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Fünftes Kapitel

Großmutters Kränzchen und eine Rodelpartie. – Warum der Großvater die Miezel einen Kreisel nennt und Frau Enderle ihr Geschäft nach dem Vorbau verlegt. – Das Lenerl bekommt besondere Stunden und die Miezel das Scharlachfieber. – Von einem Kind, das vorträgt, und von goldenen Wänden und roten Samtsesseln. – »Was haben wir denn da für ein kleines Fräulein?« – Was die Jule vom Theater hält

In den Ferien fing es auch endlich einmal an zu schneien, und die Kinder holten mit Jubel in der Kammer nebenan den von daheim mitgebrachten Schlitten und stürzten hinunter. Großmutter mußte ja schon wieder in der Probe sein, aber als sie zum Mittagessen nach Hause kam, fand sie statt fröhlicher Gesichter ein ganz verwettertes Häuflein Kinder vor.

»Ja, was ist denn? Euer Schlitten wird euch doch nicht kaputt geworden sein?« fragte sie ängstlich.

»Kaputt ist er net, aber brauch'n könn'n wir ihn au net in der lumpig'n Stadt!« stieß Fritz ganz bitter hervor, und die zwei Mädchen überstürzten sich mit Erzählen. Sie hätten drunten ganz brav am Haus Schlitten fahren wollen, da sei gleich der böse Schutzmann gekommen und habe sie weggejagt. Und auf den Platz dürften sie ja nicht, da sei auch gar nicht gekehrt. Und wo Bahn gemacht sei, da fahren gleich so viel Fuhrwerke.

»Ein klein bisserl probiert hab'n wir es doch auf der Straß'n«, gestand die Miezel ehrlich. »Aber dann wären wir fast unter ein Auto gekommen. Sixt, so nah, Großmutter. « Und die Kleine zeigte an einem winzigen Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger, wie nah die Gefahr schon gewesen.

Die Großmutter rief erregt: »Daß ihr mir um's Himmels willen das nicht ein zweites Mal tut, ich ängstige mich sonst fast zu Tode, wenn ich fort sein muß!«

Fritz aber meinte, noch immer in trotzigem Ton: »Werdend's schon von selber bleiben lassen! Was ist das für ein Vergnüg'n, immer aufpassen und den Schlitten am Strickerl ziehn zu müss'n!«

Das Lenerl sagte: »In der Schule gibt's Kinder, die dürf'n zur Stadt hinaus und ein Bergerl runterfahr'n!« Aber davon wollte die Großmutter nichts wissen. Ohne Aufsicht ließ sie die Kinder so was nicht tun.

So standen die drei manchmal, wenn es recht schöne, dicke Flocken schneite, traurig am Fenster und schauten zu, wie der vom Niklas verheißene Schnee herunterfiel, und sagten: »Was haben wir davon, wenn wir nicht hinausdürf 'n? Da ist's doch daheim in Bergwies schöner gewesen!«

Und unwillkürlich kamen sie dann immer wieder darauf, von alten Zeiten zu sprechen, und wie es war, als Vater und Mutter noch lebten, und die zwei Großen überboten sich in dem Sätzlein: »Weißt du noch?« Ohne daß sie es wußten, vertieften sie dadurch ihre Erinnerungen, und auch das Miezele hatte davon Vorteil, das sonst wohl schon die Hauptsachen vergessen hätte.

»Die Nandl hat doch beim Abschied gesagt, sie schreibe uns einmal«, sagte Lenerl. Es war an einem Nachmittag kurz vor Neujahr, und die Kinder saßen im Dämmerlicht um den Tisch, an dem sie vorher gespielt hatten. Die zwei Großen hatten, um zu sparen, die Weisung, das Licht erst anzuzünden, wenn es ganz dunkel sei.

»Die Nandl hat auch versprochen, sie schick' uns einmal was«, fiel Miezel ein, und Fritz sagte aus tiefem Nachsinnen hervor: »Jetzt kommt das Wild von den Berg'n runter, wenn es im Schnee kein Futter mehr findet! Und jetzt, am Abend, sind die Berge so schön rot! Und weißt noch, Lenerl, wie die Tannen auf dem Schnee so schwarz aussahen, fast zum Fürchten? Und wie wir den Waldkogel runtergesaust sind auf den Schlitten, und wie manchmal der Mond schon ganz silbrig g'schienen hat, bis m'r heimg'komm'n sind? «

»Ja«, sagte das Lenerl träumerisch, »und wie das Mutterl uns die warmen Schuhe anzog'n hat, die unter dem Ofen bereit g'standen sind? Und wie der Vater dann vom G'schäft raufkommen is und auf dem Tisch heiße Milch und Schmarr'n g'standen is?«

»Schmarr'n, –juchhe!« schrie Fritz da in voller Erinnerung, und die Miezel schrie mit und klopfte sich wieder den Magen, aber ohne mehr einen wirklichen Begriff von diesem köstlichen Gericht zu haben. Da schellte es so stark wie damals, als der Niklas kam. Und wieder stand eine Männergestalt draußen, aber diesmal war es der Paketträger, der eine Schachtel brachte mit der Aufschrift:

An die
Moosbrugger Kinder
Am Marktplatz Nr. 7 in St.

»Seid ihr das, Kinderle?« fragte der Mann lustig. »Da ist gewiß noch ein nachträgliches Christkindle drinnen!«

Mit Jubel schleppten die drei Kleinen die Schachtel ins Zimmer. Das war nun aber keine kleine Sache, noch so lange, bis Großmutter heimkam, um die Schachtel herumzusitzen, ohne zu wissen, was sie enthielt. Vorher sie aufzumachen, getraute sich keines. Aber schließlich sagte Fritz: »Sie ist doch an uns Kinder gerichtet, und wir können doch nicht warten bis morgen früh. Wißt's was? Wir trag'ns zum Großvater – so sagten die Kinder seit ein paar Tagen zu Jules Vater – und der und die Jule sollen sag'n, was g'scheh'n soll.«

»Wo brennt's?« fragte der alte Mann ordentlich erschreckt, als die drei so auf einmal hereinstürzten und ihm die wichtige Frage vortrugen. Da wußte er im Augenblick auch keinen Rat. Aber Jule sagte: »Ich bin für's Aufmachen, denn man kann nicht wissen, was drin ist, und ob's nicht bis morgen früh verdirbt.«

Eine Geduldsprobe war es noch für die Kinder, bis Jule sorgsam die vielen Knoten an der Schnur aufgemacht hatte. Eine solche aufzuschneiden, hätte sie nie über sich gebracht, das wäre höchst unpünktlich und unwirtschaftlich gewesen. Aber nun öffnete sich der Deckel, und drei gespannte Kindergesichtchen blickten in die Schachtel. Da lag obenauf ein Brief, auf grobem Papier mit großen Buchstaben geschrieben, den legte Jule vorerst auf die Seite. Dann blickte aus der Mitte der Schachtel ein großer Gugelhopf, den hob sie sorgfältig, damit er nicht zerbreche, heraus. Nun folgte noch ein Paket mit gelber, frischer Butter, ein anderes mit einem großen Stück Rauchfleisch, und der Länge nach lag eine herrliche Wurst. Und dann las die Jule vor:

Liebe Kinderle!

Weil daß Ihr auf Weihnachten doch andere Sachen bekommen habt, so schicke ich dieses auf Neujahr und wünsche Euch einen recht guten Appetit dazu. Der Gugelhopf ist nach dem Rezept von Eurem seligen Mutterl gebacken. Und weil wir dieser Tage geschlachtet haben, so schicken wir Euch auch ein G'selchtes und eine Wurst. Die in der Stadt sollen ja feiner sein, aber in der ist lauter echtes, gutes Fleisch, keine eingeweichten Wecken. Den Butter streicht auf Euer Vesperbrot, und wenn Eure Großmutter davon verkochen mag, so soll's mich freuen. Wir sind alle wohl und hoffen, Ihr seid es auch! Unsere Bleß hat ein Kalb gekriegt, und der Bachmüllerin ihr Kleines ist wieder gestorben. Schnee hat es jetzt haufendick bei uns, aber in die Christmette sind wir doch. Der Laden nebenan geht nimmer so gut wie bei Eurer Mutter, die war eine brave Frau, und wie manches Mal hat sie mir geholfen bei den Fremden im Sommer! Und wie manches Mal hat sie mir schöne Geschichtenbücher geliehen im Winter! Und wenn sie abkommen konnte, hat sie bei uns genäht. – All das vergeß ich ihr nie. Euer Vater hätte das Bergkraxeln bleiben lassen können, dann wäre es anders gegangen, aber geschehen ist geschehen! Sagt Eurer Großmutter, im Sommer soll sie Euch zu mir in die Ferien schicken, dann dürft Ihr reiten und auf das Feld fahren. Der Braune hat ein neues Fohlen, das trägt Euch bis dorthin. – Jetzt laßt es Euch gut gehen und gedenkt auch manchmal Eurer alten getreuen Nachbarin

Anna Barbara Hinterhuber.
Bergwies, 28. Dezember 19..

War das eine Freude! Dreimal mußte die Jule den Brief vorlesen, und der Großvater sagte: »Das muß eine gute Frau sein!«

Als aber die Kinder ein Messer verlangten und den Kuchen anschneiden wollten, da sagte er: »Damit wartet, bis die Großmutter kommt, das dürfen wir nicht.«

Daß die Fingerchen aber ein bißchen von dem Zucker naschten, der herunterfiel, und die Näschen an der guten Wurst rochen, das konnte man nicht verwehren. Nachher aber ging die Jule mit dem Dreiblatt hinüber, und es war auch eine Freude, mitten auf den Tisch alles schön hinzurichten zur Überraschung für die Großmutter, wenn sie spät nach Hause kam.

»Hast g'sehn, was auf dem Tisch liegt, Großmutterl?« war die erste Frage der Kinder in aller Frühe von ihren Betten heraus. Und die zweite, von Fritz gestellte, war: »Gelt, Großmutterl, wir dürf'n im Sommer nach Bergwies? Gelt, du läßt uns fahren, wenn die Ferien kommen?«

»O Büble, Büble, was sorgst du weit hinaus! Man weiß noch gar nicht, was bis zum Sommer alles vorkommt«, sagte die Großmutter. Daß eine Vergnügungsreise für die Kinder ganz unmöglich sein würde, das fand sie unnütz, jetzt schon auszusprechen. An dem Inhalt der Schachtel hatte auch sie eine große Freude, und zum Frühstück schnitt sie jedem der Kinder ein umfangreiches Stück Kuchen herunter.

»Auch eins für den Großvater und auch eins für die Jule!« bestimmte Miezel. Und sobald sie ihre Milch getrunken und ihr Mäulchen gewischt hatte, lief sie mit flinken Schritten hinüber in das Hinterhaus. –

Einmal sollten die Kinder doch nach Herzenslust rodeln dürfen, und das war am Neujahrstag. Fräulein Bland war zurückgekehrt, und als ihr Fritz seine Not klagte, da sagte sie: »Wißt ihr was, heute nachmittag ziehen wir alle vier zusammen aus. Ich nehme auch meinen Schlitten mit, und wir gehen zusammen bis zum Wald hinauf. Dort ist auch eine Bahn, da kann man den Berg heruntersausen, und wie! Wartet nur, ihr sollt mir nicht mehr über unser liebes St. schelten!«

Großmutter hatte den ganz freien Nachmittag dazu benützt, auch einmal wieder in ihr Kränzchen zu ihren alten Freundinnen zu gehen. Und es tat der vielgeplagten Frau sehr wohl, auch einmal etwas anderes zu hören und sich aussprechen zu können. So ganz hatten die Freundinnen noch nicht verwunden, daß Frau Friedemann in einer ihnen so fremden Welt lebte, und trotz ihrer Neugierde wollten sie nicht viel davon wissen. Um so mehr aber interessierte es sie, wie es mit den Kindern gehe, und ob es die Großmutter nicht doch reue, daß sie die Kleinen aufgenommen habe.

Da konnte aber Frau Friedemann aus vollem Herzen sagen: »Nein, o nein! Gräßlich wär's, wenn ich sie in der Fremde, bei ganz unbekannten Menschen wüßte. So Hab' ich sie wenigstens bei mir. Und wenn ich am Abend spät und so recht müde heimkomme, weiß ich, für wen ich mich angestrengt habe. Ich schau mir dann der Reihe nach die lieben Gesichtchen an und bin froh, daß ich so was Warmes, Lebendiges um mich habe. Des Morgens beim Aufstehen und beim Frühstück bin ich doch da und auch beim Mittagessen. Sie erzählen mir alles, das dürft ihr mir glauben, auch wenn sie unartig gewesen sind. Und ich weiß doch, was sie treiben, ob sie in der Schule lernen, und mit wem sie umgehen. Freilich am Nachmittag und am Abend, da kann ich eben nicht da sein, und das ist mir eine tägliche Sorge. Aber da ist mir nun wunderbar geholfen worden.«

Und Frau Friedemann erzählte von Jule und ihrem Vater und von Fräulein Bland, wie lieb auch die zu den Kindern sei.

»Da soll sie nur keines von den Mädeln zu einer Schauspielerin machen wollen«, sagte Frau Hugendubel, eine einfache Bürgersfrau, der das Theater gänzlich fern lag.

Aber Frau Friedemann meinte, das sei etwas, was man nicht so ohne weiteres machen könne, da gehörten doch vor allem viel Talent und Kenntnisse dazu. Und dann sprachen sie von etwas anderem.

Mit frischen, roten Gesichtern und strahlend vor Glück waren die Kinder heimgekommen.

»Einfach herrlich ist es gewesen!« schrie Fritz schon auf der Treppe. »Wenn es doch hier innen in der Stadt auch so wäre wie draußen vor dem Tor, dann wollte ich nichts mehr dagegen sagen!« Dann berichtete er weiter, der Schnee sei fast so weiß wie daheim, und die Bahn sei fein gewesen. Die beiden Mädchen fügten voll Wichtigkeit bei, daß Fräulein Bland nachher noch mit ihnen in eine Konditorei gegangen sei, noch schöner als der Gutsleladen unten, und da hätten sie Schokolade getrunken, so dicke, daß der Löffel beinahe drin stecken geblieben wäre.

»Und drei Brezeln habe ich gekriegt und noch ein Stück Kuchen«, sagte die Miezel und schmiegte sich an Fräulein Bland an, die fröhlich danebenstand und zuhörte.

»Ich bin wahrscheinlich am allervergnügtesten dabei gewesen«, wehrte sie ab, als die Großmutter ihr recht danken wollte. »Mir hat es wahrhaftig wohlgetan, nach all dem Gelerne und der Welt von gemalten Brettern auch einmal wieder so recht in die frische, echte Gottesnatur hinauszukommen.«

Der Winter verging mit dem regelmäßigen Besuch der Schule und ziemlich fleißigem Lernen der Kinder. Lenerl war sehr begabt und wurde bald in eine höhere Klasse versetzt. Fritz lernte etwas langsamer und blieb in der Klasse zurück. Dag Miezel war der Liebling im Kindergarten wegen ihres lustigen Wesens und ihrer Beweglichkeit bei den Spielen. Singen und Tanzen, das war ihre Lust. Und auch daheim trällerte sie beständig eines der gelernten Liedchen vor sich hin und sang und tanzte drüben dem Großvater oft so lange vor, daß er sagte: »Horch, Mädle, du bist ja der reinste Kreisel! Es wird einem ganz schwindlig, wenn man zusieht!«

Im Sommer hatte Großmutter wochenlang Ferien, das war herrlich. Sie konnte sich dann auch wieder einmal so recht ihres Haushaltes annehmen, der eben trotz allem Bestreben bei der wenigen Zeit, die Frau Friedemann zur Verfügung stand, vernachlässigt wurde. Furchtbar gern wäre Frau Friedemann mit den Kindern in der heißesten Zeit auch irgendwohin auf das Land gegangen, am liebsten zu der Nandl nach Bergwies, die wiederholt aufforderte, sie sollten nur alle kommen, in ihrem großen Hause sei schon Platz genug, und sie täte so gern die Kinderlein wiedersehen. Diese flehten und baten die Großmutter, aber es war ganz unmöglich, diesen Wunsch zu erfüllen, denn die Reise kostete zuviel. Fiel es Frau Friedemann doch ohnedies schon schwer, das Alltägliche zu beschaffen, und immer neue und größere Ausgaben kamen dazu. Die blauen Winterkleider der Kinder waren nun schon ziemlich abgetragen, auch waren sie zu warm für den Sommer, da brauchten sie unbedingt neue. Ebenso Fritz, der gewaltig wuchs, und dem die Hosen und das Wämslein schon überall zu eng und zu kurz wurden. Wie gern hätte Frau Friedemann alles selber genäht, wenn sie nur das Geschick dazu gehabt hätte. So wurde eben Frau Enderle berufen und mit ihr Rat gehalten, was wohl am zweckmäßigsten und billigsten wäre. Die praktische Frau riet zu dunkelblauen Röcken und Blusen, »denn die passen zu allem!« sagte sie. Ein paar Reihen weißer Litzchen unten herum schlug sie heraus, weil es doch Sommer sei, und weil die ja fast gar nichts kosten würden.

Es war recht heiß in dem dritten Stock am Markte. Da machte Jule, die dazukam, den Vorschlag, ob man nicht die Näherei nach ihrem Küchenvorbau verlegen könne, da habe man doch ein bißchen mehr Luft. Wenn er auch nur auf lauter Höfchen gehe, so wachse doch gerade an ihm herauf ein ganz nettes Bäumlein, und da sehe man doch wenigstens ein bißchen ins Grüne. Großvater in seinem Sorgenstuhle freue sich auch daran, und für den wäre es sehr unterhaltend, wenn er dabei sein könnte. Sauber und rein sei gewiß alles bei ihnen, und so sollten sie nur aufpacken und kommen. Das leuchtete ein, und kurze Zeit darauf saß Frau Enderle mitsamt Frau Friedemann und der Nähmaschine an dem geschilderten Plätzchen, das wirklich ganz nett und immerhin viel luftiger als das Zimmer oben war. Der Großvater in seiner Ecke sah stillvergnügt zu. Jule kam ab und zu; sie kochte, und zwischenhinein versah sie in der Stube drinnen ihre Arbeit, doch nie, ohne daß sie sich die Hände vorher gründlich gewaschen hätte. Die Kinder spielten inzwischen unten auf dem Platz, aber es gab da recht wenig Schatten, und wohl hundertmal sagten sie zueinander: »Wenn wir jetzt in Bergwies wären! – Wenn wir jetzt dort die Wiese herauf und herunter rennen könnten! – Wenn wir mit den Kühen und Geißen hinaufziehen könnten!«

Der Großmutter war es sehr schwer, diese Reden von den Kindern mit anzuhören, aber es lasteten noch ganz andere Sorgen auf ihr. Das Gehalt, das sie bezog, war doch sehr klein. Alle Monate mußte die Miete bezahlt werden, und die Kinder hatten so guten Appetit. Da konnte man doch nicht an dem Essen sparen. Und nun trat noch eine andere Frage an sie heran. Lenerls Lehrer war bei ihr gewesen und hatte ihr gesagt, das Kind sei ungewöhnlich begabt und lernbegierig, und er würde ihr deshalb raten, das Opfer zu bringen, sie an einem besonderen Unterricht teilnehmen zu lassen. Es wäre schade, wenn sie diese Gelegenheit nicht benützte. Als Fräulein Bland davon hörte, redete sie entschieden zu, und das Kind selber war Feuer und Flamme dafür.

»Etwas Besonderes ist halt zu teuer! Ich habe das Geld nicht dazu!« jammerte die Großmutter. Als aber das Lenerl immer wieder bettelte: »Großmutterl, laß mi gehen – Großmutterl, laß mi was lernen, dann verdien i an bald was und kann dir helf'n!«, da gab diese endlich nach, und das Lenerl durfte vom September an die besonderen Stunden besuchen.

Frau Enderle, die eine Pflegetochter hatte, die sie von klein an aufgezogen, redete auch sehr zu und sagte: »Wenn meine Marietta auch nur eine einfache Kleidermacherin geworden ist, so nützt's ihr doch überall, daß sie so gut geschult wurde und hauptsächlich auch fremde Sprachen kann. Darum bin ich auch sehr für Ausbildung.«

Mit viel Freude und großem Eifer lernte das Lenerl, und im Laufe des Winters brachte sie sehr gute Zeugnisse nach Hause. Die heimische Mundart hatten Fritz und Miezel nach und nach verloren, das heißt, sie hatten sie mit der schwäbischen vertauscht. Hingegen gab Lenerl sich große Mühe, rein zu sprechen, was ihr so sehr an Fräulein Bland gefiel. Zu ihr hatte sie eine ganz besondere Liebe gefaßt, die auch erwidert wurde. Die junge Schauspielerin übte sehr viel in ihrer Stube und hatte nichts dagegen, wenn das Lenerl, was dann eine große Freude für das Mädchen war, manchmal zu ihr herüberkam und zuhörte.

»Schaff' aber auch etwas dabei, wenn du so dasitzest«, hatte die Jule gesagt und dem Lenerl ein Strickzeug zurechtgemacht. Da saß nun das Kind manche halbe Stunde in der Ecke auf dem Fenstertritt, wo es eine Efeulaube und stets blühende Pflanzen gab, und hörte mit Begeisterung der schönen Stimme der jungen Schauspielerin zu und dem Tonfall, wenn es auch noch sehr oft die Worte gar nicht verstand. Ein bißchen Stricken tat das Lenerl dabei wohl, aber nicht viel, denn es mußte doch zu sehr aufpassen, und es war stolz, wenn das Fräulein ihm sagte:

»Merk' dir's, Lenerl, das war von Schiller«, oder: »Das war von Goethe«, oder: »Das ist von Gerhart Hauptmann!«

Unverwandt sahen die dunkeln Augen des kleinen Mädchens auf das, was die junge Schauspielerin machte, und Fräulein Bland mußte einmal herzlich lachen, als sie das Lenerl überraschte, das gerade versuchte, ihre Gebärden und ihre Redeweise nachzuahmen.

»Ach, Fräulein Bland, wenn wir nur ein einzig, einzig Mal ins Theater dürften! Jetzt sind wir doch schon viel größer und gescheiter, als wo wir gekommen sind! Und dann wüßten wir doch auch, was eigentlich da geschieht, und wo Großmutter sitzt.«

Diese Bitte kam immer wieder, und Fräulein Bland besprach sich mit Frau Friedemann und meinte, daß man in diesem Winter den Kindern wohl einmal diese Freude machen könne.

Aber vorerst sah's nicht nach Freuen aus. Das Miezel kam aus dem Kindergarten und klagte über Halsweh. Am Abend hatte es Fieber, und am nächsten Tage mußte man den Arzt holen. Nach wieder ein paar Tagen erklärte dieser, es sei das Scharlachfieber, und man solle nur auch gleich die beiden andern aus der Schule dabehalten, denn die hätten's wahrscheinlich auch schon in sich. Der Arzt hatte recht, die Miezel blieb nicht allein. Fritz und Lenerl bekamen auch die schlimme Krankheit, und was jetzt eigentlich fast ein Glücksfall war, die Großmutter durfte wegen der Ansteckung nicht ins Theater kommen und konnte somit die Kleinen pflegen. Wie viel gab's da zu tun! Da galt es Wickel und Halsumschläge machen, kühlende Getränke reichen, Wäsche wechseln, für die richtige Krankenkost sorgen. Und wenn das eine der Kinder mit seinen Fieberansprüchen befriedigt und besorgt war, so fing das andere wieder an zu klagen und zu jammern: »O Großmutter, das Kranksein ist etwas so Greuliches, Abscheuliches! O Großmutter, wann werde ich wieder gesund?«

Recht betrübend war es, daß auch Fräulein Bland und die Jule den Nachbarn in dieser schweren Zeit ganz fernbleiben mußten. Wenn auch Fräulein Bland manche Apfelsine, manchen Saft und manches kleine Spielzeug herüberschickte, so war das doch keine wesentliche Hilfe. Die Jule, die gute, treue, streckte wohl den Kopf, so oft sie konnte, herein, – ganz ließ sie sich nicht abhalten und ein paar Nächte hatte sie allem getrotzt und sogar darauf gedrungen, daß Frau Friedemann zu Bett gehen und sie dalassen solle. Aber sie hatte dazu einen alten Rock und eine alte Jacke gebracht, die hüben blieben. Und wenn sie nach Hause kam, striegelte und wusch sie sich in der Küche gewiß eine Viertelstunde lang und zog sich dann gründlich ganz anders an. »Wegen meinem Geschäft, denn da darf ich mir nichts zuschulden kommen lassen!« Aber trotz Jules Hilfe mußte die Großmutter doch dann und wann jemand zum Putzen und Waschen nehmen. Gar viel Holz und Kohlen wurden verbrannt durch das Schüren während der ganzen Nacht, und Doktor- und Apothekerrechnung wuchsen unheimlich an. Dann, als die Kinder wieder heraus durften und es der Genesung zuging, mahnte der Arzt: »Nur recht kräftig essen!«

Ganz zuletzt, da kamen auch noch die Kosten für die Desinfektion. Als Großmutter für alle diese vielen Dinge den Geldbeutel ziehen mußte, da war er schließlich so leer geworden, daß für das Weiterleben fast nichts mehr darin blieb.

»Friedemännchen, was haben Sie?« fragte einmal Fräulein Bland teilnehmend, als sie – die Kinder waren nun wieder gesund und zum erstenmal wieder in die Schule gegangen – zu der Nachbarin herüberkam. »Was haben Sie, und was bedrückt Sie? Ich glaube, Sie sind nervös geworden durch das lange Pflegen und müssen nun auch an sich denken.«

Liebevoll legte Fräulein Bland ihre Hand auf Frau Friedemanns Schulter. Als diese aber sichtlich mit den Tränen kämpfte und das junge Mädchen in sie drang, ihr doch zu sagen, was sie so bedrücke, da kam's nach und nach stockend heraus, was das Herz von Frau Friedemann so schwer belastete.

»Sie müssen nicht glauben, Fräulein Bland, daß wir gar nichts mehr haben. Ich könnte, wenn ich will, schon etwas von der Sparkasse holen. Doch das tut man eben ungern, weil es doch auch der Notpfennig der Kinder für später ist. Aber der Winter ist halt hart, und manchmal habe ich so schrecklich Angst, ob ich's denn auch durchführen kann, und ob ich nicht doch am Ende noch das eine oder andere von den Kindern hergeben muß. Und sie zu trennen, wo sie doch so aneinander hängen, und wo wir uns doch so liebhaben, und ... und ...«

Frau Friedemann stutzte den Kopf mit den frühzeitig ergrauten Haaren in die Hände und weinte bitterlich.

»Friedemännchen, wer spricht denn auch gleich vom Allerärgsten! Wer wird denn auch gleich den Kopf so hängen lassen, wenn man einmal nicht ganz hinaussieht! Ich bin viel jünger als Sie, habe aber auch schon tüchtig durch müssen. Sie wissen ja, wie allein ich stehe, und dann meine Sorge um den Bruder! Wie hab' ich gespart und mein Letztes geopfert, um ihn studieren zu lassen, – Vater war doch auch Beamter. Und dann mitten drin hat er erklärt, daß er nicht mehr wolle, er sei mehr fürs Praktische. Und als ich nicht nachgab, da war er eines Tages auf und davon, – na, Sie kennen ja die Geschichte!«

Frau Friedemann hob den Kopf und ermannte sich.

»Ich weiß, ich weiß, und es ist unverantwortlich, daß der Schlingel gar nicht schreibt. Aber so ist die Jugend! Der soll nur warten, bis er einmal kommt! Da werde ich ihm schon tüchtig die Leviten lesen und ihm sagen, daß man solch einer guten Schwester gegenüber sich nicht derart benimmt.«

Frau Friedemann hatte über der fremden Angelegenheit wieder die eigenen Sorgen vergessen, und als Fräulein Bland beschwichtigend sagte: »Schlimm ist er ja gewiß nicht, mein Erich. Er hat sich ja anderswo als Lehrling durchgearbeitet, und der Geschäftsinhaber, für den er jetzt reist, lobt ihn. Aber ich kann's halt immer noch nicht verwinden, daß er nicht hat studieren wollen, was vielleicht ein Hochmut von mir ist, aber es war doch auch meines Vaters Wunsch! ... Übrigens, Frau Friedemann, das Lenerl hat mir neulich ihr Gedicht, das sie für die Schule aufhatte, »Die Bürgschaft«, so fabelhaft gut und richtig vorgesagt, daß ich nur einfach habe staunen müssen. Das Mädel hat ein entschiedenes Talent zum Vortragen, und wenn ich nicht selber am besten wüßte, wie viel Schweres mein Beruf mit sich bringt, so würde ich sagen, sie hat große Anlage, eine Schauspielerin zu werden.«

Frau Friedemann hob wie abwehrend die Hände: »Nein, ach nein, sie soll nur eine tüchtige Lehrerin oder so etwas werden, das wäre mir tausendmal lieber!«

»Auf Wiedersehen!« sagte Fräulein Bland schon unter der Türe und lachte herzlich.

Als sie beinahe in ihrem Zimmer war, lief ihr Frau Friedemann nach und sagte: »Nur noch geschwind etwas anderes, liebes Fräulein: Die Kinder geben jetzt wirklich keine Ruhe mehr, bis ich ihnen einmal das Theater zeige. Und so wollte ich Sie denn nun fragen, damit die arme Seele Ruhe hat, ob Sie mir nicht für heute abend, wo der »Freischütz« gegeben wird, vielleicht ein paar Freikarten besorgen könnten. Das war einstens auch das Stück, das ich zuerst sah. Gerne würde ich die Jule mit ihnen schicken, die so etwas noch nie gesehen hat, aber Geld dafür ausgeben, das kann ich natürlich nicht.«

Fräulein Bland hatte Gelegenheit, für hoch oben, ganz hinten, etliche Eintrittskarten zu bekommen. Und so saßen denn am Abend, schon eine halbe Stunde vor Beginn des Stückes, die drei Kinder mit Jule in höchster Erwartung da. Diese war nicht so ganz gern mitgegangen. Sie hatte, fern von allem, was damit zusammenhing, keinen so rechten Begriff vom Theater, und ganz in der Stille tat's ihr immer leid, daß die braven Damen im Hause vom Theater waren. Aber als Frau Friedemann ihr sagte, daß in diesem Stück das schöne Lied: »Leise, leise, fromme Weise« vorkomme, da hatte sie sich doch gefreut. Und dann war's ja doch auch sehr nett, mit den drei Kindern zusammen zu sein.

Diese wußten sich vor Aufregung gar nicht zu fassen. Schon das leere Haus war ja etwas Wunderbares. Genau so, wie Großmutter es geschildert hatte: goldgemalte Wände und rote Samtsessel. Sie streichelten ehrfurchtsvoll die ihrigen. Und dann der große, prachtvolle Kronleuchter und der schöne Vorhang mit all den Engelein darauf! Großmutter hatte vorher der Jule beschrieben, wo der Souffleurkasten stehe, und fast ängstlich schauten die Kinder auf dieses kleine, graue Häuslein hinunter, von dem sie sich gar nicht denken konnten, daß die Großmutter Platz darin habe.

»Ich sehe sie ja gar nicht«, sagte Miezel ängstlich, und Fritz meinte: »Wenn sie nur nicht einmal da drinnen erstickt.«

Das Lenerl aber schaute beständig auf die unteren Sitzreihen hinunter, wo in einer Seitenloge Fräulein Bland mit noch einigen Künstlerinnen saß und den Kindern ein paarmal hinaufwinkte. Als die Musik begann, wurden diese ganz still und saßen mit gefalteten Händen da. Als der Vorhang in die Höhe ging, entfuhr allen dreien ein unwillkürliches »Ah!« und Fritz zeigte leise seine Freude darüber, daß Wald und sogar Jäger da seien. Und nun ging's weiter. Wunderschöne, liebliche Melodien, – ein böser Bursche, der einen andern zum Schlimmen verführen wollte, – ein blondes, liebliches Mädchen namens Agathe, die das Lied »Leise, leise« sang, wobei Jule in hellem Entzücken den Kopf hin und her wiegte und beinahe mitgesummt hätte. Dann kam das Grausige, wo es nachts um zwölf Uhr in der Wolfsschlucht blitzt und donnert und allerlei wilde Tiere und unheimliche Gestalten über die Bühne huschen, während der böse Bursche greuliche Dinge in einem Kessel braut und dem braven Max allerlei Herrliches verspricht. Und wie das lustige Annchen die Agathe immer wieder tröstet und diese so schön betet, so daß im letzten Akt dann alles gut ausgeht und der böse Kaspar tot zur Erde fällt. Das war einfach wunderbar schön, wenn auch hie und da zum Fürchten, denn geschossen wurde auch ein paarmal, wobei die Jule gräßlich zusammenfuhr und sagte: »Zu so etwas geht man doch nicht ins Theater!«

Das Lenerl saß den ganzen Abend mit großen Augen da und sprach eigentlich gar nichts. Nur als Fräulein Bland einmal in der größeren Pause, wo all die vielen Leute hinaus in die Wandelhalle und dort auf und ab gingen, zu den Kindern heraufkam und jedem eine Brezel brachte, da sagte das Lenerl entrüstet: »Wie können die jetzt nur auch so lachen und schwätzen!«

Nicht einmal ihre Brezel aß Lenerl und bemerkte es auch gar nicht, als Fritz sie stillschweigend an sich nahm und verzehrte. Was das Miezelein aber am meisten entzückte, das war der Bauerntanz gleich am Anfang. Da zappelten ihre Füßlein ordentlich, um mitzutun, und die Nächstsitzenden warfen Fritz teils belustigte, teils mißbilligende Blicke zu, als er mitten in dem lustigen Tanz ein lustiges »Juchhe« ertönen ließ.

Es war ausgemacht worden, daß die Jule mit den Kindern unten an der Treppe Fräulein Bland treffen sollte. Von dort aus wollten sie zusammen zur Großmutter auf die Bühne gehen, damit auch der Hauptwunsch der Kinder, zu sehen, wo Großmutter eigentlich saß, erfüllt wurde. Diese saß nicht mehr, sondern stand erwartungsvoll schon draußen und begrüßte die Kleinen, die erregt auf sie zusprangen.

»Na, wie war's?« fragte sie gespannt. Wer eine einzelne Antwort gab es gar nicht, denn alle drei schrien durcheinander, und man hörte nur die Worte: »Herrlich – wundervoll – furchtbar schön – einfach fein!«

Und Großmutter sagte, den Sturm der Begeisterung dämpfend: »Ja, ich glaub's, aber davon sprechen wir dann in Ruhe zu Hause. Wir dürfen nicht lange hier stehen bleiben, sonst werden wir eingeschlossen und müßten am Ende die Nacht hier zubringen.«

Im Zuschauerraum waren schon alle Lichter ausgelöscht, ein eiserner Vorhang trennte ihn von der Bühne, und auch auf dieser brannten nur noch die allernötigsten Lämpchen. Arbeiter liefen hin und her, Kulissen wurden geschoben und die Bänke und Tische vom letzten Akt hinausgeschleppt. Voll Neugierde besahen sich die Kinder Großmutters Kastenhäuschen, und mit einem: »Gelt, Großmutter, wir dürfen geschwind hineinsitzen?« sprangen die drei hinunter und drängten sich zusammen auf Großmutters Stuhl. Das Textbuch lag noch aufgeschlagen da, was das Lenerl ganz besonders interessierte, und sie sagte: »Hast du's gut, Großmutter, jeden Abend ein anderes nettes Buch ganz durchlesen zu dürfen!«

»O du Dummerle!« sagte die Großmutter. »Wenn du nur wüßtest, was das für ein Vergnügen ist!«

Fritz machte die Bemerkung, daß es da unten gar nicht so schön sei wie oben, wo sie gesessen, und daß die Großmutter ja eigentlich von den Spielenden nur die Beine gut sehe. Damit war er wieder herausgeklettert und besah sich mit größter Spannung den gemalten Wald und das Jägerhaus. Der kleinen Miezel aber behagte der große freie Raum, und ihn benützend, versuchte sie den lustigen Tanz, den sie von oben gesehen, nachzuahmen, wobei ihr Gesichtchen strahlte und die blonden Locken flogen.

Zwei Herren, die sich über irgend etwas besprachen, traten hinter den Kulissen hervor, und der eine von ihnen sagte, die Miezel erblickend: »Was haben wir denn da für ein kleines Fräulein? – Donnerwetter, ist die hübsch!« fügte er leise gegen den andern Herrn gewendet hinzu. Frau Friedemann grüßte ehrerbietig den Intendanten, den Leiter des Theaters, und sagte nicht ohne Stolz: »Das ist meine jüngste Enkelin. Bitt' um Entschuldigung, daß sie so ungeniert ist, aber die Kinder – sie deutete hiermit auch aus die zwei andern – haben heute zum ersten Male eine Vorstellung gesehen und sind ganz erfüllt davon.«

Fritz hatte sich inzwischen zu der kleinen Schwester gesellt und hatte, ohne die Herren zu bemerken, den Takt mit den Händen geschlagen und wieder ein paar heimatliche Juchzer losgelassen – hier unten durfte man's doch wohl tun.

»Das ist ja einfach entzückend, das kleine Mädel, die sollten wir zum Ballett bekommen!« sagte der erste Herr wieder mit gedämpfter Stimme. »Gerade etwas so ganz Kleines fehlt mir immer!«

Der Meister des Balletts, der er war, lief zu den Kindern hin und ließ sich von der Kleinen eine Hand geben, die dabei nett knickste, – das hatte sie im Kindergarten gelernt. Der Intendant fragte belustigt den Knaben, woher er denn so gut jodeln könne, und lachte, als dieser frischweg sagte: »Jodeln und Juchschrei'n dös hob i von derhoam von den bayrischen Berg'n. Aber hier darf einer ja net mucks'n! Drum hob i mi so g'freut heut abend, wier' i 's amol wieder g'hört hob. Aber die Jule hot mi glei am Krag'n packt, wier' i nur a bissel hob mitschrein wollen!«

»Ein frischer Bursch!« sagte der Intendant. Die Großmutter aber zog die Kinder zu sich her und entschuldigte sich, daß sie so ungeniert seien. Sie hätten sich eben immer noch nicht ganz an die Stadtsitten gewöhnt.

Fräulein Bland hatte inzwischen den Intendanten auf das Lenerl aufmerksam gemacht, die stumm und noch ganz ergriffen dastand, »'s sind herzige Kinder, die Enkelein von der Frau Friedemann«, sagte sie. »Aber dort, die Älteste, das ist mein ganz besonderer Liebling. In der steckt etwas! Die sollten Sie einmal vortragen hören! Wir wohnen im gleichen Haus zusammen, da interessierten mich die Kinder von Anfang an, als sie zu der Großmutter kamen. Sie sind Waisen, und die Frau hat's nicht leicht, sich und die Kleinen durchzubringen«, fügte sie leise hinzu.

Fräulein Bland rief das Lenerl her, und der Intendant sagte gedämpft: »Merkwürdig tiefe Augen hat das Mädel!« Dann aber ging er nach einem raschen Gruß weiter, während der Ballettmeister sich noch immer mit der Miezel beschäftigte, die ganz naiv sagte: »Ich kann auch noch mehr.« Und ohne weiteres fing sie an, ihre kleinen Reigen aus dem Kindergarten vorzumachen.

»Entzückend, einfach süß!« sagte der Herr. »Frau Friedemann, über dieses kleine Prachtmädel sprechen wir noch miteinander.«

Er entfernte sich gleichfalls mit raschen Schritten. Die Damen und die Kinder folgten, obgleich die letzteren gar nicht weg wollten. Aber es war die höchste Zeit, damit sie nicht wirklich eingeschlossen wurden.

Das war noch ein Durcheinander und ein Gerede und ein Gezwitscher von jungen Stimmen beim späten Milchtrinken in der großmütterlichen Stube! Fräulein Bland konnte sich's nicht versagen, alles dies auch mitanzuhören, und brachte ihr Nachtessen mit herüber. Die Jule hatte man auch dabehalten, und ein jedes wußte von etwas anderem zu berichten, was ihm am besten gefallen habe. Schließlich kam man überein, daß halt alles schön gewesen sei, aber jetzt wolle und müsse man doch zu Bett gehen. Die Jule aber summte immer wieder vor sich hin: »Leise, leise, fromme Weise«, und als sie drüben beim Vater war, der noch wachte und sie fragte: »Nun, wie ist's gewesen?« da sagte sie: »Nicht alles hat mir gefallen. Die Leute, die herumsaßen, waren gar nicht recht ernst, waren gar arg herausgeputzt, und etliche haben recht eitel ausgesehen. Und das, was sie spielten, ist halt nur so ein Märlein und so was Ausgedachtes, und ich bin mehr fürs Wahre.«

»So ist's mir auch die paar Male gegangen, wo ich in meinem Leben im Theater war«, sagte der Großvater.

»Aber«, ergänzte Jule, »die Musik, die war, daß man hätte weinen können!« Und mit ihrer kleinen, doch glockenhellen Stimme sang sie in gedämpftem Ton dem bald wieder einschlummernden Vater noch das Lied vor:

»Leise, leise, fromme Weise,
schwing dich auf zum Sternenkreise.«


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