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Vom treuen Schwesterchen

Von

Lucy Griebel

Die Mutter lag auf ihrem Bette und war sehr krank. Draußen vor dem offenen Fenster sangen die kleinen Vögel um die Wette. Die Sonne schien herein, und es sah aus, als wenn sie alles in der armseligen Kammer vergoldete. Aber die Mutter hörte nicht auf die kleinen Vögel und sah auch nicht auf die Sonnenstrahlen. Denn sie war so krank, daß sie sterben mußte.

»Nicolete,« sagte die Mutter mit sanfter Stimme, »wenn ich nun tot bin, mußt du gut auf dein Brüderchen acht geben.«

Nicolete stand am Bette und weinte. Es ist das Allertraurigste, was einem Kinde geschehen kann, wenn ihm Vater oder Mutter stirbt, und das wußte Nicolete wohl. Vor einem Jahr war der Vater gestorben, und seitdem waren sie und die Mutter niemals wieder recht fröhlich geworden. Was sollten sie und ihr Brüderchen Oka nun beginnen, wenn die Mutter auch begraben wurde?

»Dein Brüderchen ist noch klein und unverständig,« sagte die Mutter, »und du mußt es nun behüten und es niemals verlassen. Versprichst du mir das?«

»Ja, liebe Mutter«, entgegnete Nicolete und gab der Mutter die Hand darauf.

Am Bette stand auch das Brüderchen. Oka war betrübt, weil Nicolete betrübt war, denn sie hatten sich beide sehr lieb, und es tat ihm leid, daß seine Mutter blaß und krank war; aber er verstand noch nichts vom Tode.

Die Mutter sah auf ihre beiden Kinder, auf Nicolete mit dem stillen Gesicht und den ernsthaften Augen, die so dunkel waren wie Veilchen, und auf Oka mit den goldenen Locken, die sich um seine Stirn ringelten, und den roten Lippen, die immer lachten und sangen, und sie lächelte und nickte ihnen zu. Dann schloß sie ihre Augen.

Die Kinder waren ganz still, um die Mutter nicht zu wecken, aber als nach einer Weile die Nachbarin kam, sagte sie, die Mutter wäre nun tot. Sie war eine sehr gute und liebe Mutter gewesen, und nun waren die beiden Kinder ganz verlassen.

Als die liebe Mutter begraben war, konnten Nicolete und Oka nicht länger in dem Hause bleiben. Eigentlich war es gar kein Haus, sondern nur eine arme Hütte, und der Mann, dem sie gehörte, nahm alles, was darin war, verkaufte es und behielt das Geld. Das durfte er.

Da sagte Nicolete zu dem Brüderchen: »Wir wollen miteinander in die weite Welt wandern. Hier haben uns die Menschen nicht lieb. Vielleicht sind auf der anderen Seite vom Walde Leute, die uns helfen!« Sie strich ihm seine goldenen Locken aus dem Gesicht, wie es die Mutter immer getan hatte, setzte ihm seine Mütze auf und nahm Oka bei der Hand.

Er war es zufrieden, in die weite Welt zu gehen. Schon lange wäre er gern einmal in den großen Wald gelaufen, aber er hatte es sich allein nicht recht getraut. Auch hatte es die Mutter verboten, denn die Mutter wußte, daß es ein verzauberter Wald war. Die Kinder aber wußten es nicht.

Weit fort lag er, so weit, daß es aus der Ferne aussah, als wenn ein feiner Schleier von blauem Dunst und Nebel über ihn ausgebreitet wäre. Nicolete hatte oft, als die Mutter krank war, am Fenster gestanden und nach den duftumflorten Bäumen ausgeschaut. Dort, wo es aussah, als wenn der Himmel und der Wald aneinander stießen, strahlte stets, wenn die Sonne unterging, das Abendrot so seltsam und herrlich wie ein Feuermeer. Da mußte es schön sein. Vielleicht konnte man dort sogar in den Himmel hineingehen und mit Vater und Mutter vereint sein. Wer mochte es wissen?

Also hielten sich die beiden Kinder an der Hand, gingen aus der leeren Hütte fort und machten die Türe hinter sich zu. Jedes von ihnen hatte ein großes Stück Brot in der Hand, sonst besaßen sie nichts als die Kleider, die sie auf dem Leibe trugen.

Es war ganz früh am Morgen. Sie gingen über eine große, grüne Wiese. An jedem Grashälmchen hing ein Tautropfen, der funkelte wie der schönste Diamant. Die Kinder aber wußten nichts von Diamanten, darum sagten sie, die Tropfen glänzten wie Tränen; denn diese hatten sie schon oft gesehen. Tausendmaltausend kleine, holdselige Blumen falteten ihre Blätter, die sie während der Nacht zusammengeschlossen hatten, auseinander und breiteten sie der Sonne entgegen. Die Schmetterlinge taumelten noch ganz schlaftrunken umher, und die Bienen sammelten schon fleißig Honig zum Morgenimbiß. Und alle sagten sie etwas in ihrer Sprache; aber Nicolete und Oka konnten es nicht verstehen. Nur den kleinen Bach verstanden sie, der lustig durch die Wiese dahinhüpfte und murmelte. »Ich wandere in die weite, weite Welt«, sagte der Bach.

Oka und Nicolete nickten ihm zu. »Ja, wir auch.« Ganz hoch oben in der Luft aber sang eine Lerche.

Zuerst gingen Oka und Nicolete Hand in Hand, immer an dem fröhlichen kleinen Bach entlang. Da er auch in die weite Welt wanderte, konnten sie ja gut zusammen reisen. Aber dann wurde Oka ungeduldig. Er lief von Nicolete fort, pflückte sich einen großen Strauß von Blumen, roten, blauen, gelben und weißen, jagte hinter den Schmetterlingen her und sprang über die Maulwurfshügel, die da waren. Davon wurde er müde und hungrig, und die beiden Kinder zogen ihre Strümpfe und Schuhe aus, setzten sich an des Baches Rand und aßen ihr Brot. Etwas anderes hatten sie nicht, das war ihr Mittagsmahl; denn Oka war so lange umhergesprungen, daß die Sonne nun schon hoch am Himmel stand.

Dann nahm Oka seine Mütze ab, legte seinen Kopf in Nicoletes Schoß und schlief ein.

Er schlief so fest, daß er erst aufwachte, als es schon später Nachmittag war. Da standen die beiden Kinder auf und gingen weiter. Aber sie merkten nun erst, wie allein sie auf der großen Wiese waren. Kein Mensch begegnete ihnen, und die Lerche sang auch nicht mehr. Der Wald aber, in den sie wollten, lag noch immer ganz fern da. Sie faßten sich wieder bei den Händen, wie am Morgen früh, und gingen immer geradeaus. So lange mußten sie gehen, daß sie sehr müde wurden. Und hungrig waren sie auch. Aber sie hatten nichts mehr zu essen, ihr Brot war verzehrt.

Nun sagte auch der Bach »Lebewohl«. Er wollte nicht mit in den Wald, sondern lieber draußen im Lichte bleiben. – »Ade, ade«; murmelte der Bach und wendete sich seitwärts von ihnen ab, und dann waren die Kinder ganz allein. Aber da flammte gerade das Abendrot hinter dem Walde auf, und nun konnten sie ihn auch schon ganz in der Nähe sehen.

Groß, schwarz und stumm stand er da, ganz unheimlich, er, der aus der Ferne ausgesehen hatte wie lauter Duft und Glanz. Oka und Nicolete konnten nicht hineinsehen, sie fürchteten sich. Es kam ihnen so vor, als wenn lauter schwarze Augen sie aus dem Gebüsche anblickten, und es war ja auch ein verzauberter Wald. Sie legten sich in das Gras, schmiegten sich dicht aneinander und schliefen ein, ohne Decke und ohne Kopfkissen, und über ihnen waren nur die silbernen Sterne, die langsam in der lauen Sommernacht am Himmel heraufstiegen, und Gottes Augen waren. Nicolete aber konnte nicht gleich einschlafen. Sie mußte an die liebe Mutter denken, die über den Sternen war, und es fror sie auch, denn sie hatten beide die Strümpfe und Schuhe nachmittags am Bache liegen lassen; dazu hatte auch Oka seine Mütze verloren.

Als sie am anderen Morgen erwachten, waren ihre Kleider feucht vom Tau, der in der Nacht vom Himmel gefallen war. Aber es war wieder hell, die Sonne schien und trocknete ihre Kleider, und die Kinder wären wieder fröhlich geworden, wenn sie nicht so hungrig gewesen wären. Noch niemals waren sie eingeschlafen und wieder aufgewacht, ohne daß sie ein Stück Brot hatten.

»Komm, mein Oka,« sagte Nicolete, »wir wollen jetzt recht geschwind durch den Wald gehen. Wenn auf der anderen Seite auch vielleicht nicht der Himmel ist, so ist da doch gewiß ein Dorf, da geben uns die Leute zu essen.«

Der Wald sah im Sonnenschein nicht mehr schwarz aus, sondern grün und lustig. Und daß er verzaubert war, hatte niemand den Kindern gesagt, darum konnten sie es auch nicht wissen. Die Vögel sangen in den Zweigen, die Sonne schien durch die Blätter; wohin sie mit ihren kleinen nackten Füßen traten, war weiches Moos. Eichhörnchen huschten zwischen den Ästen umher, und die Rehe sprangen über den Weg. Denn weil nie jemand in den Wald kam und die Tiere störte und scheuchte, waren sie gar nicht ängstlich, sondern kamen ganz zutraulich und neugierig heran.

»Hier ist es schön!« sagte Oka, ließ seines Schwesterleins Hand los und sprang hierhin und dorthin. »Wenn wir nur heute etwas zu essen hätten, ich bin so hungrig.«

Auch Nicolete war hungrig. Doch es wuchsen wohl feine, stille Blumen am Rande des Waldes, aber nichts, was man essen konnte, keine Beeren und gar nichts.

Und während sie so suchten und spähten, gingen sie immer weiter in den Wald hinein, und auf einmal merkten sie, daß kein Weg und Steg mehr war. Es hatte sich auch alles um sie her verändert. Die Bäume drängten sich eng zusammen, dichtes Gebüsch hinderte die Kinder, weiter als ein paar Schritte zu sehen, von Zweig zu Zweig rankten sich seltsame, blasse, große Blumen, wie Oka und Nicolete sie nie gesehen hatten, und erfüllten die ganze Luft mit einem feinen, fremdartigen Duft. Vögel mit bunten, schillernden Federn und sonderbar klugen Augen saßen auf den Zweigen und sangen traurige, süße Lieder. Und im ganzen Walde war es so dämmerig, als sei die Sonne weit, weit fort. Den Himmel konnte man gar nicht sehen.

Wir haben uns verirrt, dachte Nicolete, und ihr sank das Herz, aber sie sagte nichts, um das Brüderchen nicht zu erschrecken.

»Da steht ein Busch mit Beeren!« rief Oka, lief voran und drängte sich durch das hohe Farnkraut, das überall wuchs. Nicolete wollte ihm folgen, aber ihr rotes Röckchen blieb an einem Dornzweig hängen, das mußte sie erst losnesteln.

Oka hatte unterdessen den Busch erreicht, der war über und über voll mit glänzenden, roten Früchten, die so köstlich dufteten, daß Oka gleich die Hand nach ihnen ausstreckte. Auf einem Zweige über dem Busch saß ein kleiner, grauer Vogel, nicht größer als eine Lerche, aber er hatte Augen, die so klug aussahen, wie Menschenaugen.

»Nun will ich mich satt essen!« rief Oka froh und pflückte die erste Beere.

Da hörte er eine feine Stimme – es klang, als wenn ein Vogel leise zwitscherte; aber man konnte es doch verstehen.

»Für jede Beere, die du ißt,
Du alles auf ein Jahr vergißt.«

»Was sagst du?« fragte Oka und blickte sich um, denn er wußte nicht, wer da spräche, und dabei steckte er schon die erste Beere in den Mund. Sie schmeckte noch hundertmal besser als die schönste Kirsche.

»Für jede Beere, die du ißt,
du alles auf ein Jahr vergißt,«

sagte die feine, kluge Vogelstimme wieder

»Das ist mir ganz einerlei«, sagte Oka. Er hatte schon zwei Hände voll Beeren gepflückt und steckte die Früchte nacheinander in den Mund. Und je mehr er aß, desto mehr wollte er haben. Da kam auch Nicolete gelaufen, und als sie die roten, reifen Beeren sah, fing sie gleich auch an, sie zu pflücken.

»Für jede Beere, die du ißt,
Du alles auf ein Jahr vergißt,«

sagte der kleine, graue Vogel mit den glänzenden, schwarzen Augen und hüpfte unruhig auf dem Zweige umher.

Nicolete warf ihre Beeren fort. Sie hatte noch keine gegessen. Vergessen – alles vergessen – die Mutter und alles, ein ganzes Jahr lang – für jede Frucht – nein, o nein, das wollte sie nicht!

»Iß nicht, Oka« rief sie. »Dann vergißt du alles« und sie faßte Okas Händchen am Handgelenk und schüttelte es, so daß die Beeren zur Erde fielen.

»Es ist mir ganz einerlei, ob ich etwas vergesse, wenn ich so hungrig bin!« sagte Oka und begann so zu weinen, daß ihm alle seine goldenen Locken über die Stirn und das Gesicht fielen. Aber Nicolete zog ihn mit sich fort. »Wir suchen andere Beeren«, sagte sie.

Als sie noch eine Weile gegangen waren, fanden sie wieder einen Strauch, der trug blaue Beeren, fast wie Weintrauben. Das graue Vögelein aber war vorausgeflogen, saß wieder auf einem Zweig und zwitscherte:

»Iß – iß – iß – iß – iß – iß!«

Da griffen sie beide zu, pflückten, und aßen sich satt nach Herzenslust.

»Nun muß der Wald bald zu Ende sein,« sagte Oka, »ich will vorauslaufen und sehen, ob wir noch nicht am Rande sind.« »Nein, nein!« rief Nicolete ängstlich. »Wir müssen beisammen bleiben, sonst verlieren wir uns!«

Aber Oka war schon fortgesprungen. Noch einmal wendete er seinen Kopf nach ihr zurück, so daß sie seine blauen Augen sehen konnte, die strahlten wie Sterne.

»Gleich«, rief er fröhlich, »bin ich wieder da. Bleib da stehen – bleib ja da stehen, Nicolete!«

»Oka, Oka!« schrie Nicolete, aber er war schon fort. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, so dicht stand das Farnkraut. Da blieb sie still stehen, wo sie war. Wenn sie jetzt fortlief, das wußte sie wohl, würden sie und Oka sich in dem großen, verwachsenen Walde niemals wiederfinden. Sie mußte auf demselben Platze bleiben, bis er zurückkehrte. Gewiß würde er gleich umkehren. Er mußte sich ja fürchten so ganz allein unter all dem Seltsamen, was rings umher war. Nicolete fürchtete sich. Ihr hatte in dem dämmrigen Walde schon gegraut, als sie und Oka beisammen waren, nun sie so ganz allein zurückblieb, schlug ihr das Herz vor Schreck und Angst.

»Was soll ich tun, was soll ich tun!« schluchzte die arme Nicolete. »Ich sollte auf Oka acht geben und habe ihn verloren: Ich sollte ihn behüten, und er ist fort. Soll ich Oka suchen, oder soll ich auf ihn warten? Wie kann ich ihn finden in dem großen dichten Walde, wo es nicht einmal hell ist? Ich muß hier stehen bleiben. Ich habe der lieben Mutter versprochen, Oka nicht zu verlassen und habe ihr die Hand darauf gegeben! Oka – Oka – Oka!« Aber da kam keine Antwort.

Da flatterte das graue Vögelein vor Nicolete auf »Komm mit – mit – mit – mit-!« sang es.

Aber Nicolete schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht, wie kann ich wissen, du graues Vögelein, ob du es wirklich gut meinst, oder ob du mich nur tiefer in den Wald locken willst. Ich darf nicht von hier fortgehen, Oka wird zurückkommen und mich suchen, was soll er beginnen, wenn ich dann nicht da bin? Oka – Oka – Oka!«

»Komm mit, komm mit – mit – mit –!« antwortete das Vögelein

»Nein ich gehe nicht fort,« sagte Nicolete, »er sagte, ich soll hier auf ihn warten, ich muß hier bleiben.«

Und sie stand und lauschte auf jeden Ton, der aus dem Walde zu ihr drang. Wenn ein Zweig krachte, weil sich ein Hirsch oder ein Reh einen Weg durch das Gebüsch brach, so dachte Nicolete: »Jetzt kommt Oka!« Wenn der Wind die Blätter bewegte, so sagte sie zu sich selbst: »Oka geht über das welke Laub.« Und dann begann sie aufs neue zu rufen: »Oka, Oka, Oka!« damit er sie hören und finden sollte; aber er kam nicht.

Die Tiere liefen herzu, blieben vor ihr stehen und blickten sie aus ihren klugen Augen neugierig und mitleidig an, aber Oka kam nicht.

Die Nacht brach herein, es wurde ganz, ganz dunkel im Walde, nicht einmal die Sterne konnte man sehen, weil die Bäume den Himmel zudeckten.

»Jetzt kann Oka nicht mehr kommen, es ist zu finster« dachte Nicolete und kauerte sich in das Moos, und obgleich sie nicht einschlafen wollte, kam der Schlaf doch, ohne daß sie es merkte, und schloß ihr sacht die Augen zu.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fand sie neben ihrem Mooslager Wurzeln von Farnkräutern und Beeren, auch Früchte, die sie nicht kannte. Die hatten ihr über Nacht mitleidige Tiere gebracht. Nicolete aß und wurde satt, und dann horchte und rief sie wieder den ganzen Tag nach Oka, bis sie nicht mehr konnte und ihre Stimme versagte.

Aber immer, wenn der kleine, graue Vogel sang: »Komm mit – mit – mit – mit!« schüttelte sie ihren Kopf. Nein, sie mußte ausharren.

Nach einer Weile hörte sie auf, den ganzen Tag zu rufen. Sie horchte nur immer noch auf jeden Ton. Am siebenten Tage, als sie früh aus dem Schlafe erwachte, konnte sie nicht aufstehen. Sie blickte an sich herab, und siehe da, sie war halb zu einer Blume geworden.

Denn in dem Zauberwalde durfte kein Mensch länger als sechs Tage bleiben, sonst wurde er in irgend etwas verwandelt, und nur, wenn er zur rechten Zeit wünschte, frei zu sein, hatte der Zauber keine Macht über ihn. Nicolete aber wußte dies alles nicht.

Nun fühlte sie, daß sich schon ihre nackten, kleinen Füße in zarte Wurzeln verwandelt und in die Erde gesenkt hatten, ihr Körper war ein gerader, schlanker Blumenstengel geworden und ihre Arme hatten sich in grüne Blätter verwandelt.

Vor ihr auf einem Zweige aber saß das graue Vögelein.

»Willst du frei – frei – frei – frei –sein,« sang es eindringlich, »dann komm mit – mit – mit –!« Aber Nicolete schüttelte ihr Köpfchen mit dem blassen Antlitz und den ernsthaften Augen. »Nein,« sagte sie, »Ich kann nicht mit, ich muß hier warten auf Oka. – Oka, Oka – O –.« Ihre Stimme erlosch. Nicolete war für immer verstummt. Ihr liebliches, kleines Gesicht hatte sich in eine schöne, stille, weiße Blüte verwandelt, Nicolete war ganz zur Blume geworden. Wie aus Silber, Schnee und Mondesglanz gebildet, stand sie zart und schlank da, und über sie breitete sich ein Duft wie von den ersten Veilchen im Frühling.

»Du hast's gewollt – wollt – wollt – wollt –« zwitscherte das graue Vöglein. Dann flog es fort und kam nicht wieder.

Nicolete aber blieb eine weiße Blume. Die Speise, welche sie brauchte, zogen ihre zarten Wurzeln aus der Erde. Ihr Trank war der Tau, der vom Himmel fiel.

Sie verblühte nie. Sommer und Winter stand sie da im verzauberten Walde und wartete. Wenn der Schnee fiel, so baute er um sie her eine schützende Wand auf, ohne sie zuzudecken. Immer lieblicher wurde sie, immer weiter breiteten sich ihre feinen Blätter aus, und immer höher erhob sich ihr schlanker Stengel. Ihr Kelch aber war tief im innersten Grunde anzusehen, als wenn man in liebe treue Menschenaugen blickt. Lange, lange, lange stand die arme kleine Nicolete im Walde und wartete auf Oka.

Der hatte damals, als er fortgelaufen war, wirklich nur eine kurze Strecke weit gehen und dann zu Nicolete zurückkehren wollen, denn er glaubte, der Wald müßte bald zu Ende sein und wollte gern sehen, was auf der anderen Seite lag und dann Nicolete holen.

Aber da er die roten Beeren gegessen hatte, vergaß er, sobald er Nicolete nicht mehr sah, auf einmal alles, was früher gewesen war und was er sich vorgenommen hatte. Während der ersten hundert Schritte dachte er noch an Nicolete, aber dann sah er ein rotes Eichhörnchen, das von Baum zu Baum sprang, und Nicolete und alles, alles andere war plötzlich ganz aus seiner Erinnerung ausgelöscht, so, als wenn man mit dem Griffel etwas auf die Tafel schreibt und dann mit dem nassen Schwamm darüber fährt. Es ist weg, man sieht es nicht mehr. Es war auf einmal so, als wenn Nicolete niemals dagewesen wäre, nur weil Oka fünfzehn rote Beeren von einem Strauch gepflückt und verzehrt hatte. »Für jede Beere, die du ißt, du alles auf ein Jahr vergißt«, hatte das graue Vöglein gesagt, nun fing es an. Aber Oka wußte auch nichts mehr von dem grauen Vöglein und den Beeren, er dachte auch nicht an die liebe Mutter und das kleine Haus daheim. Es war ganz so, als wenn er jetzt neu anfinge zu leben.

Erst lief er dem Eichhörnchen nach, und dann, als das soweit fortgesprungen war, daß er es nicht mehr sehen konnte, jagte er einen Schmetterling, der sich in den Wald hinein verirrt hatte. Er fürchtete sich gar nicht, allein zu sein, sondern lief fröhlich geradeaus oder zur Seite, wie es ihm einfiel, und nach ein paar Stunden wurde es heller um ihn. Die Bäume standen nicht mehr so eng nebeneinander, man konnte schon ein Stückchen blauen Himmel sehen, die Blumen, die da wuchsen, waren nicht mehr bleich, sondern trugen wieder schöne, bunte Farben, und auf einmal, ehe sich Oka dessen versah, war der Wald zu Ende. Da lag kein Dorf, und der Himmel war auch nicht da, aber wieder eine große, grüne Wiese, die weißen Wolken zogen am Himmel dahin, wie Schwäne auf einem See, und die liebe freundliche Sonne goß all ihr Licht und all ihr Gold in die Welt aus. Oka klatschte in die Hände vor Freude.

Da kam über die Wiese, einen Weg entlang, ein Mann mit einem Wagen gefahren, gerade an Oka vorüber.

Er hielt seinen Wagen an, denn Oka gefiel ihm, wie er dastand mitten im Sonnenschein, ohne Mütze, mit seinen blauen Augen und den goldenen Locken.

»Junge,« sagte er, »was tust du hier ganz allein? Weit und breit ist ja kein Mensch und kein Dorf, wo kommst du her?«

»Von da«, sagte Oka und zeigte auf den Wald.

»Wie heißt du?«

Oka besann sich eine Weile. »Oka«, sagte er dann langsam und unsicher.

»Wohnst du im Walde?«

»Nein«, sagte Oka und schüttelte seine Locken

»Wo wohnst du denn?« fragte der Mann. Er stieg vom Wagen.

»Nirgends!« sagte Oka.

»Hast du denn nicht Vater und Mutter?«

Oka sagte nein.

»Oder Bruder und Schwester?« Oka schüttelte wieder den Kopf, denn er hatte ja Nicolete vergessen.

»Bist du von weit her gekommen?« fragte der Mann und faßte ihn bei der Hand.

Oka dachte nach. »Ich weiß nicht,« sagte er dann, »auf einmal war ich hier.«

»Hier kannst du nicht bleiben,« sprach der fremde Mann, »das ist ein verzauberter Wald, weißt du das nicht? Ich will dich mitnehmen, du kannst bei mir bleiben, bis wir herausgefunden haben, wohin du gehörst.«

»Gerne«, sagte Oka. Sie kletterten beide auf den Wagen. Oka durfte die Peitsche halten und die Zügel anfassen, die der Mann in der Hand hatte. »Hü – Hott!« sagte der Mann, dann fuhren sie miteinander davon.

Den ganzen Tag fuhren sie, denn der Mann war aus einer fernen Gegend gekommen und wollte nun wieder nach Hause. Immer wenn sie an einem Dorfe vorüberkamen, stieg der Mann ab und fragte, ob jemand den kleinen Jungen verloren hätte, aber niemand wollte etwas von Oka wissen. Nachts kehrten sie in einem Wirtshause ein, und dann fuhren sie wieder weiter und immer weiter fort von dem verzauberten Walde.

Und je länger sie beieinander waren, um so lieber mochte der Mann Oka leiden. So hübsch und fröhlich war auch sein eigener kleiner Junge gewesen, der ihm vor ein paar Wochen gestorben war. Nun hatte er kein Kind mehr und seine Frau wollte sich gar nicht trösten lassen.

Endlich nach einer langen, langen Fahrt, kamen sie zu Hause an. Die Frau hieß sie willkommen und küßte Oka auf seinen roten Mund, und dann weinte sie; denn sie dachte an ihren eigenen Knaben, der ihr gestorben war. Darauf richtete sie ihm das kleine Bett, in dem ihr Knabe immer geschlafen hatte.

Spät abends, als Oka schlief, saßen Mann und Frau zusammen vor der Tür.

»Mann,« sagte die Frau, »wir sind reich und haben kein Kind, und das Kind ist arm und hat nicht Vater noch Mutter.«

Der Mann nickte und sagte: »Ja, ja!« und dann schwiegen sie wieder eine Weile.

»Was meinst du, wenn wir ihn behielten?« sagte die Frau und sah ihren Mann an.

»Das habe ich auch schon gedacht«, entgegnete der Mann. Sie gaben sich die Hand und so war es abgemacht, und am nächsten Morgen fragten sie Oka, ob er bei ihnen bleiben und ihr liebes Kind sein wollte.

Oka wollte es gern, und so ging es zu, daß Oka neue Eltern fand. Der Mann wurde sein Vater, die Frau seine Mutter, und er wurde ihr Kind und es ging ihm gut bei ihnen. Sie hätten gern auch noch ein Mädchen gehabt, aber das konnten sie nicht bekommen, denn man findet nicht jeden Tag ein Kind auf einer Wiese. An alles, was geschehen war, an Nicolete und die Mutter und all das andere dachte Oka niemals, weil er von den roten Beeren gegessen hatte.

Nur manchmal nachts, wenn Oka schlief, kamen ihm Träume. Dann sah er die arme kleine Hütte, in der die liebe Mutter gestorben war, und Nicolete, wie sie ihn bei der Hand nahm, ihm die Mütze aufsetzte und mit ihm aus der Hütte trat, die Tür zumachte und mit ihm in die weite Welt wanderte. Da schwebte ihm auch wohl wie ein ganz verblaßtes Bild der Wald vor, der Busch mit den roten Beeren und der kleine Vogel, der gesungen hatte:

»Für jede Beere, die du ißt,
Du alles auf ein Jahr vergißt.«

Und wie aus weiter weiter Ferne, hörte er es ganz leise rufen: »Oka – Oka – Oka!« –

Aber wenn Oka morgens aufwachte, hatte er wieder alles vergessen. Er war dann wohl ein wenig still und träumerisch, aber er wußte selbst nicht warum.

Sonst war er immer fröhlich und wohlgemut, und nach und nach gewann er seine guten Pflegeeltern, die ihn ganz hielten wie ihren eigenen Sohn, so lieb, als wären sie sein rechter Vater und seine rechte Mutter. Er wuchs heran und wurde aus einem frohen Kinde ein schöner, guter, kluger und starker Jüngling. Fünf Jahre war er alt gewesen, als sein Vater ihn fand, seitdem waren vierzehn vergangen, er war seines Vaters rechte Hand in allem. Was er anfaßte, das gelang ihm, so daß man sich oft wundern mußte.

»Er hat eine glückliche Hand,« sagten die Leute von ihm, aber daran lag es nicht, es kam daher, weil er einen hellen Verstand und ein reines Herz hatte.

Seit einiger Zeit geschah es, daß die alten Träume in der Nacht immer häufiger kamen und immer deutlicher wurden, es war immer wieder dasselbe, was ihm träumte, und es quälte ihn oft bei Tage, daß er sich auf das, was er nachts gesehen hatte, wachend nicht besinnen konnte. Etwas Schönes, etwas Liebes, und doch ganz unendlich Trauriges war es gewesen, das wußte er wohl, aber mehr brachte er nicht heraus. Jemand hatte ihn gerufen, irgendwo war er umhergeirrt, aber er wußte nicht wer und nicht wo.

Endlich konnte er es nicht mehr aushalten, er trat vor seinen Vater hin und sprach: »Lieber Vater, ich kann es nicht mehr ertragen. Es ist eine große Unruhe in mir, als müßte ich etwas Liebes und Kostbares suchen, was ich einmal besessen und dann verloren habe. Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht besinne ich mich darauf, wenn ich draußen in der Welt bin. Laßt mich ziehen, du und Mutter, ich will auf Wanderschaft gehen, und wenn ich das Ding gefunden habe, was ich selbst noch nicht kenne und weiß, dann will ich wiederkommen und es euch bringen.«

Der Vater und die Mutter wurden sehr betrübt. Sie hatten kein Kind außer ihm, und sie fürchteten, sie könnten ihn draußen in der Welt verlieren.

»Lieber Sohn,« sagte der Vater, »bleibe hier. Du sollst Herr sein über alles was ich habe, über mein Haus und meinen Hof, mein Vieh und mein Geld. Nur verlasse uns nicht.«

Aber Oka versprach ganz fest, er wolle wiederkommen, schnürte sein Bündel, gab Vater und Mutter die Hand und wanderte in die weite Welt hinaus. Geld und Gut nahm er nicht mit. »Ich bin stark und gesund,« sagte er, »ich werde schon durch die Welt kommen.«

Hierhin und dorthin wanderte er. Er sah fremde Städte und hohe Berge, große Ströme und weite Meere, nirgends aber hatte er Ruhe. Es war etwas in ihm, das trieb ihn wieder fort, wo er auch sein mochte. Er lernte fremde Menschen kennen und war fleißig und froh bei ihnen, aber bleiben konnte er bei ihnen nicht.

»Es ruft mich jemand«; sagte er, wenn sie ihn halten wollten. Dann schüttelten sie wohl den Kopf über ihn, wenn er gegangen war, als wollten sie sagen: »Er ist töricht.«

Ein Jahr war er so gewandert, da kam er eines Tages auf eine große, große, grüne Wiese. Es war schon fast Abend, die Sonne war eben am Untergehen. Vor ihm in der Ferne lag ein Wald hoch, finster und stumm im Abenddämmern. Aber hinter den Bäumen flammte es empor gelb und glutrot wie ein ungeheures Feuermeer. Das war die Abendröte.

Oka stand still und sah auf den Wald, auf die Wiese und die Abendglut.

Es waren aber heute gerade fünfzehn Jahre verflossen, seit er die roten Beeren gegessen hatte, nur wußte er es nicht.

Er sah auf die Wiese, den Wald und die feurige Abendröte, und auf einmal sagte er ganz laut, so daß es sonderbar und fremd klang in der tiefen Stille ringsum: »Hier war ich schon einmal.«

Rings war weit und breit kein Mensch, nicht einmal ein Tier lief an ihm vorüber. Nur den Wald sah er und die Abendglut und die Wiese mit den tausendmaltausend Blumen, die schon ihre Blätter zusammenfalteten zum nächtlichen Schlummer. Und neben ihm plätscherte eifrig und eilig ein kleiner Bach dahin, der murmelte immerzu: »Ich wandre in die weite, weite Welt.«

Oka stand und blickte auf alles, bis die Abendglut verglommen war, und auf einmal wußte er, was ihm so oft und oft geträumt hatte. Hier war er gegangen als ein kleines Kind mit nackten Füßen und ohne Mütze, und ein anderes kleines Kind hatte ihn bei der Hand gehalten. Oka schlug die Hände vor sein Gesicht, daß ihm die goldenen Locken über die Finger fielen. »Nicolete« sagte er ganz leise, er wußte auf einmal den Namen, und alles, was er vergessen gehabt hatte, war wieder lebendig in ihm geworden.

Dann wanderte er weiter bis an den Wald. Hineingehen konnte er an diesem Abend nicht mehr, denn die Nacht brach herein. Und wie einst vor fünfzehn Jahren warf er sich in das Gras ohne Decke und ohne Kopfkissen, und über ihm waren nur die silbernen Sterne und Gottes Auge. Aber Nicolete war nicht da wie einst.

Am nächsten Morgen wachte er früh auf. Der Wald lag im Sonnenschein da und sah gar nicht unheimlich aus. »Ich will hineingehen,« sagte Oka zu sich selbst, »Nicolete kann ich nicht mehr in ihm suchen, sie ist wohl längst gestorben, aber ich finde vielleicht noch die Stelle, wo ich zu ihr sagte, sie sollte auf mich warten. Ich will es alles noch einmal wiedersehen. Und dann will ich wieder in die Welt hinauswandern. Wenn sie doch noch lebt, so will ich Nicolete finden.«

Da flatterte dicht vor ihm ein graues Vögelein empor, das hatte am Waldrand auf einem Zweig gesessen. Es war nicht größer als eine Lerche, aber es hatte so kluge Augen wie ein Mensch.

»Komm mit – mit – mit – mit –!« zwitscherte das Vögelein. Es klang so lockend, so sehnsüchtig.

»Komm mit – mit – mit – mit –!« und flog dann vor ihm her in den Wald hinein.

»Ich will mitgehen«; sagte Oka und trat auch in den Wald. Es war alles wie einst, denn der Wald war noch immer verzaubert. Das Vögelein war fort, aber immer klang es von irgendwo leise: »Komm mit – mit – mit – mit –!«

Da war auch der Strauch mit den roten Beeren. Er hing auch heute über und über voll und der feine, süße Duft lag darüber, wie damals. Aber Oka ging vorbei. Noch immer saßen die seltsamen Vögel mit den buntschillernden Federn in den Zweigen, und die bleichen Stiele großer, blasser Blumen rankten von Baum zu Baum, und das Farnkraut stand wie ein kleiner Wald mitten im großen Walde.

»Komm mit – mit – mit – mit!« –

»Ja, du führst mich gut;« sagte Oka, »du weißt den Weg, hier war es.«

Und da stand ein Strauch voll köstlicher blauer Beeren, fast wie Weintrauben.

»Hier!« sagte Oka. Sein Herz schlug laut, und er wurde bleich.

Noch ein paar Schritte weiter, und da stand mitten im grünen Moose eine schöne, weiße Blume. Hoch und schlank war ihr aufrechter Stengel emporgeschossen, ihre zierlichen grünen Blätter breiteten sich aus wie sehnsüchtige Arme, und die feine, holdselige Blume war anzusehen, als sei sie aus Silber, Schnee und Mondesglanz gewoben. Sie leuchtete Oka entgegen mit einem milden Strahlenglanz, der sie rings umfloß, und über ihr lag ein Duft wie der Duft von den ersten Veilchen im Frühling. Aber im allertiefsten Kelch leuchtete es wie ein liebes und treues Menschenauge.

Der kleine graue Vogel sang nicht mehr; aber es war, als riefe jemand ganz leise: »Oka! – Oka! – Oka!«

»Ja, hier war es«, flüsterte Oka. »Hier stand sie und rief; aber ich wollte nicht hören, hier, wo die schöne Blume wächst. So war Nicolete auch, so fein und still und lieb wie diese Blume. Vielleicht ist hier ihr Grab.«

Er kniete nieder und blickte in den Kelch hinein. Anfassen mochte er die Blume nicht; sie war zu herrlich! Aber bei dem Gedanken an die kleine Nicolete, die er einst so lieb gehabt hatte, und die ihm immer die Locken aus der Stirn strich, wie es die Mutter zu tun pflegte, stürzten ihm die Tränen aus den Augen und fielen gerade mitten in den Kelch der weißen Blume.

»Nicolete,« sagte er und legte die Hände um den Stengel, ohne ihn zu berühren, »wenn du eine Blume wärst, so würdest du so sein wie diese.«

Und auf einmal war es keine Blume mehr. Er wußte nicht, wie es geschah. Aber plötzlich hielt er ein schönes, schlankes Mädchen in seinen Armen, fein und blaß, wie eine Waldblume. Auf den Wangen glänzten noch Okas Tränen, die auf die Blüte gefallen waren, und die Augen waren wie die ersten Veilchen im Frühling.

Und es war Nicolete. Sie stand da in ihrem ärmlichen Röckchen von einst, das mit ihr gewachsen war, und doch konnte keine Prinzessin lieblicher sein.

»Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte Nicolete und strich Oka die goldenen Locken aus der Stirn.

Sie hielten sich bei den Händen wie einst, als sie kleine Kinder waren, und lachten und weinten.

Und sie gingen miteinander aus dem verzauberten Walde, Hand in Hand, nicht mehr Brüderchen und Schwesterchen, sondern Bruder und Schwester. Vor ihnen her flog der kleine graue Vogel, der zeigte ihnen den Weg. Am Waldesrand flatterte er noch einmal vor ihnen empor. »Fahrt hin – hin – hin!« zwitscherte er, und man wußte nicht, klang es traurig oder fröhlich. Dann flog er in den Wald zurück.

Oka und Nicolete aber kehrten heim zu Vater und Mutter, wie Oka versprochen hatte, denn was man versprochen hat, muß man halten, und es war große Freude und Glückseligkeit.


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