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Zwölftes Kapitel

Von einem kleinen Bäumchen und einem großen Getrappel auf der Stiege. – Wie die Kinder finden, im Bett zu liegen müsse sehr schön sein. – Vom Herrn Intendanten. – Warum Frau Lederer zur Schokolade einlädt und der Arzt andere Luft verordnet. – Keines ohne das andere! – Ein unerwarteter Besuch und eine Autofahrt. – »Hurra, in die weite Welt!« – Schmalzküchlein im »Salettl«.

Es war Heiliger Abend, und unter dem kleinen Baume lagen außer Jules Jacken, die einen stürmischen Jubel hervorriefen, schöner roter Wollstoff für Winterkleider von Fräulein Bland und gleichfalls von weißer Wolle gestrickte Mützen von der Großmutter.

»Das soll wenig sein?« sagte das Lenerl immer wieder, und die Miezel freute sich auch sehr. Aber ein recht wehmütiger Zug lag doch auf dem sonst so fröhlichen Gesichtchen. Großmutter war in der Küche und richtete das Abendbrot, – Reisbrei mit sehr viel Zucker und Zimt darauf.

Da stolperten viele Tritte die Treppe herauf, und es war, als ob ein ganzes Regiment Soldaten käme. Was nur das sein mag? dachte die Großmutter und öffnete die Glastüre. Da stand es ganz schwarz von lauter jugendlichen Gestalten, und Frau Friedemann sagte ganz verblüfft: »Ja, was ist denn das? Kommt denn da eine ganze Schule?«

»Ja, die Ballettschule!« antwortete frisch ein etwas größeres Mädchen. »Wir möchten nur gern der Miezel Moosbrugger heute abend etwas bringen. Es ist gestern Bescherung für uns gewesen wie alle Jahre im Übungssaal. Und da gab mir Fräulein Balbi Miezels Teil und sagte, ich dürfe ihn herbringen. Da haben die andern alle gesagt, sie wollten auch mit, und weil wir die Miezel jetzt schon so lange nicht mehr gesehen haben, und weil sie uns dauert, und weil ...« Das Mädchen schluckte – es war die Milli Mayer, die nicht immer nett gegen Miezel gewesen, die auch nicht gerade die bravste unter den Kindern war, aber sie mochte gerade heute gerne etwas tun, und wenn's nur aus Neugierde war, zu sehen, wie es der jungen Kollegin gehe. Und nun, indem sie noch fragte: »Dürfen wir hinein?« schob sich die ganze Schar hinter ihr drein durch die von Frau Friedemann geöffnete Türe.

»Jetzt, Miezel, schau nur, was du da für Besuch bekommst! Eine ganze Stube voll – sieh nur!«

Die Miezel aber hatte mit weit geöffneten Augen alle die Hereingekommenen erkannt, und sich halb aufrichtend rief sie: »Ach, ist's denn möglich, meine ganze Schule? Alle kommt ihr zu mir? Ja, mußt ihr denn jetzt nicht zu Hause und bei eurer Bescherung sein?«

Da sagten ein paar Mädchen, die zu ihren nächsten Bekannten gehörten und sich zu ihr herandrängten, daß sie das freilich müßten, daß sie deshalb auch nur ganz kurze Zeit bleiben könnten, daß sie aber gerade heute abend sie doch gern begrüßt und ihr gesagt hätten, daß sie fehle, und daß Herr Bruckmann sagen lasse, sie solle jetzt nur bald wieder gesund werden. Nun drängten sich alle die Kinder, etwa fünfzehn an der Zahl, – sie waren im Alter von vier bis zwölf Jahren –an Miezels Bett, und ein jedes hatte, sauber in ein Papierchen gewickelt, ein paar von den gestern bei der Bescherung erhaltenen Weihnachtsgutschein in der Hand. »Da!– da!«

War das nett und eine Freude! Die Kinder wußten in aller Eile viel zu berichten, was sie inzwischen gelernt hatten, wie streng Herr Bruckmann oft sei beim Einüben von dem neuen Tanz, der einen so arg müde machte, wie sie ihn jetzt aber flott könnten, und wie sie nun vierzehn Tage Ferien hätten und recht ausruhen wollten.

»Du hast's eigentlich arg gut, Miezel, daß du nur so im Bett liegen darfst«, sagte eines der Mädchen, das zu den Faulen gehörte. Wer die andern meinten, es sei doch besser, tanzen als liegen zu müssen. Dann aber verabschiedeten sich alle die jungen, in warme Kapuzen, Tücher und Mäntel gehüllten Mädchen, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, war es Miezel zumute, als hätte sie geträumt und sei nun wieder aufgewacht, so leer war plötzlich die Stube. Alle die kleinen Päckchen lagen auf ihrer Bettdecke, und Lenerl half sie auspacken; es gab einen ganzen Teller voll.

Aber der gutgemeinte Besuch hatte Miezel eher traurig gemacht, und als die Großmutter und Lenerl nachher am Tische saßen und jedes, auch die Kleine im Bett, seinen Teller voll guten Brei vor sich hatte, da sagte die Großmutter: »Das war doch herzig, daß die Kinder kamen. Hat dich denn der Besuch nicht gefreut?«

Aber es wurde ihr und dem Lenerl weh ums Herz, als die Miezel mit stockender Stimme sagte: »Doch, aber besser wär's gewesen, sie wären nicht gekommen.'«

Frau Friedemann verstand das Kind, und leise seufzend räumte sie die Teller zusammen. Da aber gab's noch eine Überraschung. Wieder polterte es die Treppe herauf, doch diesmal schienen's nur zwei Füße zu sein, und es klopfte stark an die Türe.

»Herein!« rief die Großmutter.

Den Schnee von sich abschüttelnd – denn es schneite draußen in dichten Flocken – stand der Theaterdiener unter der Tür.

»Was tun Sie da, Schwarzmann?« fragte fast erschrocken die Großmutter. Der aber legte einen großen Brief auf den Tisch und sagte in feierlichem Tone: »Von dem Herrn Intendanten hab' ich dies hier zu überbringen.«

»Ach, du mein Gott!« konnte die Großmutter nur sagen und sank ganz erschöpft auf den nächstbesten Sessel nieder. Sie glaubte nichts anders, als der Brief müsse irgend etwas Schreckliches enthalten. Trotzdem aber suchte sie einen Zehner in ihrem Beutel und gab ihn dem Diener, der sich inzwischen nach Miezels Befinden erkundigte. Auch er hatte zwei Kinder in der Ballettschule.

»Den Puck und den Spatz bringt halt keine so hin wie du, das ist unser aller Ansicht«, sagte er gutmütig. »Na, vielleicht kann bis nächstes Jahr meine Elsa das dann machen, wenn dein Fuß nicht mehr recht werden sollte!« fügte er, gar nicht mehr so gutmütig, mit unbeabsichtigter Rücksichtslosigkeit hinzu und ging dann alsbald wieder fort.

Frau Friedemann aber suchte erst ihre Brille, denn der Brief mußte doch gelesen werden. Das Lenerl drängte sich dazu, die Miezel schaute mit erschreckten Augen drein, und der Großmutter schoß allerlei durch den Kopf. Wenn drin stände, daß man sie nicht mehr brauchen könnte? ... War es doch ein paarmal in letzter Zeit vorgekommen, daß sie etwas übersehen und überhört hatte. Und einmal sogar, als sie Milli Mayer an ihres Miezeles Stelle sah, da hatte sie das Soufflieren einen Augenblick ganz vergessen, und der Regisseur hatte nachher zu ihr gesagt: »Frau Friedemann, – aufpassen! Besser aufpassen! Sie dürfen sich nicht gehen lassen!«

Mit zitternden Händen zog sie aus ihrem Strickzeug, das auf dem Tische lag, eine Nadel und öffnete nun den Brief. Was fiel ihr da zuerst in die Augen, daß sie die Brille noch einmal abnehmen und putzten mußte, weil sie glaubte, sie sei trübe? Zwei Hundertmarkscheine– auf jedem deutlich gedruckt: Hundert Mark! Und so zwei Scheine!

Was bedeutete das? Das Gehalt war doch erst vorgestern ausbezahlt worden? Nun las sie das Schreiben, das aus der Kanzlei der Intendanz stammte und lautete:

Euer Wohlgeboren teile ich mit, daß in Anbetracht Ihrer nun fünfjährigen Dienstzeit, in der Sie zur Zufriedenheit Ihrer Vorgesetzten Ihres Amtes walteten, die Theaterleitung sich entschlossen hat, Ihnen künftig Ihr Gehalt um zwanzig Mark monatlich zu erhöhen. Ferner hat die Intendanz beschlossen, Ihnen aus Anlaß des bedauerlichen Mißgeschickes, das Ihre talentvolle Enkelin Miezel Moosbrugger betroffen, ein Geschenk von zweihundert Mark zu bewilligen, das ich hiermit die Ehre habe Ihnen zu übersenden.

Mit ausgezeichneter Hochachtung!

Da saß die Großmutter und wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen. Zweihundert Mark in der Hand, – zwanzig Mark Zulage monatlich, – das war ein Reichtum, den Frau Friedemann gar nicht fassen konnte. Nun war sie ja auf einmal der drückendsten Sorgen enthoben! Es war, als ob ihr ein großer, großer Stein vom Herzen fiele. Und weil das eine plötzliche Entlastung war, so mußte sie wirklich zuerst vor allem andern schluchzen und weinen, ehe sie lachen und sich freuen konnte. Das Lenerl legte die Arme um sie und weinte zur Gesellschaft auch mit. Nun war's aber die Miezel, die sich furchtbar freute, und jauchzend erzählte sie Fräulein Bland und Jule, die beide noch geschwind gekommen waren, daß nun doch ihr Fall zu etwas gut gewesen sei. Die Großmutter habe zwei Hundertmarkscheine dafür bekommen, und nun wolle sie auch ganz gewiß wieder brav und geduldig liegen bleiben und abwarten, bis der dumme Fuß wieder gut sei.

»Wer weiß, wozu die Fallerei überhaupt sonst noch gut war«, sagte der Großvater, als Jule ihm von dem glücklichen Ereignis erzählte, und die beiden sprachen noch lange darüber, wie wunderbar oft Gottes Wege seien, und wie der liebe, treue Vater im Himmel ein jedes seiner Schäflein zu sich ziehe, – die Hauptsache sei, daß es seine Stimme höre, folge und komme. –

Der Winter verging, und die Bäume fingen an zu sprossen. Auf dem Markte unten wurden zuerst Schneeglöckchen und Veilchen und dann Schlüsselblumen verkauft, die Mieze! konnte nach und nach wieder gehen, und die Großmutter führte sie die Treppe hinunter und unten in der Sonne auf und ab.

Frau Lederer war aus dem Laden herausgekommen, als sie der so lange krank Gewesenen ansichtig ward, und hatte gesagt: »Das freut mich aber, daß du wieder herunter kannst! Hast lange genug daran glauben müssen! Ein bißchen schwach fühlt man sich immer, wenn man so lange Zeit gelegen hat, gelt? Drum lade ich dich ein, daß du nachher mit deiner Großmutter zur Stärkung eine Schokolade bei mir trinkst.«

Das war sehr viel von Frau Lederer, die nicht gerade gern gab und noch seltener jemanden einlud. Großmutter und Miezel kamen sich daher ganz merkwürdig, wie verzaubert vor, als sie drinnen an dem Marmortischchen saßen und die Hausbesitzerin ihnen in schöne, goldgeränderte Tassen den braunen Trank einschenken ließ und selber dazu in einem silbernen Körbchen allerlei seine, leckere Kuchen brachte. Als die beiden sich für die freundliche Bewirtung bedankt hatten und die Großmutter beim Aufstehen die Miezel noch ein wenig unterstützte, da sagte Frau Lederer: »Ganz gut geht's noch nicht. So sehr bald wirst du noch nicht wieder tanzen können.«

»Ich hoffe doch«, sagte das junge Mädchen in etwas unsicherem Ton. »Gelt, Großmutterl, ich mach' jetzt doch große Fortschritte? Gelt, Großmutterl, in der Wohnung kann ich schon ganz gut ungeführt gehen?«

Ja, die Heilung des Knöchels machte Fortschritte, sogar bedeutende, so daß sich der Arzt, der noch hie und da kam, sehr befriedigt äußerte und meinte: »Wenn's so weitergeht und du keine frühzeitigen Hopser und Sprünge machst, so hoffe ich, daß du nach Schluß der Ferien Anfang September deinen Beruf wieder antreten kannst. In die Schule darfst du jetzt ruhig gehen. Nur rate ich dir, anfangs noch einen Stock zu nehmen, denn der Knöchel ist doch noch sehr schwach, und der Fuß könnte leicht wieder umkippen. Bist überhaupt ein arg dünnes, mageres Persönchen und dabei durch das lange Liegen unnötig in die Höhe geschossen. Wie wär's, Frau Friedemann, wenn Sie alle zusammen in eine bessere Luft gingen? Dem Lenerl und Ihnen tät's auch gut, wenn Sie die langen, heißen Sommerwochen nicht gerade hier mitten in der Stadt verbringen würden.«

Die Großmutter dachte im stillen: Du hast gut reden. Ach ja, das wäre freilich herrlich! Aber laut sagte sie: »Das Lenerl und ich sind ja gesund und brauchen keine Erholung. Unserer Miezel freilich, der würde ich es gönnen, daß sie fortkäme, und wir wollen sehen, ob sich's ermöglichen läßt.«

Lange überlegte die Großmutter, ob und wie sie das machen könnte, und jeden Tag fragte die Miezel: »Großmutter, ist dir noch nichts eingefallen: Großmutter, wär's denn ganz unmöglich, daß ich ein wenig nach Bergwies könnte! Die Nandl hat mich doch so dringend eingeladen! Aber euch hier lassen, das täte ich nicht, ich hätte auch gar keine Freude, und es würde mir gar nichts nützen! Ist denn das Reisen so schrecklich teuer? Großmutter, wenn wir dort in einem ganz kleinen Häuschen eine ganz, ganz einfache Stube finden könnten, würde denn das so gar viel kosten? Du hast doch immer erzählt, wie billig alles in Bergwies ist. Und ob wir hier essen oder dort, ist ja doch dasselbe. Großmutterl, ach bitte, schreib doch und frag die Nandl, ob's nicht so etwas Billiges, Kleines dort gibt. Denn das sag ich dir: Ohne euch gehe ich ganz gewiß auch nicht fort!«

So plauderte die Kleine fort. Lenerl hegte glühend dieselben Wünsche, aber hauptsächlich auch für die Großmutter, weil dieser der sorgenvolle Winter doch sehr zugesetzt hatte. Und der Großmutter hinwiederum war ein neuer Stachel ins Herz gekommen, weil Frau von Lützow ihr neulich bei einer Begegnung auf der Straße gesagt hatte: »Unser Lenerl macht mir ein bißchen Sorge. Es steht blaß und elend aus. Ich glaube, es lernt zuviel!«

Frau Friedemann rechnete und rechnete. Das stimmte, der Aufenthalt dort wäre wohl schon zu erschwingen gewesen.

Aber wie kamen drei Personen dorthin?

Harmlos erzählte Lenerl ihrer Olli, die wiederholt gefragt hatte, ob sie denn nicht auch in eine Sommerfrische gingen, davon, und daß Eisenbahnfahren eben etwas sehr Teures sei und daß daran die Sache scheitere.

Sehr bald sollten die Sommerferien beginnen. Am Theater hatten sie schon vorher angefangen, und da und dort reisten schon ganze Familien in die Berge, an die See, in allerlei Bäder. Die Kinder in den Schulen unterhielten sich über die Reisepläne ihrer Eltern. Viele durften mitgehen und freuten sich schon darauf. Andere wollten zu Verwandten reisen. Olli und ihre Mutter wollten einen längeren Aufenthalt im südlichen Tirol nehmen, wohin der Vater, der erst später Urlaub haben konnte, nachkommen sollte. Olli freute sich furchtbar auf diese Reise, die im eigenen Auto vonstatten gehen sollte, und je mehr sie sich selber freute, in die Berge zu kommen, desto mehr bedauerte sie die Freundin.

»Mama, mein Lenerl tut mir schrecklich leid, daß es allein von allen in der Klasse daheim bleiben soll, – sie und die Miezel und die Großmutter! Wenn doch der Zeppelin käme und sie mitnehmen würde, denn Lenerl sagt, wenn sie nur hinfliegen könnten, statt auf der teuren, ihnen unerschwinglichen Eisenbahn fahren zu müssen. In Bergwies, weißt du, da, wo sie einstens gewohnt haben, und wo ihr kleiner Bruder bei dem Bürgermeister ist, da wäre dann alles gut, dort sei es furchtbar billig zu leben.«

»Bergwies?« fragte Frau von Lützow. Und noch einmal: »Bergwies?« Sie besann sich eine Weile und ging nachher zu ihrem Mann hinüber, mit dem sie eine kurze Unterredung hatte. Als sie herüberkam, strahlte ihr freundliches Gesicht, und sie ließ sich von der Dienerin Hut und Jacke bringen. Olli nickte sie nur geschwind lächelnd zu und sagte: »Ich muß einen Ausgang machen. Wenn ich heimkomme, kann ich dir vielleicht etwas erzählen, was dich freut.« Fort war sie, und Olli besann sich vergebens, was das wohl sein könne.

Frau Friedemann saß – es war am Nachmittag – an ihrem Arbeitstisch und verlängerte die ausgewachsenen Sommerkleider der Mädchen vom vorigen Jahr. Lenerl machte am Eßtisch ihre Aufgaben, und Miezel lag lesend auf dem Sofa. Das verlangte der Doktor immer noch, daß sie es zeitweise tue. Da läutete es, und als Frau Friedemann die Glastüre öffnete, trat zu ihrem Erstaunen Ollis Mutter, Frau von Lützow, ein.

»Ich störe doch nicht? Darf ich einen Augenblick eintreten?«

Nachdem sie dem rasch einen Stuhl herbeiholenden Lenerl gedankt und sie freundlich begrüßt hatte, setzte sie sich neben Frau Friedemanns Arbeitstisch und sagte: »Ich möchte gleich mit einer Bitte herausrücken, Frau Friedemann, deren Erfüllung mir und Olli große Freude machen würde. Ich hörte, daß Sie halb und halb die Absicht haben, nach Bergwies mit Ihren Enkeln zu fahren. Da nun das Schütteln auf der Eisenbahn dem Fuß Ihrer Enkelin doch nicht ganz gut tun konnte, so möchte ich Ihnen vorschlagen, ob Sie drei nicht mit mir und Olli übermorgen in unserem Auto bis an der Kinder Heimatort fahren wollten. Unser Weg geht sehr nahe vorbei, und Platz haben wir auch zu fünft. In einem halben Tag sind wir dort, und so brauchen Sie nur ja zu sagen, und ich eile nach Hause, um meiner Olli die frohe Botschaft zu bringen.«

Die Großmutter war anfangs ganz sprachlos über so etwas gänzlich Unerwartetes. Konnte, durfte sie denn das annehmen? Als sie aber in die strahlenden Gesichter der beiden Kinder sah und Frau von Lützow scherzend sagte: »Mir kommt's vor, als ob die zwei dort drüben nicht abgeneigt wären«, da konnte Frau Friedemann vorerst nur »Vergelt 's Gott, ach, vergelt's Gott tausendmal!« stammeln, denn diese unerwartete Erfüllung ihrer größten Wünsche kam zu plötzlich. Dann aber, als der Kinder ausbrechender Jubel einigermaßen verstummt war, erzählte sie mit wenig Worten, welch große Last ihr durch dieses gütige Anerbieten von der Seele genommen werde. Sie erzählte auch im Laufe des Gesprächs der gütigen, teilnehmenden Dame von ihrem und der Kinder Geschick, und wie sie, getrieben durch die Verhältnisse, alle drei zum Theater gekommen seien.

Mit Rührung hörte Frau von Lützow zu. »Sie sind eine wackere, mutige Frau«, sagte diese, und mit gegenseitigem warmen Händedruck schieden die beiden voneinander.

»Also übermorgen um acht Uhr in der Frühe wird das Auto vor eurem Hause sein!« hatte die Dame noch draußen zum Lenerl gesagt.

War denn das nicht ein Traum? War denn das nicht ein Märchen, was da so plötzlich in die Stube gekommen war?

Fräulein Bland und Jule meinten, es brenne, so laut schrien die Kinder: »Kommt, bitte, bitte, kommt, aber gleich!« Und als sich diese treuen Hausgenossen wirklich innigst und aus tiefstem Herzen über diesen Glücksfall gefreut hatten, da ward auch dem Großvater und schließlich noch Frau Lederer die wunderbare Neuigkeit gebracht.

Der alte Mann meinte scherzend: »Habt ihr nicht auch noch ein Plätzchen für mich? Könnt ihr mich und Jule nicht auch noch mitnehmen?«

Frau Lederer aber war zuerst hocherstaunt und dann sichtlich geschmeichelt, daß ihren von ihr immer noch nicht ganz als voll anerkannten Hausleuten eine so große Ehre zuteil wurde. Frau von Lützow war ja eine der besten und vornehmsten Kunden.

Als zwei Tage nachher wirklich das schöne, herrschaftliche Auto vor dem Hause hielt, als die drei in ihren besten Kleidern und netten Reifehüten mit Schleiern, die Fräulein Bland gespendet hatte, einstiegen und das bescheidene Reisegepäck untergebracht war, da trat Frau Lederer aus dem Laden und brachte mit sichtlicher Befriedigung darüber, daß sich eine Anzahl Zuschauer eingefunden hatte, für jeden der drei Reifenden ein Schächtelein mit Schokolade »Für die Reise!« – »Von unserer Jule eingewickelte Täfelchen«, sagte die Miezel voll Stolz. Zuerst mit lautem Geratter, dann fast lautlos flog das Auto um die Ecke und durch die Straßen bis zum Lützowschen Hause, wo Olli mit lautem Jubel nebst ihrer die Reisegenossen herzlich begrüßenden Mutter einstieg. »Waren das denn nicht die Moosbruggers mit ihrer Großmutter?« fragten sich zwei junge Mädchen, die da gingen. Es war Lilli von Redern und Esther Mayer, die zufällig vorbeispazierten und einen Augenblick auf dem Bürgersteig stehen bleiben mußten, bis Diener und Jungfer das seine Gepäck herausgetragen und untergebracht hatten. Die Mädchen grüßten natürlich und Olli rief voll freudiger Aufregung: »Lebt wohl! Wir machen zusammen eine schöne Reise!«

Die beiden schauten verdutzt drein. Und als Olli noch rief: »Hurra – nun geht's in die weite Welt!« und das Auto nun wirklich mit allen Insassen die Straße hinabsauste, da sagte Esther verwundert: »Kannst du so was begreifen?«

Lilli aber antwortete gar nichts, denn ihr Herz war voll Neid. Was hätte sie darum gegeben, nur auch einmal bei den Lützows eingeladen zu werden, und nun nahmen die auch noch diese ganz unmögliche Familie mit auf die Reise! –

Es war Nachmittag, da ging die Frau Bürgermeister in Bergwies geschäftig von ihrem Haus bis zu dem auf einer prächtigen Wiese gelegenen »Salettl« – einem Gartenhäuschen – hin und her. Sie hatte dort mit ihrem feinsten Linnen und farbigsten Geschirr einen einladenden Kaffeetisch gerichtet, denn nicht nur die Großmutter und die Schwestern von ihrem Fritzel sollten gebührend empfangen werden, sondern auch die vornehmen Herrschaften, mit denen sie fuhren, wollten hier einen Halt machen und Kaffee trinken. Goldgelbe Butter und ein Teller mit Honigwaben stand da, und in die Kanne goß sie eben den berühmten Rahm, von dem Fritz damals erzählt hatte, er sei so dick, daß der Löffel darin stehen bleibe. Dazwischen sprang sie geschwind noch einmal hinüber zum Alois Prentl, der von seiner offenen Werkstätte aus rief: »Jetzt werden's wohl bald komm'n!«, und der in einem ihm gehörigen kleinen Hinterhäuschen zwei Stuben für die zu Erwartenden gegen billiges Entgelt zur Verfügung gestellt hatte.

»Ganz Fremde möcht i nit in mei'm Eigenen hob'n. Aber dem Buben die Seinigen mög'n meinetweg'n ein bisserl da hausen. Wann die Mädln nit gar zu wild san, so soll mir's schon recht sein!«

Die Nandl hatte versprochen, für alles zu sorgen, denn Herr Prentl war unverheiratet, und er sollte keine Mühe haben. So sah sie noch einmal nach, ob auch gewiß Wasser in den Kannen sei, schüttelte von neuem die mächtigen Federdecken auf und stellte einen kleinen Strauß Levkojen aus ihrem Gärtchen in die Mitte des Tisches. Sie selber hatte die Angehörigen ihres Fritzels leider nicht aufnehmen können, da sie ihre Gaststuben schon seit ein paar Wochen an zwei Damen vermietet hatte.

Wieder stand sie auf der grünen Wiese und sah die Straße entlang. Der Fritz stand ein wenig weiter unten auf einem kleinen Hügel zur Ausschau. Und nun tutete etwas aus der Ferne, nun hörte man ein Knattern, und nun schwenkte Fritzel seinen grünen Hut mit der langen Feder. Und indem er sein geliebtes »Juchhu!« erschallen ließ, rannte er, sich fast überpurzelnd, hinab zur Landstraße, dem Auto entgegen, und dann wieder voraus, aus Leibeskräften schreiend: »Sie kommen! Sie kommen!«

War das eine wunderbare, herrliche Fahrt gewesen, über Täler und Höhen, durch Wiesen und Wälder, mitten durch Dörfer und Städte, wo die Menschen, kleine und große, beiseite standen und sich gewiß sagten: »Haben's die gut, die da drinnen sitzen.« Olli war ebenso glücklich wie die zwei Gefährtinnen, denn sie hatte noch die besondere Freude, diesen die weite Welt zeigen und erklären zu dürfen. Und die beiden Damen erquickten sich an der Freude der Kinder. Dann um Mittag kam ein großer Eßkorb zum Vorschein, in dem sich herrlich belegte Brote, Eier und süßer Wein befanden, und die Mündlein schmausten, die Augen leuchteten und die Schleier flogen. Über Brücken, gewölbt über gewaltige Flüsse, ging es zeitweise mit der Eisenbahn um die Wette. In der Ferne erschienen blaue Berge, die höher und Immer höher wurden, und auf einmal war man mitten in ihnen drin, und sie schlössen sich als Schluchten und öffneten sich wieder in liebliche Täler mit reizenden kleinen Häusern. Und auf einmal rief Lenerl: »Großmutter, da war's, wo wir schon einmal gefahren sind! ... Da ist's, wo wir mit den Eltern gewohnt haben!«

Und die Miezel mußte es glauben, denn sie war damals noch zu klein gewesen, um eine Erinnerung daran zu haben. Der Großmutter wurde bei allem Freuen das Herz schwer, als sie sich dem Orte näherten, wo sie einstens vor vielen Jahren mit ihrem Mann auch in der Sommerfrische zum Malen gewesen, wo ihre Einzige – ein bißchen gegen den Willen der Eltern, die lieber einen von der Stadt gehabt hätten – den Kramer-Philipp liebgewonnen und sich mit ihm verlobt hatte. Und hier war's, wo die beiden einen bescheidenen, aber glücklichen Haushalt geführt, wo sie, die noch jungen Leute, einen so frühen Tod gefunden hatten.

Aber über dem lauten, glückseligen »Juchhu!« ihres Fritzels, den sie sofort erkannte, mußten nun der Großmutter schwere Gedanken weichen. Und als das Auto mit einem jähen Ruck vor dem Bürgermeisterhause hielt, aus dem der Hausherr hervortrat, und vor dem die Hausfrau in ihrem schönsten Staate knicksend stand, da war nur eitel Jubel und Freuen, und der Fritz flog der Großmutter so stürmisch um den Hals, daß sie nur immer wieder rufen mußte: »Du drückst mir ja den Hals zu! Ich ersticke! Fritzel, um Gottes willen, mein Hut!«

Fritz wurde nun in aller Form Olli und ihrer Mutter vorgestellt, und gleich darauf saß die ganze Gesellschaft um den runden Tisch im »Salettl«. Die Magd brachte den dampfenden Kaffee und kaltes Quellwasser, und die Frau Bürgermeister trug eine mächtige Platte mit ganz frisch gebackenen Striezeln – etwas köstlich knusprig Braunem, dick mit Zucker und Zimt Bestreutem. Leider konnten sich Frau von Lützow und Olli nur kurze Zeit aufhalten, denn für sie ging die Reife noch weit. Aber sie fuhren nicht ab, ohne sich noch die gemütlichen kleinen Stuben angesehen und auf Fritzens dringenden Wunsch auch noch einen Blick in die Werkstätte des Prentl-Alois geworfen zu haben. Dann kam der Abschied, wo die Großmutter wieder nichts als: »Vergelt's Gott« und: »Ohne Ihre Güte wären wir nie hierher gekommen!« stammeln konnte.

Und wieder fauchte das Auto von dannen, und Tücher wehten, bis es um eine Bergwendung verschwand.

Dann erst wurden so recht Fritz und die Nandlbas und der Herr Vetter begrüßt, sowie der Knecht und die Magd und alles im Haus in Augenschein genommen. Auch die Hühner, die Gänse, die Schweine besichtigte man, sowie mit besonderer Gründlichkeit Fritzens Hasen und Meerschweinchen. Und dann wurden die Gäste mit einer gewissen Feierlichkeit in den Stall zu den Kühen und Pferden geführt, und der Bürgermeister sagte: »Wenn die Heuernte vollends vorüber ist, so spannen wir das Kütschlein an, und ich fahr' euch ein bisserl in der Umgebung herum.«


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