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Sechstes Kapitel.

Die verfallene Kirche von St. Rinian oder – wie der gemeine Mann sie nannte – St. Ringan, hatte sich zu jener Zeit des Aberglaubens einer großen Berühmtheit zu erfreuen; und Shetland besaß in den katholischen Zeiten seine Heiligen. Die Kirche war dicht am Meeresufer gelegen, und von allen Richtungen aus sichtbar, so daß sie gewissermaßen als Wahrzeichen für die Inselflur galt. Sie war jedoch auch im Laufe der Jahrhunderte zu einer solchen Stätte des Irrglaubens geworden, daß die Kirchenbehörde es für ratsam erachtet hatte, sie als eine entheiligte Stätte zu erklären und die öffentlichen Andachtsübungen nach einer andern Kirche zu verlegen; daraufhin war das Bleidach von dem kleinen alten Gebäude abgenommen und das Gemäuer den Elementen zum Spiel überlassen worden. Die Stürme, die vom Meere her über lange Dünen heranheulten – (denn die Gegend glich durchaus derjenigen in Jarlshof) – zerstörte gar bald Schiff und Gänge und häufte an der Nordwestseite, die den Stürmen am meisten ausgesetzt war, Wälle von Treibsand, die die Mauer bis zur Hälfte überdeckten. So verfallen aber auch das Kirchlein sein mochte, so haftete ihm noch immer kein geringer Rest von jener Ehrfurcht an, die sie ehedem eingeflößt hatte – und die rauhen, unwissenden Fischer von Dunroßneß verabsäumten noch immer nicht, wenn ihre Boote in Gefahr schwebten, dem St. Ringan eine Gabe zu geloben und, wenn die Gefahr vorüber war, einzeln und im geheimen nach dem alten Gebäude zu wandern, ihr Gelübde zu lösen.

Zu diesem in Trümmern liegenden Andachtsorte lenkte Herr Mertoun die Schritte, wenn auch in keiner frommen oder durch Aberglauben bestimmten Absicht.

Immerhin konnte er, als er sich dem Strande nahte, wo die Ruine gelegen war, nicht umhin, einen Augenblick die Schritte hemmend, sich zu sagen, daß kaum ein Ort besser zu einem Gotteshause passen könne als der hier dazu gewählte. Vor ihm lag die See, zu der hinaus zwei Vorgebirge die äußersten Punkte der Bai bildend, ihre gigantischen, finsteren Felsmassen streckten, von deren Höhen die Möwen und andere Seevögel wie Schneeflocken herabglänzten, während weiter unten ganze Reihen von Wasserraben sich wie Soldaten nebeneinander aufgestellt hatten. Sonst aber war hier kein lebendes Wesen zu schauen.

Hier hatte sich an dem Tage, an welchem Mertoun die Schritte herlenkte, eine tiefe dichte Wolkenschicht gebildet, durch die kein menschliches Auge dringen konnte, so daß der Blick über den weiten Ozean unmöglich war; da der Weg steil hinauf führte, ließ er auch keine Aussicht nach dem Innern des Landes, und so schien die Gegend eine völlige Oedenei zu sein, wo dürres Heidekraut und schilfartiges Gras die einzigen Vertreter des Pflanzenreichs waren, die sich den Blicken zeigten. Auf einer von der Natur geschaffenen kleinen Anhöhe, gerade in der Mitte der Bucht, und ein wenig von der See entfernt, so daß sie sich außer dem Bereich der Wellen befand, erhob sich die halb begrabene Ruine, von einer wüsten, halb in Schutt liegenden Mauer umgeben, die, obgleich an mehreren Stellen durchbrochen, doch noch immer den Bereich des Kirchhofs bezeichnete. Die Seefahrer, die der Zufall in diese einsame Bai geführt hatte, behaupteten: daß die Kirche dann und wann hell erleuchtet sei, und meinten, daß dieser Umstand Schiffbruch und Untergang auf der See verkünde. Als Mertoun sich der Kapelle näherte, traf er, vielleicht durchaus ohne Vorbedacht, Maßregeln, um ungesehen zu bleiben, und gelangte so zufälligerweise zuerst an die Seite der Mauer, wo sich der Begräbnisplatz befand, von dem, wie früher schon erwähnt, der Wind den Sand stellenweise fortgetragen hatte.

Als er nun durch eine von der Zeit geschaffne Oeffnung auf diese Stätte schaute, sah er diejenige Person, die er hier suchte, neben einem rauhen Grabmal knien, an dessen einer Seite der rohe Umriß eines Ritters sichtbar war, während sich an der andern ein dem neuern Brauche zuwider schräg aufgehängtes Schild zeigte, dessen Wappen selbst aber nicht mehr kenntlich war. An dem Fuße des Grabmals ruhten, wie Mertoun früher schon gehört hatte, die Gebeine von Ribolt Troil, einem durch allerhand Heldentaten berühmten Vorfahren von Magnus Troil, der im fünfzehnten Jahrhundert gelebt hatte. Norna räumte von dem Grabe des Kriegers den Sand weg: ein leichtes Stück Arbeit, da der Sand nur lose und locker dalag. Sie sang dazu, und zwar ein Zauberlied, denn ohne Runen ging es nun einmal beim nordischen Aberglauben nicht ab:

Kämpe, hochberühmt im Norden,
Ribolt, bist Du stumm geworden?
Sand und Staub und Kieselstein,
Räum ich jetzt von dem Gebein.
Als Du lebtest, war's verwegen,
An Dein Lager Hand zu legen.
Jetzt vermag selbst Kindesstreben,
Deine Decke aufzuheben.

Störe, was ich hier beginne,
Nicht durch Blendwerk meiner Sinne.
Nicht will ich Dein Grab entehren,
Frevelnd Deinen Schlummer stören.
Deine Leiche ruhe still,
Leicht gewählt ist, was ich will.
Nur von der Umhüllung Dein,
Sei ein einz'ges Stückchen mein.
Noch genug bleibt, vor den Stürmen
Rauhen Wetters Dich zu schirmen.

Meine Klinge nahet schon! –
Hast, o mut'ger Heldensohn,
Lebend nicht so still gelegen, Trat die Schärfe Dir entgegen,
Schau, die Hülle trenn ich nun,
Magst erwachen oder ruh'n. –
So, nun ist die Tat erfüllt;
Mein der Preis, mein Wunsch gestillt.

Habe Dank, die Wellen sollen
Reichen Lohn dafür Dir zollen;
Und wenn fern sie schäumend streiten,
Sanft an Deinem Grabe gleiten. –
Habe Dank, wenn Stürme wüten,
Sollen sie auf mein Gebieten, –
Ob sie heulend hierher dringen –
Nur ein Schlummerlied Dir singen.

Sie, das Weib von Wohl und Wehe!
Norna von der Fitful-Höhe,
Mächtig, ob es Tag ob Nacht,
Elend doch in ihrer Macht.
Ob Verzweiflung auch ihr Los,
Dennoch immer hehr und groß.
Was gelobend sie verspricht,
Daran, Ribolt, zweifle nicht.

Während Norna die ersten Strophen dieses Liedes sang, befreite sie den bleiernen Sarg des alten Kämpen vom Sande und löste behutsam, mit sichtlicher Ehrfurcht, ein Stück Metall davon. Dann warf sie so, daß nichts mehr verriet, daß sie den Sarg berührt, den Sand wieder darüber.

Mertoun blickte ihr, ohne seine Gegenwart zu verraten, nicht etwa aus Achtung vor ihr oder der Arbeit, die sie vorhatte, sondern weil er sich sagte, daß man eine Irre, wenn man Auskunft erhalten wolle, in ihrem Vorhaben nicht stören dürfe. Inzwischen hatte er Zeit genug, ihre Gestalt zu betrachten; denn ihr Gesicht wurde durch ihr aufgelöstes Haar und die Kapuze ihres dunklen Mantels verdeckt. Mertoun hatte schon früher von Norna gehört, ja sie wohl auch schon dann und wann gesehen, war sie doch, seit er in Jarlshof weilte, mehr denn einmal in dieser Gegend umhergewandert. Die abergläubischen Geschichten aber, die über sie im Umlaufe waren, hatten sie ihm in keinem andern Lichte als dem einer Betrügerin oder Wahnsinnigen oder als beides erscheinen lassen. Jetzt aber, da die Umstände ihn unwillkürlich auf sie hinführten, konnte er nicht als sich sagen: daß sie entweder eine echte Schwärmerin sein, oder wenigstens ihre Rolle mit so bewunderungswürdigem Geschick spielen müsse, daß keine Pythia der alten Zeit sie hätte übertreffen können. Kaum aber war ihre seltsame Arbeit verrichtet, als er auch, freilich nicht ohne mancherlei Beschwerde und Mühe, über die zertrümmerte Mauer stieg und in das Innere des Kirchhofs trat. Ohne irgendwelche Bestürzung zu zeigen oder über sein Erscheinen an der einsamen Stätte das geringste Erstaunen zu bezeigen, fragte sie ihn in einem Tone, der zu beweisen schien, daß sie ihn erwartet habe: »Also habt Ihr mich doch endlich aufgesucht?« – »Und auch gefunden,« erwiderte Mertoun, in der Meinung, die Frage, die er zu stellen habe, am besten dadurch einzuleiten, daß er in einem mit dem ihrigen übereinstimmenden Tone spräche.

»Ja!« antwortete sie, »Ihr habt mich gefunden, und zwar da, wo sich alle Menschen begegnen müssen, in der Behausung der Toten.«

»Wohl finden wir uns hier alle endlich zusammen,« entgegnete Mertoun, einen Blick auf den wüsten Schauplatz um sich her werfend, wo kaum etwas anders als halb mit Sand bedeckte, teils noch mit Inschriften und Sinnbildern der Sterblichkeit geschmückte Denksteine sichtbar waren: »hier in dem Haufe der Toten, wo glücklich diejenigen, die bald in den ruhigen Hafen gelangten.«

»Wer es wagt, nach diesem Hafen zu verlangen,« antwortete Norna, »der muß auf der Fahrt durchs Leben einen geraden Kurs gesteuert haben. Ich darf auf solch ruhigen Ankerplatz nicht hoffen; Du aber, der Du ihn begehrst, darfst Du ihn erwarten? und hat der Lauf, den Du steuertest, ihn verdient?«

»Nicht darauf zu antworten, bin ich hier,« erwiderte Mertoun, »sondern um Euch zu fragen, ob Ihr Nachricht über das Schicksal meines Sohnes, Mordaunt Mertoun, habt?«

»Ein Vater,« entgegnete Norna, »befragt eine Fremde über Nachrichten von seinem Sohne! Wie könnte ich etwas von ihm wissen? Der Wasserrabe fragt nimmer den wilden Enterich, wo weilt meine Brut?«

»Deckt Euch nicht vor mir mit dieser Geheimniskrämerei,« sagte Mertoun, »sie mag beim gemeinen Volk ihre Wirkung tun, bei mir bleibt sie fruchtlos. Die Leute von Jarlshof haben mir gesagt, daß Ihr etwas von Mordaunt wißt oder wissen könnt, der von den Johannis-Festlichkeiten im Hause Eures Verwandten Magnus Troil nicht zurückgekehrt ist. Gebt mir Auskunft über ihn, wenn Ihr es könnt, und Ihr sollt belohnt werden.« »Das weite Rund der Erde,« antwortete Norna, »hat nichts aufzubieten, was ich als eine Belohnung für ein einziges, an ein sterbliches Ohr weggeworfenes Wort betrachten könnte... Willst Du aber Deinen Sohn lebendig wiedersehen, dann finde Dich auf dem nächsten Markt zu Kirkwall auf Orkney ein.«

»Und warum gerade da?« fragte Mertoun, »ich weiß, er hatte dort nichts zu schaffen.«

»Wir alle treiben auf dem Strome des Schicksals, obgleich ohne Steuer und Ruder,« erwiderte Norna, »auch Du hattest heute früh noch nichts mit der Kirche St. Ringans zu schaffen und bist doch hier; – noch vor einem Augenblick hattest Du nichts in Kirkwall zu tun, und dennoch wirst Du Dich dorthin begeben.«

»Nicht ohne über den Grund bessere Aufklärung zu haben. Ich bin keiner von den Toren, die Euch übernatürliche Kräfte zugestehen.«

»Du sollst an sie glauben, noch ehe wir scheiden,« antwortete Norna. »Nur wenig weißt Du bis jetzt von mir, auch sollst Du über mich nicht mehr erfahren. Ich aber kenne Dich, und daß ich Dich kenne, vermag Dir ein einziges Wort aus meinem Munde zu beweisen.«

»Nun, so überzeuge mich,« rief Mertoun, »denn ohne solchen Beweis bestünde nur geringe Hoffnung, daß ich Deinen Rat befolge.«

»Gib wohl acht, was ich Dir über Deinen Sohn zu sagen habe. Was Dich selbst angeht, bleibe für später, denn es möchte Dir jeden andern Gedanken vertreiben. Begieb Dich nach Kirkwall und warte am fünften Marktage mittags im äußeren Flügel der Kirche von Magnus; dort wirst Du jemand finden, der Dir Nachricht von Deinem Sohne geben soll.«

»Du mußt deutlicher sein, Weib!« entgegnete Mertoun verächtlich, »wenn Du willst, daß ich Deinem Rate folgen soll. Oft schon bin ich von Weibern hintergangen worden, nie aber noch auf so gröbliche Weise, wie Du mich zu betrügen willens scheinst.«

»Nun, so gib acht!« unterbrach ihn die Alte, »das Wort, das ich jetzt sprechen werde, wird das tiefste Geheimnis Deines Herzens enthüllen und Dir durch Mark und Bein dringen.« – Und nun flüsterte sie Mertoun ein Wort ins Ohr, – ein einziges – das aber wie ein Zauberschlag auf ihn zu wirken schien. Bewegungslos und starr vor Staunen, blieb er stehen, während Norna, die Arme wie im Triumph erhebend, von ihm hinweg schritt und um eine Ecke der Ruine herum schnell aus seinen Augen verschwand.

Mertoun machte keinen Versuch, ihrer Spur zu folgen: »Vergebens bemühen wir uns, unserm Schicksal zu entfliehen!« sprach er zu sich selbst, als er seine Besinnung wiedergewann; und schnell wandte er der wüsten Ruine und dem Kirchhof den Rücken. Als er von dem letzten Punkte, von wo aus die Kirche noch sichtbar war, zurückblickte, sah er Nornas Gestalt, in ihren weiten Mantel gehüllt, auf der höchsten Spitze der Ruine stehen, und mit einem weißen Wimpel aufs Meer hinauswehen. Ein Gefühl von Schrecken, demjenigen vergleichbar, das bei ihrem letzten Worte durch seine Nerven zuckte, befiel von neuem seine Seele, und schnellen Schrittes eilte er vorwärts, bis er die Kirche von St. Ringan mit ihrer sandigen Bucht weit hinter sich gelassen hatte.

Als er den Fuß wieder nach Jarlshof setzte, zeigte sein Gesicht eine so auffallende Veränderung, daß Swertha ernstlich die Rückkehr eines seiner melancholischen Zufälle fürchtete.

Diese Befürchtung erfüllte sich aber nicht; Mertoun machte sie nur mit seinem Entschlüsse, sich nach Kirkwall zu begeben, bekannt, – was eine solche Abweichung von seiner gewöhnlichen Lebensweise bedeutete, daß die Haushälterin ihren Ohren nicht trauen wollte. Bald darauf kamen die Leute wieder, die er zur See und zu Lande auf Kundschaft nach seinem Sohne gesandt, sämtlich unverrichteter Sache, aber er hörte, sie ruhig, fast gleichmütig an; was aber Swertha in ihrer Ueberzeugung, daß ihm von Norna solcher Ausgang prophezeit worden, nur bestärkte.

Noch mehr aber erstaunten die Bewohner des Dörfchens, als Herr Mertoun plötzlich Anstalten traf, sich zum Markt nach Kirkwall zu begeben, da er doch bisher alle öffentlichen Versammlungen sorgfältig gemieden hatte.

Swertha zerbrach sich den Kopf nicht wenig, ohne jedoch den Schlüssel des Rätsels finden zu können; aber ihr Kummer fand erhebliche Linderung durch eine Summe Geldes, die Mertoun in ihre Hände legte, und die ihr ein Schatz dünkte.


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