Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

Der Tag im Dezember, an welchem Mannering mit seiner Tochter in Woodbourne erwartet wurde, erschien. Jeder in dem kleinen Kreise sah dem Ereignis mit eigener Besorgnis entgegen. Mac Morlan wünschte sich in der Gunst eines so reichen, bedeutenden Mannes wie Mannering zu befestigen. Es war ihm nicht entgangen, daß Mannering, so großmütig und wohltätig er war, die Schwachheit hatte, seine Wünsche bis aufs kleinste genau erfüllt zu sehen; er hielt deshalb peinliche Umschau, von der Dachstube bis herab zu den Ställen, ob alles in Ordnung sei. Seine Frau tat das gleiche in ihrem engeren Kreise, dem Speisezimmer und der Küche, war aber in ständiger Bange, daß das Mittagessen verderben und ihr guter Ruf als Hauswirtin Schaden erleiden möchte. Selbst Sampson wurde in seiner Gemütsruhe gestört, trat zweimal an das Fenster, das nach der Landstraße hinaussah, und rief zweimal, wie es nur käme, daß die Räder so langsam rollten?

Lucy, die ruhigste von allen, hatte von allen die trübsten Gedanken; sollte sie doch nun, auf fremde Wohltätigkeit angewiesen, abhängig von Fremden leben, mit deren Denkungsart, so freundlich sie sich auch bisher gezeigt hatten, sie doch kaum bekannt war.

Endlich hörte man den Wagen rollen. Zuerst kam die Dienerschaft und stellte sich im Hausflur zum Empfange auf mit einer Wichtigkeit und Geschäftigkeit, die für Lucy, die weder an Gesellschaft gewöhnt war, noch die Sitten der vornehmen Welt kannte, höchst beunruhigend waren.

Mannering, bei wie gewöhnlich die Reise zu Pferde zurückgelegt hatte, trat herein, mit seiner Tochter am Arm. Julie war von Mittelgröße und eine zierliche Gestalt, mit durchdringenden dunklen Augen und tiefschwarzem langgelockten Haare, das gut zu dem lebhaften, klugen Gesichte stand, das ein seltsames Gemisch von Stolz und Scheu, von Humor und Sarkasmus zeigte. Lucys erste Empfindung war: »meine Freundin wird sie nie werden,« als sie das Gesicht aber zum zweitenmal musterte, meinte sie: »vielleicht wird sie es doch!«

Julie war bis ans Kinn gegen die rauhe Winterkälte in Pelze vermummt; ihr Vater hatte den Oberrock bis an den Hals zugeknöpft. Er grüßte Frau Mac Morlan, der auch Julie eine kurze Verbeugung machte, die ihr nicht eben schwer fiel und der Mode und dem Anstande gerecht wurde. Mannering führte darauf seine Tochter zu Lucy, die er freundlich, fast mit väterlicher Zuneigung, bei der Hand faßte, und sagte: »Hier, Julie, ist Fräulein Bertram; hoffentlich ist es unserem Freunde gelungen, sie zu einem recht langen Besuche zu bestimmen. Es wird mich sehr freuen, Julie, wenn Du dem Fräulein den Aufenthalt in Woodbourne so angenehm machen kannst, wie ich ihn zu Ellangowan fand, als ich das erstemal im Leben als Fremder in dieses Land kam.«

Julie faßte die neue Freundin liebreich bei der Hand, und Mannering wandte sich nun zu Sampson, der seit dem Eintritt des Obersten unaufhörlich Verbeugungen gemacht, die Beine gespreizt und den Rücken gekrümmt hatte, wie ein Automat, der sich so lange dreht, bis er abgestellt wird. Mannering stellte ihn seiner Tochter vor, indem er sie mit strengem Blick ansah; aber es fiel ihm schwer, das Lachen zu verbeißen, das Julie anzustimmen große Lust hatte ... »Mein lieber Freund, Herr Sampson,« hob er an; »er wird meine Bücherei in Ordnung bringen, sobald sie ankommt, und ich rechne darauf, von seiner ausgebreiteten Gelehrsamkeit großen Nutzen zu ziehen.«

Julie verlor, als ihr Vater die Stirn runzelte, die Lust zu einem Scherze, der ihr auf den Lippen schwebte, und wandte sich schnell zu Lucy. »Wir haben heute eine starke Tagreise gemacht,« sagte sie ... »Sie nehmen es mir wohl nicht übel, wenn ich mich vor Tische auf ein paar Augenblicke entferne?«

Die ganze Gesellschaft zerstreute sich bis auf Sampson, dem es nicht in den Sinn kam, sich zu anderer Zeit, als beim Aufstehen, an- und beim Schlafengehen auszuziehen. Er blieb allein und kaute an einem mathematischen Beweise, bis die Gesellschaft sich wieder versammelte, um sich ins Speisezimmer zu begeben.

Gegen Abend suchte Mannering Gelegenheit, mit seiner Tochter allein zu sprechen ... »Nun, gefallen Dir unsere Gäste, Julie?«

»O, Fräulein Bertram, ganz gut! Aber dieser seltsame Pfaffe – Lieber Vater, wer kann den ansehen, ohne daß ihm das Lachen ankommt?«

»So lange er in meinem Hause wohnt, muß jedermann Ernst in seiner Gegenwart lernen.«

»Du mein Himmel, selbst die Lakaien können nicht ernsthaft bleiben.«

»So mögen sie meine Livreen ausziehen und sich anderswo vor Lachen ausschütten. Herr Sampson ist ein Mann, den ich wegen seiner Einfalt und seines redlichen Gemüts hochachte.«

»O, auch an seiner Freigebigkeit zweifle ich nicht,« rief Julie. »Kann er doch keinen Löffel Suppe zum Munde bringen, ohne allem, was an ihm und um ihn ist, was abzugeben.«

»Du bist unverbesserlich, Julie, aber das laß Dir gesagt sein: ich erwarte, daß Du Deinen Witz ihm gegenüber in Schranken hältst und weder ihn noch Fräulein Bertram kränkst, der jede Kränkung, die ihm widerfährt, empfindlicher sein möchte als ihm selbst. Und nun, gute Nacht, meine Tochter, und laß Dir noch gesagt sein, Herr Sampson hat freilich nicht den Grazien geopfert, aber es gibt vieles in der Welt, was weit lachhafter ist als linkisches Betragen oder einfältiger Sinn.«

Zwei Tage nachher verließ Mac Morlan mit seiner Frau den Landsitz, dessen Bewohner sich bald eingerichtet hatten. Die beiden Mädchen setzten ihre Beschäftigung gemeinsam fort und amüsierten sich zusammen. Mannering nahm mit Vergnügen wahr, daß Lucy im Französischen und Italienischen gut beschlagen war, was sie Sampson zu verdanken hatte, der sich durch beharrlichen Fleiß, in aller Stille, auch mit den meisten neuern Umgangssprachen bekannt gemacht hatte. Von Musik verstand sie wenig oder nichts, aber Julie nahm es auf sich, sie darin zu unterrichten, wogegen ihr Lucy die Kunst des Reitens beibrachte, sie auch mit Bewegung im Freien vertraut machte. Mannering ließ es sich angelegen sein, ihnen solche Bücher zum Lesen zu geben, die Belehrung mit Unterhaltung verbanden, und da er selbst mit Geist und Geschmack vorlas, gingen die Winterabende angenehm vorüber.

Es fand sich auch bald Gesellschaft, wozu mancherlei anlockte. Die meisten Gutsherren aus der Nachbarschaft machten dem Obersten Besuche. Hoch in seiner Gunst stand Charles Hazlewood, der oft bei ihm war, und zwar mit Einwilligung seiner Eltern, die zu meinen schienen, Juliens indische Schätze wären ein Preis, der einiger Mühe schon wert sei. Durch diese Aussicht verblendet, übersahen sie die Gefahr, die sie schon einmal gefürchtet hatten, daß er nämlich seine Neigung der armen Lucy schenken möchte, die nichts auf der Welt besaß als ein hübsches Gesicht, gute Herkunft und ein liebevolles Herz. Mannering war umsichtiger. Er hielt es als Lucys Vormund für Pflicht, den jungen Mann von jeder bindenden Erklärung gegen ein Mädchen so lange zurückzuhalten, bis er mehr vom Leben und von der Welt gesehen und das Alter erreicht hätte, in welchem ihm ein selbständiges Urteil in einer Angelegenheit, die sein Lebensglück so nahe anging, zuzutrauen sei.

Während die Aufmerksamkeit der Landhausbewohner solchermaßen in Anspruch genommen wurde, widmete sich Sampson mit allem Eifer der bischöflichen Büchersammlung, die inzwischen von Liverpool angekommen und auf dreißig bis vierzig Karren aus dem nächsten Hafenorte herbeigeschafft worden war. Unbeschreiblich war seine Freude, als er den reichen Inhalt der Kisten auf dem Fußboden erblickte und alles in Reih und Glied aufstellte. Gleich Windmühlenflügeln schwang er die Arme, und seine Lieblingswort »Komisch! komisch!« dröhnte durch das ganze Haus. So viele Bücher, meinte er, hätte er, ausgenommen in der Bibliothek der Hochschule, nie im Leben beisammen gesehen, und berauscht von dem Gedanken, der Verwalter solch herrlichen Schatzes zu sein, kam er sich schier vor wie der Universitäts-Bibliothekar, den er immer für den größten und glücklichsten Menschen auf Erden gehalten. Seine Wonne wurde nicht vermindert, als er die Bände zu mustern und zu sortieren begann ... Manche freilich, wie Gedichte, Schauspiele, geschichtliche Denkwürdigkeiten, warf er verächtlich auf die Seite mit einem: »Bah!« oder gar: »unnützes Zeug«; – aber die meisten und dicksten Bände waren wuchtigerer Tendenz: theologische Werke, Bibel-Erläuterungen, Polyglotten, Kirchenväter, Predigten und andere wissenschaftliche Werke alter und neuer Zeit in den besten und seltensten Ausgaben. Sampson trug alles in ein Verzeichnis ein, das er zierlich und korrekt, wie ein Verliebter ein zärtliches Briefchen, schrieb, und stellte jedes Buch ehrfürchtig auf seinen Platz. Bei allem Eifer rückte aber die Arbeit nur langsam vor; denn oft blieb er mit einem Bande auf der Hälfte der Bücherleiter stehen und las darin, seiner unbequemen Stellung ungeachtet alles um sich her vergessend, bis der Diener ihn am Rockschoße zog und ihm sagte, daß man zu Tische gehe. Dann begab er sich ins Speisezimmer, schlang alles in großen Bissen hinunter, beantwortete mit Ja und Nein aufs Geratewohl jede Frage und eilte, sobald das Tischtuch weggenommen war, zurück ins Bücherzimmer.


 << zurück weiter >>