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Neunzehntes Kapitel

David Deans hatte fast den ganzen Morgen des Verhandlungstages in Andacht und Gebet verbracht, denn seine freundlichen Nachbarn hatten ihm heute die Feldarbeit abgenommen, und er trat, wunderbar gestärkt, zur Frühstücksstunde in seine Stube, getraute sich aber nicht, seine Tochter anzusehen, weil er ungewiß war, ob auch sie mit ihrem Gewissen ins reine gekommen sei. Unwillkürlich schlug er die Augen nieder; aber es hielt ihn nicht lange; eine heimliche Macht zog seinen Blick auf das Kleid, das sie angezogen hatte, aber auch daran konnte er nicht sehen, ob sie gewillt sei, den Gang aufs Gericht zu machen oder nicht, denn sie hatte wohl ein anderes, aber nicht ihr eigentliches Sonntagskleid an; ihr gesunder Sinn sagte ihr, es zieme sich wohl, bei solcher Gelegenheit anständig und sauber zu erscheinen, aber ebenso auch, allen Putz und Staat zu vermeiden, den sie zum Kirchgang oder zu Festtagen anzulegen gewohnt war.

Das bescheidene Essen, das sie herrichtete, wanderte wieder vom Tische, wie es aufgetragen worden war. Vater und Tochter stellten sich wohl so, als nähmen sie ein paar Bissen zu sich, wenn ihre Blicke einander trafen, konnten aber vor Aufregung weder Speise noch Trank genießen.

Endlich gingen auch diese Augenblicke gegenseitigen Zwanges vorüber . . . Vom Giles-Turme herüber dröhnte dumpf der Schlag der letzten Stunde vor dem Beginn der Hauptverhandlung. Jeanie nahm ihr Plaid um und traf die für längere Abwesenheit von Hause notwendigen Maßregeln. Ihre Ruhe und Sicherheit standen in auffälligem Gegensatze zu der nervösen Unruhe des sonst so pedantischen Vaters. Wer beide nicht kannte, hätte in Jeanie kaum ein schlichtes, gutmütiges, fügsames Landkind, noch weniger aber in Deans einen starren, strengen, unduldsamen Presbyterianer der alten Richtung vermutet. Das Mädchen aber war mit ihrem Gewissen im reinen; sie wußte, was ihr oblag; ihr schlichter, gläubiger Sinn hatte das Rechte gefunden und alle Folgen ihres Tuns ermessen. Der Vater dagegen, in Unkenntnis vieler näheren Umstände, stand unter dem Eindruck quälender Zweifel, was Jeanie tun und von welchen Folgen ihr Verhalten vor Gericht für sein anderes Kind sein werde . . . Aengstlich beobachtete er die Tochter, jeden Griff, den sie tat, jeden Schritt, den sie machte, bis sie zuletzt mit einem Blicke bittersten Schmerzes an ihm vorbei und auf die Tür zu schritt . . Da rief er ihr nach: »Jeanie, Mädel, Mädel! . . ich will . . . « und aus seinem unwirschen Suchen nach den wollnen Handschuhen und dem Stocke konnte sie den unvollendet gebliebenen Satz ergänzen . . .

»Vater,« sagte sie, abwehrend, »es wäre besser, Du tätest es nicht!«

»Ich will den Weg machen,« sprach er, scheinbar fester, »mit Gottes Hilfe und Beistand.« So schnell zog er den Arm der Tochter unter den seinigen und so schnell ging er einher, daß es ihr schwer wurde, mit ihm Schritt zu halten. Ein Umstand aber, so geringfügig er war, sprach so recht für die Aufregung, die nach wie vor in seinem Gemüt herrschte . . »Vater,« sagte Jeanie, »Deine Mütze?« Auch sie hatte im ersten Augenblick nicht bemerkt, daß der Greis barhäuptig war . . Ein jähes Rot huschte über sein Gesicht, wie wenn er sich dieser Vergeßlichkeit schämte, und er drehte um, holte die blaue Schottenmütze aus der Stube, nahm wieder den Arm der Tochter, ging aber jetzt ruhiger, langsamer die Straße nach Edinburg entlang.

Zur damaligen Zeit war das Ständehaus auf dem Parlamentsplatze, damals »Zwinger« genannt, zugleich das Gerichtshaus. Die Verhandlungen wurden, wie auch heute noch, in dem kleinen Viereck der Hauptkirche geführt. Die Stadtwache war bereits aufmarschiert und drängte mit ihren Musketen den Pöbel zurück, der sich hier staute, um die Unglückliche zu sehen, wenn sie aus dem anstoßenden Gefängnis zum Gerichtsgebäude geführt würde, wo das Urteil über sie gefällt werden sollte. Als Deans mit seiner Tochter in Sicht kam, scharten sich sogleich Leute um ihn, die ihn zur Zielscheibe ihres Hohnes machten. Mit erstaunlichem Spürsinn erkennt der gemeine Haufe rasch die Eigentümlichkeit eines Menschen aus seinem äußern Habitus. Es wurden Spottlieder auf die Sekte, der Deans angehörte, angestimmt. Ein Tagelöhner, den Deans, um sich Platz zu schaffen, beiseite schob, fing an zu schimpfen . . . »Der Teufel! was fällt dem puritanischen Simpel ein, sich an ordentlichen Leuten zu vergreifen?« Ein anderer rief: »Platz für den alten Knaster! Er will's mit ansehen, wie eine barmherzige Schwester zum Himmel fährt!«

Plötzlich aber rief jemand laut und weithin vernehmlich: »Leute, nehmt Vernunft an!« und leiser, aber noch immer deutlich genug, setzte er hinzu: »Es ist der Vater mit der Schwester!« Im Nu war die Bahn für die Unglücklichen frei; selbst der Roheste wurde still und schämte sich. In dem frei gewordenen Raume stand der Greis, den Blick auf die Menge gerichtet, und mit Gebärden, die die heftige Erregung seines Gemüts deutlich genug berieten, sprach er zu der Tochter, die er an der Hand hielt:

»Da siehst und hörst Du, Kind, wem die Gebrechen und Schwächen der Gläubigen beigemessen werden, nicht ihnen allein, sondern der Kirche, deren Glieder auch sie sind, ja, selbst ihrem gesegneten, unsichtbaren Haupte . . Laß uns darum mit Ergebung unser Teil an diesem Hohne tragen!«

Kein anderer hatte das Volk zur Ruhe verwiesen, als unser alter Freund Laird Dumbiedike, dem, gleich dem Esel des Propheten, die Dringlichkeit des Falles den Mund geöffnet hatte, und der sich jetzt dem Paare nahte, um es mit der ihm gewohnten Schweigsamkeit in den Gerichtssaal zu führen. Kein Hindernis stellte sich ihnen mehr entgegen, weder seitens der Wache noch seitens der Türsteher; ja es wird erzählt, es sei sogar von einem der letzteren eine Silbermünze, die der Laird, seiner Meinung getreu, daß Geld willig mache, ihm geboten habe, unwirsch zurückgewiesen worden; indessen darf nicht verschwiegen werden, daß es an Bürgschaft für dies Gerücht fehlt.

Der Gerichtssaal zeigte das gewöhnliche Kolorit: die ständige Beamtenschar und die übliche Menge eitler, müßiger Zuschauer. Bürger gafften und gähnten, junge Rechtsbeflissene drückten sich, lachend und kichernd, wie im Theater, in den Gängen und Ecken herum, ältere schwatzten wichtig über den zur Verhandlung stehenden Fall und die für ihn in Betracht kommenden Gesetzesparagraphen. Die Richterbank, um einiges höher als die übrigen Sitze, war schon hergerichtet, die Geschworenen bereits zur Stelle. Die Vertreter der Krone, an einem langen Tische in unmittelbarer Nähe der Richterbank, blätterten unter fortwährendem Geflüster in ihren Akten. Ihnen gegenüber saßen die Verteidiger der Angeklagten. Eine besonders rege Tätigkeit entfaltete der Anwalt des Laird Dumbiedike, Herr Nichil Novit . . Ihn fragte David Deans, als er mit Jeanie in den Saal trat, wo »sie« sitzen werde . . Novit flüsterte eine Weile mit dem Laird, dann zeigte er auf eine leere Bank vor den Schranken, den Richtern gegenüber, und der Laird stand auf, um Deans dorthin zu führen . . .

»Nein,« wehrte der Greis, »bei ihr sitzen kann ich nicht . . als mein erkennen will ich sie nicht, wenigstens jetzt noch nicht . . Sie soll mich nicht sehen, denn ich will meine Augen von ihr abwenden . . es ist besser so für uns beide.«

Saddletree, von den Sachwaltern schon mehrere Male mit dem Bedeuten, sich nicht in fremde Dinge zu mischen, zurechtgewiesen, wollte sich die schöne Gelegenheit, einmal den bewanderten Juristen zu spielen, nicht entgehen lassen; wichtigtuerisch trat er auf den Greis zu und besorgte ihm, seine Bekanntschaft mit einem der Frone nützend, einen Stuhl hinter einem vorspringenden Pfeiler, der ihn vor den Blicken der im Saale anwesenden Leute sicherte, auch von der Anklagebank aus nicht gesehen werden konnte, während er Deans den Blick dorthin gestattete.

»Es kann einem immer von Nutzen sein, Bekannte bei Gericht zu haben«, sagte Saddletree, »wer weiß, ob Ihnen jemand anders zu solchem Platze verholfen hätte . . Nun, die Richter werden gleich kommen, die Verhandlung wird gleich beginnen . . Aber, um Himmels willen, was soll denn das bedeuten? Fräulein Jeanie ist doch als Zeugin vorgeladen, Fron, sie muß doch aus dem Verhandlungssaale . . Herr Novit, Jeanie Deans muß doch in das Zeugenzimmer verwiesen werden!«

Novit nickte.

»Muß es wirklich sein?« fragte Jeanie, des Vaters Hand ängstlich in der seinen haltend, den Anwalt.

»Gewiß muß es sein,« mischte Saddletree sich ein; »es ist sogar unumgänglich notwendig.« –

»Ja,« sagte jetzt auch Novit, »das Gesetz fordert es.«

Während Jeanie dem Fron ins Zeugenzimmer folgte, suchte Saddletree Zweck und Wichtigkeit der Maßregel mit vielen Worten auseinanderzusetzen, wurde aber durch den Eintritt des Lord-Oberrichters mit den vier Beisitzern, die in ihren langen weißverbrämten Scharlachmänteln von dem Pedell auf ihre Plätze geführt werden, darin gestört.

Alles hatte sich ehrerbietig erhoben; aber kaum war die hierdurch entstandene Unruhe vorüber, als eine neue, heftigere Bewegung am Portale, wie auf den Galerien, die Vorführung der Angeklagten kündete . . Gleich darauf wurden die beiden Portal-Flügel, die nach dem Eintritt der Richter wieder geschlossen worden, weit geöffnet, um dem Volke freien Eintritt zu gestatten, und in wilder Hast, einander stoßend und drängend, so daß die Wache kaum einen schmalen Weg für die Angeklagte frei halten konnte, flutete der rohe Haufe in den Saal. Nur mit Aufwendung der größten Mühe gelang es der Wache und den Fronen, der Unglücklichen, der das Urteil über Leben oder Tod gesprochen werden sollte, den Weg zur Anklagebank freizumachen.


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