sich hin und sagte nichts.

»Deshalb, Mariana,« fuhr darum der Sultan fort, »habe ich dich rufen lassen. Mein Großwesir hat mir erzählt, du seiest immer froh. Nun sollst du mir sagen, wie das kommt. Wenn du mir das Geheimnis verrätst, wie du das anstellst, will ich dich königlich belohnen.«

Mariana nahm ihre Brille ab und sagte:

»Versuch es einmal mit dieser Brille, Herr. Dann wird es vielleicht besser. Aber du mußt sie jeden Morgen und jeden Abend eine halbe Stunde lang selber putzen, sonst wird sie trübe. Morgen laß dich in aller Frühe, am besten bei Sonnenaufgang, wecken, und dann mache die erste Probe.«

Bei diesen Worten gab die alte Frau dem Sultan ihre Brille und ging weg. Von Dank und Belohnung wollte sie nichts wissen.

Abdallah war voller Begier, die Brille zu erproben, und er konnte es deshalb kaum abwarten, bis der Abend kam. Dann legte er sich zeitig schlafen und befahl seinen Dienern, ihn am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang zu wecken. Das geschah denn auch. Und als die Schar der Diener in das Schlafgemach trat, um nach des Sultans Befehlen zu fragen, da wären die Leute vor Erstaunen fast auf den Rücken gefallen. Denn es war etwas ganz Unerhörtes, noch nicht Dagewesenes geschehen. Der Sultan war ganz allein und ohne Hilfe aus dem Bett gesprungen, und jetzt hieß er alle Diener hinausgehen, denn er wolle sich allein ankleiden. Kaum waren die Leute draußen, so setzte er sich im Hemd, wie er war, hin, nahm ein seidenes Tuch und putzte damit ganz gewissenhaft eine halbe Stunde lang die Brille, daß ihm von der ungewohnten Arbeit der Schweiß die Stirn hinunterlief. Darauf kleidete er sich flugs an, und dann ging er mit der Brille auf der Nase in den Garten.

Der Sultan wußte nicht, wie ihm geschah: die Welt schien ihm verwandelt, und er selbst glaubte, ein anderer geworden zu sein. Es war ihm so wohl und freudig zumut, wie ihm lange, ja überhaupt noch nie gewesen war. Wie hell leuchtete die Sonne, wie prangten die frischen Tautropfen auf allen Gräsern und Blüten, und wie würzig und frisch wehte ihm die kühle Morgenluft um die Schläfe. Es zog ihn immer weiter und tiefer in den Garten hinein, und er ging Wege, die er noch nie gegangen war, nicht die kunstvoll angelegten, mit Palmen, Kamelien und Magnolien besetzten, großen Alleen, die zu Grotten und Marmorbildern, zu kleinen Tempeln und Pavillons führten. Nein, es zog ihn seitab, wo Bäume wild wuchsen, hochragende Platanen und knorrige Eichen, und wo Vergißmeinnicht und Veilchen, Männertreu und Hahnenfuß auf grüner Wiese bunt durcheinander standen. Das schien dem Sultan alles so wundervoll, und er dachte, er müsse bisher doch wohl blind gewesen sein, daß er an dem allen achtlos hatte vorübergehen können. Wie schön war jeder Grashalm, die einen groß und stämmig, die anderen schlank und zierlich, von jedem Windhauch bewegt. Die ganze Wiese im Morgentau glich einem silberglänzenden Schleier. Drin zirpten die Grillen, und die Frösche quakten vom nahen Teich her. Dem Sultan klang das lieblicher wie sonst Gesang und Mandolinenspiel. Gar manches Blümchen nahm er auf, hier ein weißes, ein blaues, dort ein rotes oder gelbes. Voll andächtigen Staunens sah er, wie reich der liebe Gott auch das kleinste mit Schönheit und Anmut umgeben hat zur Freude derer, die offenen Auges und freien Sinnes durch seine herrliche Welt gehen. Vor lauter Vergnügen wälzte er sich auf der Wiese herum, und zuletzt schlug er gar im Gras einen Purzelbaum.

Darob erschrak er aber doch ein wenig. »Denn«, dachte er, »was werden die Leute sagen, wenn sie sehen, daß ich, der großmächtige Sultan, der Beherrscher von so vielen Millionen, einen Purzelbaum schlage?« Aber zum Glück hatte es niemand gesehen, als ein kleiner, weißer Spitz, der lustig bellend angehopst kam und an dem Sultan emporsprang. Der hätte sonst das kleine Tier nicht beachtet, aber jetzt, in seiner frohen Laune, ließ er sich die Gesellschaft des lustigen Tierchens gern gefallen. Der Hund hüpfte voraus und der Sultan immer mit über Felder und Wiesen, wie lange, daß wußte keiner von beiden. Allmählich wurde jedoch Abdallah gar seltsam und etwas unbehaglich zumut. Er hatte im Magen ein Gefühl, das er nicht kannte, das ihn aber quälte. Saß da drinnen ein böser Wurm, der an ihm nagte? Der Sultan wußte es nicht, und der Spitz konnte ihm keine Auskunft geben. Plötzlich sah er nicht weit, hinter Bäumen versteckt, ein kleines Häuschen. Davor saß ein älterer Mann mit seiner Frau und seinem Sohn. Jeder hatte neben sich Spaten, Rechen und Hacke stehen. Es waren Landleute, die eben noch auf dem Feld gearbeitet hatten und jetzt ihr Frühstück, Milchsuppe und Schwarzbrot, verzehrten. Sie kannten den Sultan nicht. Als er sie aber recht freundlich fragte, ob er nicht mitessen dürfe, luden sie ihn herzlich ein.

Der Sultan aß immer ein Stück Brot nach dem anderen und einen Teller Milchsuppe nach dem anderen, und die guten Leute freuten sich von ganzem Herzen, wie es ihrem Gast schmeckte. Der konnte das Essen gar nicht genug loben und beteuerte immer wieder, so gut habe es ihm in seinem ganzen Leben noch nicht geschmeckt. Daß das Schwarzbrot mit Milchsuppe gewesen sei, wollte er durchaus nicht glauben und meinte, er müsse etwas ganz besonders Feines gegessen haben.

»Ach nein, Herr,« sagte der alte Mann, »Ihr habt wohl nur tüchtigen Hunger gehabt; deshalb hat es Euch so gut geschmeckt.«

Doch Abdallah meinte: »Hunger kenne ich nicht, den habe ich noch nie und ganz gewiß auch jetzt nicht gehabt«, und er bat die Leute, bald wiederkommen zu dürfen. Das sagten sie ihm gerne zu, nahmen aber den Ring, den der Fremde ihnen schenken wollte, nicht an. »Denn«, meinten sie, »wir haben Euch nicht für Lohn aufgenommen, sondern um Gottes und Eurer frohen und guten Augen willen. Lebt wohl, Herr, und kommt bald wieder.«

Der Sultan ging herzlich dankend mit Spitz, der sich auch an Milchsuppe hatte stärken dürfen, den Weg nach seinem Palast zurück. Dort fand er alle in großer Aufregung. Denn man hatte schon gefürchtet, es möchte ihm ein Unglück zugestoßen sein. Aber sie beruhigten sich schnell, als sie den Sultan sahen, und wunderten sich nur über seine frohe Laune und seine große Brille. Und weil sie glaubten, ihrem Herrn alles nachtun zu müssen, zeigten sie auch alle lustige Gesichter und setzten sich Brillen auf ihre Nasen. Das aber waren gewöhnliche Brillen, keine Zauberbrillen, wie der Sultan eine hatte; die nützten nichts. Nur die Brillenmacher hatten gute Tage, rieben sich vergnügt die Hände und lachten in sich hinein.

So lebte Abdallah mehrere Wochen in großer Zufriedenheit, und wenn er einen Kummer hatte, so war es nur der, daß die alte Mariana gar keine Belohnung annehmen, auch nicht mehr in den Palast kommen wollte. »Ich bin dort jetzt ganz überflüssig«, meinte sie, »und es gefällt mir zu Hause in meiner Ruhe am besten.« Da geschah es eines Tages, daß der Sultan von dem großmächtigen Kalifen Beniro Baibai Besuch bekam. Schon mit Abdallahs Vater war der Kalif befreundet gewesen, und er kam jetzt, um den jungen Herrscher auf der Fahrt nach dem Grab des Propheten zu begrüßen. Er brachte viele hundert Diener mit, einer immer kostbarer gekleidet als der andere. Alle saßen auf stattlichen Rossen oder schwerfälligen Kamelen, und es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis der letzte in die Tore des Palastes eingezogen war. Dann wurde zu Ehren des hohen Gastes ein Fest gefeiert, zu dem alle großen des Landes eingeladen waren. Dabei gab es das beste Essen, und auch dem Wein wurde tapfer zugesprochen; und der machte, wie ihr wißt, zutraulich und redselig. Das wurde auch der Kalif und so fragte er denn gegen Ende der Tafel den Sultan:

»Abdallah, was hast du eigentlich da für eine Brille auf der Nase? Schön ist sie nicht, dein Auge ist gut; warum also trägst du sie?«

Der Sultan lächelte und antwortete:

»Die Brille ist ein gar kostbares Ding, die ist mir mehr wert, als mein halbes Reich; deshalb putze ich sie auch jeden morgen und jeden abend eine halbe Stunde lang selber, damit sie hübsch blank bleibt.«

Darüber lachte Beniro aus vollem Halse, so daß der Sultan sogar ein bißchen bös wurde. Er lies sich aber nichts merken, weil der andere sein Gast war, und fragte ihn nur, weshalb er denn so lache.

»Ja,« sagte der Kalif, »das ist doch zu spaßig. Mir ist das noch nicht vorgekommen, daß ein Sultan etwas selbst tut. Putzest du dir denn auch deine Stiefel selbst?«

»Nein«, erwiderte Abdallah etwas kleinlaut.

»Nun also,« meinte Beniro, »wenn du schon die Brille tragen willst, meinetwegen. Aber selbst putzen wirst du sie doch nicht mehr. Das ist ja ein zu putziger Einfall von dir.«

Weil der Kalif gar so herzlich lachte, mußte Abdallah schließlich mitlachen, und sie stießen miteinander an, waren wieder die besten Freunde und sprachen bald von etwas anderem. Um Mitternacht bestieg Beniro sein Roß und zog mit seinen Begleitern weiter. Denn der großen Hitze wegen wollte er bei Nacht reiten.

Der Sultan ging in sein Schlafzimmer; er war sehr müde und ermattet. Doch er setzte sich, wie er es seit langem gewohnt war, auf einen Stuhl und nahm die Brille ab, um sie zu putzen. Aber plötzlich fielen ihm des Kalifen spöttische Worte ein, und dann war er so müde. »Ach, heute«, dachte der Sultan, »kann mir einmal mein treuer Ibrahim helfen.« Er gab drum dem alten Diener die Brille mit dem Befehl, sie eine halbe Stunde lang sorgfältig zu putzen, legte sich nieder und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen lag die Brille wie immer neben des Sultans Bett. Aber nicht so frohgemut wie sonst stand er auf, denn er hatte ein schlechtes Gewissen und war besorgt, die Gläser möchten trüb geworden sein. Drum atmete er erleichtert auf, als er durch die Brille sah und sie noch eben so hell und klar fand wie vorher. Er lobte seinen alten Ibrahim und ließ fortan von ihm jeden Morgen und jeden Abend die Brille putzen. Der Sultan wußte ja, daß er sich auf den braven Menschen verlassen könne.

Aber eines Morgens – oh Schrecken – als der Sultan wieder die Brille aufsetzte, waren die Gläser trüb geworden, und man konnte nichts mehr dadurch sehen. Er schalt den Ibrahim einen Tagedieb und Faulenzer. Aber der beteuerte: »Ich bin unschuldig, ich habe ganz gewissenhaft geputzt, und wie ich zuletzt die Brille aus der Hand gelegt habe, sind die Gläser auch noch hell und klar und durchsichtig gewesen.«

Der Sultan ließ die Mariana holen und erzählte ihr, was geschehen war. Als die Alte hörte, wie man mit ihrer Brille umgegangen war, wurde sie furchtbar wütend. Die sonst so ruhige und sanftmütige Frau war wie umgewandelt und schrie den Sultan an:

»So wenig hast du mein Geschenk in Ehren gehalten. Ich habe dir das Kostbarste gegeben, was ein Mensch besitzen kann, was mehr wert ist als dein ganzes Reich, und du hast es verliedert und verschlampt.«

Der Sultan wollte sich entschuldigen und der Mariana erklären. Aber die ließ nichts gelten, wurde immer heftiger und rief schließlich dem Sultan zu:

»Ich helfe dir nicht. Du verdienst solch kostbares Geschenk gar nicht, Du Faulenzer!«

Das war Abdallah aber doch zuviel. Ihn, den mächtigen Herrscher, wagte ein armes, altes Weib Faulenzer zu nennen. Voller Wut lies er die Mariana ergreifen und ins Gefängnis führen, die Brille aber ließ er in einen Brunnen werfen, der vor der Stadt auf dem Felde lag und so tief war, daß noch niemand daraus hatte Wasser schöpfen können. Deshalb dachten viele Leute, das sei gar kein richtiger Brunnen, sondern der Eingang zur Hölle. Im Volk hieß darum der Brunnen der Teufelsbrunnen.

Die arme Mariana saß bei Wasser und Brot im Gefängnis und konnte darüber nachdenken, daß es nicht klug ist, den Mächtigen dieser Erde seine Meinung allzu grob und deutlich ins Gesicht zu sagen. Und wenn sie gar an ihr liebes Enkelkind, die schöne Fatmene dachte, war sie zu Tode betrübt und weinte bittere Tränen. Doch das sollte nicht lange so bleiben. Und nun hört einmal, wie das gekommen ist.

Zu jener Zeit zog durch das Morgenland ein Jüngling, der unter dem Volk Günther, der Geigenspieler hieß. Er war von einer fernen Insel gekommen und er sah auch ganz anders aus, als die Menschen in des Sultans Reichen. Er hatte helle, blaue Augen, blonde Locken und ein Gesicht, so rosig und zart wie Pfirsichblüte. Er spielte, wohin er kam, auf der Geige, und wie er spielte! Das klang zuerst wie tiefes Sehnen, dann wie frohes Hoffen und zuletzt wie lauter Jubel und Freude. Es war kein Mensch, der ihm nicht folgte und nicht von dem Spiel bezaubert und wie umgewandelt war. Böse Menschen unterließen, was sie häßliches gegen andere im Schilde führten, und halfen denen, die sie hatten schädigen wollen. Alter Haß verschwand bei dem Spiel aus den Herzen, eingefressener Groll aus den Seelen und bittere Feindschaft aus den Sinnen. Die Traurigen wurden lustig, die Bedrückten frohgemut, die Besorgten zuversichtlich und die Verzweifelten vertrauensvoll. Tiere und Pflanzen, ja selbst die leblose Natur schien empfänglich für des Jünglings Zauberweisen. Die Tiere horchten auf, die Bäume neigten sich, die Blumen wandten ihre Köpfe seinem Spiel zu, und die Häuser taten ihre Tore, Türen und Fenster weit, weit auf, um die süßen Töne in vollen Strömen hereinklingen zu lassen.

An diesem Abend zog der Jüngling in die Hauptstadt ein. Da es schon dunkel war, wurde er nicht bemerkt, und das war ihm gerade recht. Denn er wollte nach dem Gefängnis gehen, um der alten Mariana zu helfen, von deren traurigen Geschick er gehört hatte. Er setzte sich nahe dem Gefängnis in das Dunkel eines Gemäuers und wartete ab, bis es Mitternacht geworden war und alle Menschen schliefen. Dann fing er zu spielen an, zuerst leise, zitternd und zagend, dann immer voller, heller und froher. Mariana rieb sich den Schlaf aus den Augen und horchte. Sie wußte nicht, wie ihr war. Hatte sie geträumt? Oder hatte sie wirklich ihre Brille wieder? War die Welt wieder so schön wie früher? Lebte sie wieder mit Fatmenen in ihrem gemütlichen Stübchen? Und was war denn das? Da taten sich ja Tür und Fenster ihrer Kerkerstube auf, und es strömten jubelnde Töne herein, die das ganze Haus zu sprengen schienen. Die alte Frau litt es nicht mehr drinnen. Sie eilte fort, dahin, wohin die Töne sie zogen, und niemand hielt sie zurück. Denn alle Wächter des Gefängnisses mit viel anderem Volk umstanden den wunderbaren Jüngling, der, vom Licht des Mondes umflossen, zauberisch und verklärt erschien wie ein Bote des Himmels. Als er die Mariana kommen sah, hörte er zu spielen auf und ließ die Leute in ihre Stuben zurückgehen. Die Alte aber führte er nach ihrem Haus und gebot ihr, dort zu bleiben und sich nicht sehen zu lassen. Er selbst wollte nicht verweilen; denn, meinte er, es gäbe für ihn noch viel in dieser Nacht zu tun. Und eilends ging er weiter zum Palast des Sultans.

Abdallah lag in seinem seidenen Bett. Aber der Schlaf floh ihn; denn er dachte an das Unrecht, das er der Mariana getan hatte, und er hätte gern mit manchen armen Tagelöhner getauscht, dem schwere Arbeit und ein gutes Gewissen tiefen Schlaf schenken. Da tönte es von der Straße herauf wie leises Mahnen, das immer eindringlicher und vernehmlicher wurde. Der Sultan sprang aus dem Bett, er warf ein Gewand über, das erste beste, das ihm zur Hand war, und eilte allein und ungesehen aus dem Palast dem Gefängnis zu. Er wollte die Alte aus dem Kerker herausholen und sie in Ehren in ihr Heim zurückführen; doch er fand sie nicht. Von Angst gejagt, lief er deshalb nach ihrem Häuschen. Mariana erkannte ihn schon von weitem; denn es war mittlerweile hell geworden. Aber sie wollte nicht, daß der Sultan sie fände. Hatte doch auch der schöne Geigenspieler ihr geraten, sich nicht sehen zu lassen. Drum hieß sie die Fatmene hinuntergehen und dem Sultan sagen, ihre Großmutter sei im Gefängnis gestorben. Das Kind tat, wie ihm geheißen wurde. Der Sultan brach darüber in Tränen und laute Klagen aus und nannte sich selbst den Mörder der alten Frau; denn vor Kummer über ihre Einkerkerung müsse sie gestorben sein. Der schönen Fatmene tat der Sultan leid, und sie hätte ihm gern die Wahrheit gesagt; aber sie durfte es nicht, und darum schwieg sie. Abdallah beklagte sie selber auch von Herzen, weil sie doch jetzt ganz verwaist sei; doch wolle er für des Mädchens Wohlergehen sorgen und noch heute hundert Kamele schicken, mit Gold, Perlen und Kostbarkeiten aller Art reich beladen. Fatmene wies alles zurück, aber Abdallah ließ mit seinen Bitten nicht nach und beteuerte: »Ich lasse dich nicht allein, und wenn du kein Geschenk und sonst keine Hilfe von mir annimmst, dann will ich wenigstens in deiner Nähe bleiben, um dich gegen Diebe und böse Menschen beschützen zu können.«

So blieb der Sultan in dem Haus der alten Mariana und suchte Fatmene zu trösten, so gut er konnte. Die alte Großmutter aber hielt sich oben in einem kleinen Zimmerchen unter dem Dach und ließ sich nicht blicken. Der Sultan glaubte deshalb nach wie vor, die alte Frau sei im Gefängnis gestorben. Jeden Abend aber kam Fatmene zur Großmutter, erzählte ihr, was am Tag geschehen war, und holte sich Rat bei der klugen alten Frau.

Das ging so eine geraume Zeit. Der Sultan, hilfreich, wo er nur konnte, holte der Fatmene Wasser aus dem Brunnen oder brachte ihr Holz aus dem nahen Wald und lernte, es mit dem Beil klein zu machen. Fatmene sang ihm zum Dank schöne Lieder vor oder erzählte von ihren Erlebnissen und dem Leben anderer Menschen. Dafür berichtete wieder der Sultan aus seiner Jugend und wie es am Hof seines Vaters zugegangen sei und von anderen Fürsten und ihren Schicksalen. Dabei verging beiden die Zeit wie im Flug. Denn für jeden war neu und lehrreich, was der andere zu erzählen wußte. Mit jedem Tag wurden sie froher und vertrauter, und der Sultan konnte sich nicht genug darüber wundern, wie er in dem kleinen Häuschen sich wohlfühlte, und wie gut er in seinem kleinen Kämmerchen schlief.

Eines Tages kam aber des Sultans Großwesir und bat seinen Herrn: »Kehre in den Palast zurück. Es ist eine fremde Gesandtschaft gekommen, die du empfangen mußt, auch viele andere Regierungsgeschäfte sind zu erledigen.« Tiefbetrübt, weil sie sich trennen sollten, saßen Abdallah und Fatmene beieinander, und der Sultan fühlte, daß er das Mädchen über alles lieb habe und sie nie und nimmer verlassen könne. Also fragte er kurz entschlossen die Fatmene, ob sie nicht seine Frau werden und mit ihm in seinen Palast kommen wolle.

Das junge Ding war darüber furchtbar erschrocken. Sie, die arme Fatmene, sollte Sultanin werden und aus der bescheidenen, kleinen Hütte in den herrlichen Palast einziehen? Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte, und lief statt aller Antwort in ihrer Bestürzung aus dem Zimmer und hinauf zu der Großmutter. Der erzählte sie, was geschehen war. Die alte Frau hatte wohl dergleichen geahnt; denn sie lachte ein bißchen verschmitzt in sich hinein, ließ aber Fatmene, die weinend ihr Gesicht im Schoß der Großmutter verbarg, nichts merken, sondern sagte mit großem Ernst: »Ich will dir meinen Segen zur Heirat geben und dich mit dem Sultan ziehen lassen, wenn mir Abdallah meine Brille wiederschafft.«

Fatmene sprang hinunter und sagte dem Sultan: »Ich will dich gern zum Manne nehmen, aber du mußt mir zuvor die Brille der Großmutter zurückgeben.«

Der Sultan versprach, das solle sofort geschehen, eilte nach seinem Palast, ließ all seine Soldaten und Offiziere zusammentreten und versprach ihnen die Hälfte seines Schatzes als Belohnung, wenn sie ihm die Brille aus dem Teufelsbrunnen herausholten. Viele machten ein bedenkliches Gesicht dazu und wollten lieber auf alle Schätze der Welt verzichten, als sich in dem Brunnen vom Teufel holen und mit Extrapost nach der Hölle bringen lassen. Doch zehn besonders mutige und tapfere Offiziere taten sich zusammen, versahen sich mit langen Leitern und Stricken und beschlossen, in den Brunnen hinunterzusteigen.

Zunächst ging es auch ganz gut. Sie ließen Leitern und Stricke, die sie oben befestigten, tief in den Brunnen hinab, ohne das sich etwas Besonderes zeigte. kaum aber schickten sie sich an hinunterzusteigen, da kam ihnen ein scheußlicher Kerl entgegen; es wird wohl der Teufel oder einer seiner Gesellen gewesen sein. Er hatte feurige Augen, sein Atem ging wie Pech und Schwefel, seine Hände hatten scharfe Krallen, und aus jedem Finger schoß ein Feuerstrahl heraus. Der Unhold trieb die mutigen Männer zurück und schrie mit dröhnender Stimme: »Veniat ipsissimus, veniat ipsissimus!« Und sooft die Tapferen den Versuch, in den Schacht hinabzusteigen, erneuerten, bei Tag und bei Nacht – immer wieder kam das Scheusal aus der Tiefe hervor, brüllte sein »Veniat ipsissimus« und scheuchte die Männer zurück.

So mußten sie schließlich unverrichteter Sache in tiefer Niedergeschlagenheit nach dem Palast zurückgehen. Der Sultan war aber noch viel betrübter als sie; denn Fatmene blieb dabei, sie müsse die Brille wiederhaben, sonst werde sie nicht des Sultans Frau, und Abdallah fühlte von Tag zu Tag mehr, daß er ohne das Mädchen nicht leben könne. Er war der Verzweiflung nahe. Schließlich entschloß er sich auf den Rat seines Großwesirs, zu einem uralten Mönch zu gehen, der schon seit urdenklichen Zeiten als Einsiedler in der Wüste lebte und in dem Ruf besonderer Weisheit stand. Der Sultan stellte dem Greis die Sache vor und bat um Rat.

»Ja,« sagte der Alte, »du mußt selber gehen.«

»Was, ich soll in den Brunnen steigen, in den schmutzigen, dunklen Brunnen und vielleicht gar mich vom Teufel holen lassen?«

»Das wird wohl nicht anders gehen, Abdallah. Denn die Worte, die der Teufel – oder wer sonst es war – immer wieder geschrien hat, sind lateinisch und heißen: ›Er soll selber kommen in höchsteigener Person.‹ Ich glaube, damit meinte er dich, Sultan. Denn du warst es doch, der die Brille in den Brunnen hat werfen lassen.«

Der Sultan entfernte sich, und zwar in wenig gnädiger Laune. Denn daß ihm der Alte zugemutet hatte, selbst in den schrecklichen Brunnen zu steigen, daß wollte ihm gar nicht gefallen. Er verbrachte die Nacht schlaflos. Weil er aber keinen Ausweg sah und seine Sehnsucht nach Fatmenen immer größer wurde, so entschloß er sich, am nächsten Morgen in den Brunnen zu steigen und nach der Brille zu suchen.

Es regte sich auch wirklich nichts, als Abdallah in den Schacht hinabstieg. Das feurige Scheusal kam nicht zum Vorschein, und der alte Mönch schien recht gehabt zu haben. Der Sultan aber stieg immer tiefer und tiefer hinab. Die Männer, die oben Wache hielten, konnten ihn schon lange nicht mehr sehen.

Je tiefer es aber abwärts ging, desto dunkler und schauriger wurde es in dem unergründlichen Schacht, so daß dem Sultan ganz bang wurde. Aber er ließ nicht nach. Denn was galt ihm das Leben, wenn er seine geliebte Fatmene nicht gewinnen konnte! Stunden und Stunden war der Sultan wohl schon hinabgestiegen; er war immer verzagter geworden; auch seine Kräfte drohten ihn zu verlassen, da hörte er von unten herauf undeutliche Geräusche, wie Hämmern und Klopfen und Pochen und Schlagen. Je weiter er hinabstieg, desto größer wurde der Lärm, bis er sich zu einem betäubenden Getöse steigerte.

Schließlich – es war plötzlich wieder ganz hell um ihn geworden, stand der Sultan vor einer Glastür, an der in goldenen Schriftzeichen »Labor« stand. Sie führte in einen hellerleuchteten, unermeßlich weiten Saal.

Von drinnen kam das Getöse; denn da war alles in unaufhörlicher Bewegung. In dem ganzen weiten Saal standen riesige Glaskasten, die durch gläserne Röhren miteinander verbunden waren. In die Kasten wurde fortwährend Wasser gepumpt und nach oben in tausend verschiedene Strahlen abgeleitet. Überall bei den sprühenden, schäumenden, brausenden Wassern arbeiteten geschäftig und possierlich winzige Zwerge, die wie kleine Gummimänner aussahen. Ob die Kerlchen wirklich aus Gummi waren, konnte der Sultan nicht erkennen.

Wie er eintrat, kam ihm ein rüstiger, älterer Mann mit den Worten entgegen:

»Gut, daß du kommst, Abdallah. Eben ist deine Brille fertig geworden. Wir hatten schön zu tun, sie wieder blank zu machen. Vier Monate und drei Tage haben wir sie beständig mit Wasser spülen müssen, aber jetzt sind die Gläser wieder hell.«

Währenddessen brachte auch schon ein kleiner Gummizwerg die Brille und gab sie auf Geheiß seines Herrn dem Sultan. Abdallah wußte nicht, was er zu all dem sagen sollte. Doch Herr Labor – das war der Mann, der den Sultan empfangen hatte – meinte: »Zum Reden habe ich keine Zeit, in meiner Werkstatt muß ununterbrochen gearbeitet werden. Sonst haben die Quellen, Flüsse und Seen auf der Erde kein Wasser, denn das muß ich von hier unten hinaufschaffen ans Tageslicht. Übrigens mußt auch du dich sputen, Sultan, denn deine Begleiter und Fatmene erwarten schon in Angst und Sorge deine Rückkehr.«

So blieb dem Sultan nur übrig, Herrn Labor kurz zu danken und sodann den Rückweg anzutreten.

In seiner überströmenden Freude verspürte er nichts mehr von Müdigkeit. Wie ein Eichhörnchen sprang er von Sprosse zu Sprosse empor, nicht selten auch übersprang er eine oder zwei. Der Abstieg war ihm unendlich lang und mühselig erschienen, der Aufstieg schien ihm Spielerei. Als er jetzt wieder das Tageslicht erblickte, kam es ihm so vor, als sei er in wenigen Minuten hinaufgestiegen. Seine Begleiter riefen ihm zu. Noch ein Sprung, und der Sultan stand wieder auf der Erde. Aber wie sah er aus: über und über mit Staub und Schmutz bedeckt! Doch er fragte nicht danach. Seine Leute wollten ihn zurückhalten, um ihm erst ein anderes Kleid zu bringen, aber er machte sich los und lief, wie er stand, so schnell er konnte, nach dem Haus der Fatmene.

Das Mädchen sah ihn daherkommen, wie er glückstrahlend und atemlos die Brille in der hocherhobenen Hand schwenkte. Es rief die Großmutter. Da die alte ihre Brille sah, und die Freude, die aus des Kindes Augen strahlte, schwand aller Groll aus ihrem Herzen, und sie lief mit Fatmenen dem Sultan entgegen. Abdallah, tief bewegt, als er Mariana wiedersah, sank auf die Knie nieder, dankte Gott und küßte beiden Frauen die Hände. Die alte Großmutter hob ihn freundlich lächelnd auf, legte die Hände des jungen Paares ineinander und segnete die beiden überglücklichen Menschen.

Noch an dem selben Tage wurde Hochzeit gefeiert. Die Großmutter schenkte ihren Kindern die Brille. Sie meinte, sie selbst brauche sie nicht mehr, aber die jungen sollten sie in Ehren halten. Die beiden versprachen das und haben ihr Wort bis an ihr Lebensende gehalten. Und die Brille ist nicht wieder trüb geworden.


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