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Elftes Kapitel

Von einem vergeblich gemachten weißen Kleide und einem Diener mit Goldknöpfen. – Eine Schule, in welche die Schneeberge hineingucken. – Miezel kriegt Nerven. – Lenerl lernt erkennen, daß es überall böse und gute Kinder gibt. – Von der Himmelsleiter ins Bett. – Vom Flederwischle, und wie es nicht weiter kann. – Jule strickt weiße Jacken.

Das Mittagessen verlief ziemlich still, denn weder die Großmutter noch Lenerl sprachen viel. Erstere besann sich immer, was denn dem Kinde wohl fehlen könne, und Lenerl mußte noch immer schlucken, um die Tränen nicht hervorbrechen zu lassen.

Nur die Miezel schwatzte von einem neuen Schritt, den sie gelernt, und von dem schönen Anzug, den Lenerl bekommen, und über den sie sich, mit einem ganz klein bißchen Neid, doch freute.

Das Essen war vorbei, und Lenerl erwog eben, ob sie nicht geschwind zu Fräulein Bland hinübergehen und dort ihr Herz ausschütten solle. Da läutete es an der Glastüre, und die Miezel sprang hinaus. Ganz aufgeregt kam sie wieder herein und sagte: »Ein prachtvoller, wunderschöner Diener mit Goldknöpfen und einem Hut steht draußen und bringt diesen Brief an Fräulein Lenerl Moosbrugger. Von wem der nur sein mag?«

Von wem?

Lenerl nahm ihn in Empfang und riß den kleinen, hellrosa, mit einer Krone geschmückten Umschlag auf.

Und sie las:

Mein liebes Lenerl!

Da wir beide morgen nicht bei dem Redernschen Gartenfest sein werden, so will meine Mama mir eine andere Freude machen und bittet Dich, zu mir zu kommen. Sie läßt Dich fragen, ob Du nicht Lust hättest, mit uns eine Spazierfahrt zu machen, an deren Schluß sie uns den Tiergarten zeigen möchte. Sie empfiehlt sich Deiner Großmutter und läßt sie bitten, dies zu erlauben. Und dann komm Punkt vier Uhr zu Deiner Dich herzlich liebenden

Olli von Lützow.

Die Großmutter und Miezel hörten ganz erstaunt zu, und erstere sagte: »Gib mir doch das Briefchen noch einmal her, ich versteh's ja gar nicht! Bist du denn nicht zu der Lilli eingeladen?«

Da aber sagte Lenerl: »Großmutter, davon sprechen wir nachher, der Diener wartet draußen. Zu Lilli bin ich nicht geladen. Aber wenn du's erlaubst, so möchte ich sehr gern zu Olli gehen.«

Und als die Großmutter meinte: »Natürlich erlaube ich dir's, Kind, wenn mir auch solche seine, vornehme Bekanntschaften ein bißchen peinlich find.« Da lief das Lenerl hinaus, bat den Diener, einen Augenblick in den Flur einzutreten und zu warten, und mit fliegender Feder schrieb sie auf ein kleines Kärtchen die paar Worte:

»Großmutter erlaubt's, und ich komme so gern, – ach, so gern!

Lenerl.«

Nun mußte es doch dazu kommen, daß das Lenerl klarlegte, was sich heute in der Schule abgespielt hatte. Die Großmutter sagte nur: »Das hättest du mir gleich erzählen können. Das nehme ich nicht übel; denn die Ansichten in der Welt über Stand und Beruf sind ja so verschieden.«

Dem Lenerl aber ging diese Erfahrung lange nach, obgleich noch nachträglich von Lilli eine Einladung gekommen war, für die sie natürlich dankte, und obgleich die andern Mädchen sich Mühe gaben, ihr zu helfen, den häßlichen Vorfall zu vergessen.

Die Großmutter hatte heute einen lieben Brief von Fritz erhalten. Noch immer fühlte sie Heimweh nach dem Buben. Aber wenn einem so befriedigt und vergnügt geschrieben wurde, so durfte mau über eine Trennung nicht mehr seufzen. Der Brief des Buben hatte folgenden Inhalt:

Mein liebes Großmutterl!

Mir geht es ausgezeichnet. In die hiesige Schule gehe ich viel tausendmal lieber als in die in St. Wenn man dort die Fenster aufgemacht hat, dann sind graue Mauern dagewesen, und hier schauen die Schneeberge herein. Das Aufpassen ist dort wie hier schwer, aber ich gebe mir Müh', weils den Herrn Vetter und die Frau Bas freut, und weil ich auch nicht mehr so viel Kopfweh habe. Der Herr Lehrer sagt, wenn ich so fort mache, so könne er mir ein gutes Zeugnis geben. Das schreibe ich bloß, weil ich weiß, daß es auch Dich freut. Alle Leute im Städtchen sind gut zu mir, weil sie doch die Eltern noch gekannt haben, und die sind noch in sehr gutem Andenken. Auf dem Grabe haben wir den ganzen Sommer Rosen gepflanzt, und jetzt gibt's Dahlien und Astern. Aber nun was noch Schöneres: Weil durch den Schnee die Namen auf dem Kreuz ganz verwischt waren, so ist der Alois Prentl letzte Woche mit mir hinausgegangen und hat sie wieder aufgefrischt. Dann aber hat er mir einen Pinsel gegeben, und ich habe ganz allein unten hin am Kreuz ein rotes Herz und die Anfangsbuchstaben von uns Kindern malen dürfen, was so viel heißt, daß wir die Eltern nicht vergessen haben. Der Prentl-Alois überhaupt! Zu dem laufe ich hinüber, so oft ich nur kann. Der Vetter sagt, es sei zu oft, weil ich doch auch der Nandlbas im Garten und im Stall helfen soll, und das tu ich doch auch gern. Aber das andere noch lieber. Buben und Dirndl gibt's hier genug zum Spielen, und rennen und laufen kann man bis an den Wald und weiter, einfach bis man eben nicht mehr kann. Wenn ich da au die Stelle vor dem Haus am Platz unten denke, wo einem die Füße eingeschlafen sind, alleweil auf demselben Fleck! Aber, Großmutterl, ich denk trotzdem viel an Euch. Ist die Luft in dem Kasten immer noch so dick und schlecht? Lernen die Theaterleut' immer noch so schlampig, daß Du Dich halbtot schreien mußt? Muß der Großvater immer noch so arg husten? Wenn er nur von unserer guten Milch hätte! Die schmeckt doch ganz anders, wenn die Kühe werden dürfen. Gibt's bei der Jule gegenwärtig recht viel Abfall? Ui, das ist allemal sein gewesen, – so was Gutes gibt's dann hier wieder nicht. Das Lenerl beneide ich nicht um ihre vornehme Schule, da tät ich nicht hinpassen. Und die Miezel noch weniger um ihr Gehopse. Schuhplattln, ja, das kann ich sein, das ist was anderes, als wenn wir damals in der Ballettschule all das schnurrige Zeug machen mußten. Ich laß den Herrn Bruckmann und die Fräulein Balbi grüßen, – freundlich sind sie alleweil gewesen, obgleich ich nichts gekonnt hab'. Und tausend Millionen Grüße der Fräulein Bland und allen im Hans, und vor allem meinem lieben Erich. Ich zähl' die Tage bis Weihnachten, wo er doch versprochen hat, wiederzukommen. Hurra, wird das fein werden! Jetzt, Großmutterl, muß ich schließen, die Bas und der Vetter wollen bald einmal schreiben, und ich bin

Dein ewig dankbarer, getreuer Enkelsohn
Fritz Moosbrugger.

N.S. Die Mädel sollen auch bald schreiben und mir Briefmarken schicken, wenn sie welche haben, und wenn die Jule einmal ein Musterpaketerl ohne Wert schicken würde, – sie weiß schon, mit was drin, – so täte mich das arg freuen.

So ein Brief! So ein frischer Brief! Da wehte einen ja ordentlich Alpenluft und Frohsinn an. Gott Lob und Dank, dem Buben ging's gut! Nur daß er so gar kein bißchen Heimweh hatte, das wollte der Großmutter nicht so leicht hinunter. Doch war's ja recht so, und anders hätte sie es gewiß nicht haben wollen. Allen im Hause brachte sie die Grüße und las den Brief immer wieder von neuem vor, und alle teilten ihre Freude und sagten: »Der Bub ist an seinem rechten Platz, – der Fritz hat nie so recht in die Stadt gepaßt.«

Um den brauchte man, wenn man ihn auch vermißte, keine Sorge mehr zu haben. Mit wem es aber gegenwärtig gar nicht so ganz stimmte, das war die Miezel. Um die bangte sich hauptsächlich die Jule, denn die Kleine war von den dreien ihr Liebling geblieben. Die Miezel lief auch sofort ins Hinterhaus, wenn sie etwas bedrückte, und das war in der letzten Zeit manchmal der Fall gewesen. So reizend und talentvoll das junge Mädchen seine Tänze ausführte, so daß jedesmal ein Beifallssturm von den Zuschauern ertönte und Herr Bruckmann zu Fräulein Balbi sagte: »So kann's halt keines wie unser Moosbruggerle – die macht unserer Schule wirklich Ehre«, so war doch gerade in letzter Zeit wieder manches Ungeschickte vorgekommen. Sowie Miezel auf ebenem Boden zu tanzen hatte, ging alles ganz prächtig. Wenn aber Gruppen oder Pyramiden gebildet wurden, wo sie irgendwie erhöht frei stehen oder sich bewegen mußte, da war's nichts mit ihr, da packte sie gleich der dumme Schwindel, und sie fing an zu wanken und sich unsicher zu fühlen. Nicht mit Ernst und nicht mit Strenge, auch nicht mit eigener Willenskraft war das wegzubringen. Und seit vor einigen Wochen die Miezel durch eine Unachtsamkeit des Maschinisten in eine Versenkung hinabgefallen war, anstatt sein hinunterzugleiten, da war das Gefühl der Unsicherheit noch größer geworden. Sie hatte sich dabei nicht verletzt, es war nur ein großer Schreck gewesen. Aber das nächste Mal, als sie auf demselben Fleck zu stehen hatte, da bat sie schließlich weinend, ihr dies zu erlassen.

Herr Bruckmann gab, wenn auch ungern, nach und sagte stirnrunzelnd: »Wenn du mir das anfängst, daß du mir nervös wirst, – ich sag dir, das kann ich einfach nicht brauchen!«

Der Großmutter kam die Miezel nicht mit ihren Ängsten, sie hätte ja doch nicht helfen können. Die Jule freilich auch nicht, aber die jammerte nicht gleich, sondern hörte sie ruhig an. Und wenn sie sich auch schwer in die Sache hineindenken konnte, so sah sie doch, daß ihr Miezele litt, und sie konnte so gut ermutigen und trösten. Auch der Großvater nahm immer Anteil, und es war für Miezel ein recht gutes Gefühl, wenn er allemal beim Fortgehen sagte: »Will heut abend recht an dich denken und unfern Herrgott bitten, daß dir's gut gehe!«

»Eigentlich tät ich am liebsten bitten, daß das Kind von dort wegkommt und was anderes wird«, sagte die Jule manchmal, wenn Miezel wieder fort war.

Aber der Großvater schüttelte mit dem Kopf und sagte: »Nur im Leben nichts erzwingen wollen, auch nicht von unserem Herrgott! Vorschreiben läßt sich der nichts! Aber das können wir ihn bitten, daß er es mit dem Kinde so macht, wie er es fürs beste hält. Wenn ein Pflänzlein einmal irgendwo angewurzelt ist, so taugt's nicht, wenn man's plötzlich wieder herausreißt, auch wenn's uns vorkommen mag, daß der andere Boden besser ist; will's der himmlische Gärtner einmal verpflanzen, dann ist's wieder etwas anderes. Der weiß dann, warum und wohin.«

Heute abend war Miezel kurz vor der Vorstellung auch wieder bei den Freunden gewesen und hatte ihnen ihre Angst geklagt. »Es wird wieder ›Hänsel und Gretel‹ gegeben, und ich muß auf die Leiter hinauf. 's ist ja zu dumm – 's ist ja das Leichteste, was man sich nur denken kann, und doch hab' ich eine so gräßliche Angst, daß ich jetzt schon zittere. Auch vor den andern Kindern fürchte ich mich, – ihr glaubt gar nicht, wie die mich nachher gehänselt und verspottet haben, und welch ungezogene Dinger darunter sind! Aber freilich, wenn ich an die Mädchen in Lenerls vornehmer Schule denke, so sind die auch nicht viel anders, nur vielleicht etwas feiner. Böse Kinder gibt's wohl überall, und ich bin auch nicht immer brav, – das muß ich mir eben sagen.«

»Das ist ein gescheites Wort von dir, Kind«, sagte der Großvater, »aber deine Angst ist dumm.« Und da er's einmal mit Zanken versuchen wollte, sagte er: »Ich red' auch wie dem Herr Bruckmann: Wirst mir doch nicht nervös werden? Das könnte man brauchen! So ein kräftiges Mädle wie du darf halt einfach nicht nachgeben. Jetzt nimm dich mal fest zusammen, – was man muß, kann man! Als Büble in meines Vaters Garten hat man mich auch manchmal auf die höchsten Zweige zum Kirschenpflücken geschickt, und da habe ich einmal geweint und gesagt: ›Ich habe Angst.‹ Da ist mir der Vater aber schön gekommen und hat gedroht, es müsse sein, und ich könne es auch. Und gekonnt hab' ich's, und heruntergekommen bin ich auch wieder gut, und Angst hab' ich von da an nicht mehr gehabt, weil ich mich überwunden habe. Und jetzt sag' ich dir halt auch: Du kannst's gewiß, wenn du nicht so viel an den dummen Schwindel denkst und einfach, wenn du droben bist, vor dich hin sagst: Gott hilf!«

Die Miezel ging, und der Großvater war hinterher seiner Sache nicht mehr so ganz sicher. »Schwindel ist halt was Dummes, da kann einer schwer etwas dagegen machen. Aber beten wollen wir wie immer für unser Miezele. Erhören tut's der liebe Gott, so oder so – wie er's für des Kindes Heil am besten findet.«

Die Jule und der Vater hatten zusammen ihre Suppe gegessen, und dann hatte Jule ihm den Abendsegen vorgelesen. Das Lenerl war auch noch herübergekommen und hatte kurz geplaudert – sie mußte nachher noch ihre Aufgaben machen. Sie hatte von der Schule erzählt und besonders von Olli von Lützow, mit der sie jetzt eine wirkliche Freundschaft verband.

»Wie geht dir's denn mit den andern?« fragte Jule. »Sind die alleweil noch so hochmütig gegen dich, Lenerl?«

Lenerl lächelte und meinte: »Vielleicht wären sie's noch, aber es macht ihnen einen großen Eindruck, daß ich mit Lützows, die von der Lilli und Esther nichts wissen wollen, manchmal im Auto fahren oder gar bei ihnen essen darf. Sehr freundlich sind sie deshalb, und ich trage ihnen nichts nach. Aber sehr lieb kann ich die beiden nicht haben, und ganz vergessen kann ich's ihnen nicht, wie sie von meinem Großmutterl geredet haben.«

»Herzlose, unartige Krabben müssen's sein«, sagte Jule ärgerlich. »Da weiß man nicht, wer die ärgsten sind, die Vornehmen in deiner Schule oder die gewöhnlichen Kinder dort hinter den Kulissen.«

Lenerl aber lächelte und sagte: »Weißt, Jule, ich habe jetzt dreierlei Arten kennengelernt. Überall ist's eigentlich das gleiche. Es hat Liebe und Böse in jeder meiner Schulen gegeben, und nur wie sie's machten, war vielleicht ein bißchen verschieden, gerade so wie der Anzug oder das Benehmen.«

»Ein gutes, vernünftiges Kind, das Lenerl«, sagte der Großvater, als Lenerl fort war. »So jung sie ist, denkt sie schon fast wie ein Altes.«

Bald darauf war der alte Mann eingeschlafen, und Jule holte ihren Flickkorb herbei. Sie hatte in der letzten Zeit über vermehrter Arbeit, die sie gehabt, ihren Haushalt etwas versäumt und wollte ein paar späte Abendstunden dazu benützen, Wäsche zu flicken und Strümpfe zu stopfen. Dabei konnte sie an allerlei denken. Am meisten wanderten ihre Gedanken zu Miezel, und als es halb zehn Uhr schlug, dachte sie erleichtert: Jetzt ist das Kind hoffentlich glücklich von seiner Leiter herunter und braucht keine Angst mehr zu haben.

Kurz darauf läutete es schrill am Vorderhaus, – man hörte es gut hinten, – und Jule horchte. Ein Wagen war angefahren, und sie hörte drüben auf der Treppe allerlei Stimmen. Was das wohl sein mochte? Wenige Minuten darauf stürzte das Lenerl die Treppe herauf, und ohne auf den schlafenden Großvater zu achten, rief sie: »Bitte, bitte, Jule, komm doch gleich mit herüber! Sie haben die Miezel in einem Wagen gebracht und die Treppe heraufgetragen, weil sie irgend etwas am Fuß hat und nicht stehen kann. Großmutter kam auch mit und meint, ob ihr nicht vielleicht Kamillen im Hause habt und Verbandzeug.«

Das hatte Jule von der Pflege vom Vater her. Schnell suchte sie alles zusammen und eilte dem schon wieder davonstürmenden Lenerl nach.

Oben in der Friedemannschen Wohnung war die Stube ganz voll Menschen, so daß Jule das Herz stillstand. Was mochte wohl ihrem Liebling geschehen sein? Es waren zwei Arbeiter vom Theater, die das Kind getragen hatten, eine Garderobenjungfer, die beständig jammerte und schilderte, wie »gräßlich es gewesen«, ohne daß man dadurch erfuhr, was denn eigentlich geschehen war. Auch der Theaterarzt war mitgekommen, und er und die Großmutter hatten zusammen die Miezel, die kreideweiß aussah, in ihr Bett gebracht. Die Decke war zurückgeschlagen, und der Arzt untersuchte eben einen Fuß, wobei die Miezel laut aufschrie und das mitgekommene Mädchen auch. Die Großmutter drückte nur rasch und stumm Jule die Hand – sprechen konnte sie nicht.

»Was ist's denn eigentlich? Was ist denn um des Himmels willen geschehen?« fragte Jule.

Aber da sprachen sie alle durcheinander, daß Jule durchaus nicht klug daraus wurde und sich nur immer wieder vorsagte: »Gar so schlimm kann es ja nicht sein, was geschehen ist. Das Kind lebt ja, und der Arzt sieht nicht aus, als ob Gefahr vorhanden wäre, – im Gegenteil!« Mitten in der Untersuchung richtete er sich auf und sagte: »Es wäre mir recht, wenn jetzt Ruhe eintreten und die Leute, die nicht hergehören, fortgehen würden.«

Die Männer entfernten sich nach einem kleinen Trinkgeld, das Frau Friedemann gegeben, und auch das mehr wohlwollende als nützliche Mädchen ging endlich, nachdem der Arzt ihr versichert hatte, daß man ihrer Hilfe nicht bedürfe. Und nun erst, nachdem sich die Stube geleert und Frau Friedemann Jule dem Arzt vorgestellt und ihm gesagt hatte, das sei ihre liebe, treue Hausgenossin, da konnte sie endlich erst leise den Arzt fragen: »Ist's denn etwas Schlimmes?«

»Nein«, sagte dieser, »ich hoffe nicht. Der Knöchel, den ich zuerst für gebrochen hielt, scheint nur verstaucht zu sein. Und die Erschütterung von dem Falle war wohl nicht gar so groß, denn des jungen Fräuleins Augen sind klar und ihre Antworten auch. Aber erschrocken mögen wir schon ein bißchen sein, nicht wahr?« fügte er freundlich gegen Miezel gerichtet hinzu. Und als diese hierauf anfing, leise vor sich hinzuweinen, da sagte er: »So ist's recht. Nur ausweinen, das ist das beste. Darüber werden die Augen müde, und man kann nachher schlafen. – Wenn sie vorher sich noch ein bißchen aussprechen mag, so schadet das auch nichts«, sagte er zu der Großmutter gewendet. »Es wird ihr ein Bedürfnis sein, aber, bitte, nicht zu lauge!«

Der verbundene Fuß wurde nun in eine möglichst gute Lage gebracht und das Kind warm und behaglich eingebettet. Dann empfahl sich der Arzt mit dem Versprechen, daß er morgen früh bald nach der kleinen Verunglückten sehen werde.

»Bös ausgeschaut hat's schon!« sagte er draußen zu den beiden ihn begleitenden Frauen, »und es wäre schon ein Glücksfall, wenn unsere kleine Künstlerin ohne weiteren Schaden davonkommt, aber wir wollen's hoffen!«

Frau Friedemann und Jule saßen nun am Bette ihres Miezels, die eine hüben, die andere drüben, und das Lenerl kauerte auf einem kleinen Schemel neben der Großmutter und zitterte vor Erwartung, endlich einen klaren Bericht zu bekommen. Auch der Jule ging's so. Und die Großmutter, die gleich dem Kinde noch ganz blaß und erschüttert aussah, erzählte:

»Also drunten bin ich gesessen wie sonst, mein Buch vor mir, und die Vorstellung begann. Den ganzen Abend schon war mir's recht unbehaglich zumute – unser liebes Kleines hatte mich mit seiner Angst angesteckt. Dann kam der zweite Akt und mit ihm die gefürchtete Leiter. Ich weiß nicht, wie es kam, aber auch mir flimmerten die Augen vor all der Himmelshelle. Und als die Engel so gleichsam aus den Wolken kamen und unsere Miezel voran, da war mir's selber, als ob ich Schwindel bekäme.«

»Ich weiß ja gar nicht, ob das Schwindel ist«, fiel hier die Miezel mit schwacher Stimme ein, »aber ich hakte auf einmal wieder so gräßliches Herzklopfen, als ich all die Stufen vor mir sah und wußte: Du darfst einfach nicht ausgleiten. Ein paar Stufen kam ich glücklich hinab; da muß ich gewankt haben, denn die Milli Mayer hinter mir sagte leise: ›Nimm dich in acht!‹ Dann war mir's, als müsse ich nach einem Geländer greifen, wo doch nur Luft war. Ich sagte schnell: ›Lieber Gott, hilf!‹ Aber er hat nicht geholfen, denn auf einmal hatte ich das Gefühl, als zöge man den Boden unter mir weg, und dann bin ich auch schon unten gelegen, und die Leute haben geschrien und der Herr Ballettmeister und die Frau Vogel haben mich hinter die Kulissen gezogen.«

»Ich habe dir sofort angemerkt, daß du wieder nicht sicher bist«, löste Frau Friedemann die Kleine ab. »Auf einmal seh' ich dich wanken, und dann bist du noch ein paar Stufen heruntergekommen, aber bei den letzten kamst du ins Kugeln und Fallen. Wie schrecklich das für mich war, als das Stück weiterging, als wäre nichts geschehen, und ich da drunten bleiben und soufflieren mußte, kann ich gar nicht sagen. Wie der Akt vorüber war, haben mich meine Füße kaum hinter die Kulissen getragen, wo das Kind auf einer Matratze lag und der Herr Doktor schon bei ihm war. Aber, Gott sei Lob und Dank, daß nichts gebrochen ist, und gelt, Miezel, es ist dir nun schon wieder ein bißchen besser? Gelt, Liebes, bist halt arg erschrocken gewesen? Und den Fuß, den wollen wir schon recht gut pflegen, daß er dir bald nicht mehr so weh tot!«

Die Miezel zuckte, denn der Fuß tat ihr im Augenblick sehr weh. Und das Lenerl fragte: »Warst du bei dir, als sie dich hinausgetragen haben? Hat Fräulein Balbi auch nach dir gesehen?«

»Sie und Herr Bruckmann und der Herr Regisseur und alle waren gleich da, wie ich aufgewacht bin. Denn im Augenblick, wo ich fiel, habe ich nichts mehr von mir gewußt. Aber sie waren alle sehr gut zu mir. Wein haben sie mir gegeben, und Fräulein Balbi hat sich zu mir gesetzt, hat meinen Kopf in ihren Schoß genommen und hat immer wieder gesagt, als ich so jammerte wegen der Vorstellung: ›Reg' dich nur nicht auf, Liebling, – es geht schon alles wieder seinen Gang, und die Leute haben's schon fast wieder vergessen, seit der Herr Regisseur ihnen gesagt hat, daß dir gar nicht viel geschehen sei.‹«

Dies erzählte Miezel ziemlich ruhig. Als aber der Fuß nicht aufhören wollte zu schmerzen, da wurde sie plötzlich sehr aufgeregt, schluchzte und klagte: »Ach, Großmutter, ach, Jule, wenn es doch schlimm mit dem Fuß wäre? Und wenn ich lange liegen müßte? Und wenn ich lange gar nimmer tanzen könnte?«

Das Lenerl, das sonst so ruhige, fing nun auch an bitterlich zu weinen, und der Großmutter war's auch so schwach zumute von all dem Schrecken, daß sie in die Küche hinausgehen und sich einen Augenblick erholen mußte.

Da war's die Jule, die allein den Kopf oben behielt und sagte: »Jetzt, Miezele, – heute ist einmal heute, und da hast du gar nichts anderes zu tun, als dir Mühe zu geben, ruhig zu werden. Deshalb sprichst du jetzt gar nichts mehr und trinkst mir einen Kamillentee. Gleich wird das Wasser sieden, und Großmutter kriegt auch einen. Und dann legt ihr euch alle schlafen, und ich bleib' hier.«

Jule ging rasch hinaus, und für die Großmutter war's gut, daß sie nun für etwas zu sorgen hatte. Sie machte Feuer und Jule holte die Tüte mit Kamillen, und während sie zwischen der Stube und der Küche hin und her ging, tröstete sie immer wieder die alte Frau, die sich noch kaum fassen konnte, und sagte: »Frau Friedemann, es geschieht nichts ohne unseres Herrgotts Willen. Daran müssen wir uns halten, wenn auch des Kindes Bitte für heute scheinbar umsonst war. Darüber hinaus wollen und können wir heute abend noch nicht denken.«

Fräulein Bland, die an dem Unglücksabend bei Bekannten gewesen war und erst spät nach Hause kam, war auch nicht wenig erschrocken, als sie am andern Morgen vernahm, was sich inzwischen ereignet hatte. Lenerl war, ehe sie zur Schule ging, noch bei ihr gewesen und hatte ihr weinend den ganzen Vorgang erzählt.

»Ach, Fräulein Bland, was soll jetzt werden? – Ach, Fräulein Bland, es wäre schrecklich, wenn gerade unsere Miezel lange liegen mußte, sie, die es kaum ertragen kann, wenn sie nur eine halbe Stunde festsitzen soll!«

Der treuen Freundin war es auch sehr schwer ums Herz, als sie das Kind, das Flederwischle, wie Jule sie so oft nannte, so festgebunden daliegen sah. Auch fühlte sie als Künstlerin der kleinen Kollegin nach, wie besonders qualvoll für sie die Störung der Vorstellung gewesen sein mochte. Es war ihr deshalb einigermaßen tröstlich, als die Großmutter, die nun etwas ruhiger geworden war, ihr sagte, sie glaube, daß die Zuschauer nicht gar so sehr erschrocken seien. Das Ganze habe sich ja schnell abgespielt, und die andern Engel seien ganz programmäßig heruntergekommen. Auch sei die Miezel mehr gekollert als gefallen, so daß für fremde Leute vielleicht eher etwas Komisches dabeigewesen sei, – daß Gott erbarm!

Fräulein Bland suchte nachher, als sie ein wenig bei Miezel gesessen und sie getröstet hatte, den Doktor draußen im Flur allein zu sprechen. Sie fragte ihn, was er von der Sache halte, und war sehr glücklich, als er sagte, die gefürchtete Gehirnerschütterung sei nicht vorhanden, sondern das Ganze sei eben wohl eine tüchtige Knöchelverstauchung. Ob irgend welche Verwicklungen dabei seien, das könne er jetzt freilich noch nicht sagen.

Die Verwicklungen kamen aber, und das, was der Arzt gehofft hatte, daß mit ein paar Wochen Liegenbleiben die Sache wieder in Ordnung käme, war leider nicht der Fall. Draußen fiel der erste Schnee. Das Lenerl durfte öfters mit Olli von Lützow und deren Erzieherin auf den naheliegenden Höhen rodeln. Die Miezel aber mußte liegen. Jetzt stand Weihnachten vor der Tür. Im Theater wurden die Märchen- und Feenstücke aufgeführt, und ein anderes junges Mädchen tanzte in Miezels Rollen. Ein paarmal war Fräulein Balbi dagewesen, um nach ihrer Schülerin zu sehen, und Herr Bruckmann ließ sich verschiedene Male erkundigen, ob denn gar keine Aussicht vorhanden sei, daß Miezel bis Weihnachten wieder gesund werde und mittun könne; man vermisse sie recht.

Gesund war sie ja wohl, denn sie hatte kein Fieber und fühlte sich nicht krank. Sehr weh tat der Fuß auch nicht mehr, wenn sie lag. Aber sobald sie aufstand, empfand sie einen jähen Schmerz, und das Gehen konnte sie einfach nicht erzwingen. Wie manche Träne gab es da bei der sonst so fröhlichen, so lustigen Miezel! Und gerade in den Weihnachtstagen war sie am meisten niedergeschlagen, und kein Trösten wollte helfen.

»Ach, Großmutterl, Großmutterl, wird es denn gar nicht mehr gut? Ach, Großmutterl, was soll nun werden?«

Diese letztere Frage hätte sich die Großmutter auch jeden Tag vorlegen können, und sie tat es auch. Was soll nun werden? Wie sollte es weitergehen mit dem täglichen Leben, wo sich von neuem unerwartete Kosten einstellten, und wo Miezels so hübsche Einnahmen wegfielen?

»Ich kann mit dem besten Willen heuer den Kindern das nicht geben, was sie sich wünschen, und wenn es auch nur ganz bescheidene Dinge sind, die sie auf ihren Zettel geschrieben haben«, sagte Frau Friedemann zu Jule.

Diese nickte, denn im Sparenmüssen hatte auch sie große Erfahrung, und tröstete: »Dann macht man heuer eben nur ein Bäumlein statt eines Baumes, und große Dinge sind gar nicht nötig zum Freuen, – kleine Geschenke sind auch nett. Die passen überhaupt besser in eine Krankenstube.«

Dabei hatte die Jule selber heuer kühn und tief in ihre Sparkasse gegriffen, hatte einen großen Pack dicke, weiße Wolle gekauft und bis spät in die Nacht hinein mit dicken, hölzernen Nadeln gearbeitet und gestrickt. Jetzt lagen zwei prächtige Winterjacken fix und fertig da, und immer wieder hielt sie diese dem Großvater hin und sagte: »Gelt, Vater, schön sind sie geworden? Gelt, Vater, nett werden sie drin aussehen, die zwei? Wenn nur unsere Miezel erst wieder so weit wäre, daß sie auch schon darin spazierengehen könnte!«


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