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Zehntes Kapitel

»Ich gratuliere, kleine Kollegin!« – Von einer Himmelsleiter, und wie's die Miezel mit der Angst kriegt. – »Was heulst?« – »Nur nicht eitel werden!« – Warum das Lenerl nicht mehr in der Efeulaube sitzen darf, und was die Schulmädchen von einer Souffleuse halten.

Die Miezel hatte in letzter Zeit ziemlich viele und anstrengende Proben. Es wurde die reizende Oper »Hänsel und Gretel« gegeben, und sie stellte einen der Engel dar, die auf einer Himmelsleiter hinab zu dem schlafenden Geschwisterpaar im Walde steigen. Recht steil war die Leiter; sie reichte fast bis an die Theaterwolken hinauf, und die Englein mußten sich gar sehr zusammennehmen, daß sie ja nicht stolperten und nur ganz leicht und leise von Stufe zu Stufe gleichsam schwebten, denn Engel gehen ja eigentlich nicht. Kurz vorher, in einer anderen Vorstellung, war es vorgekommen, daß Miezel als Elfe auf einem Zweig zu sitzen hatte. Sie kannte keine Furcht und kein Bangen, und kühn saß sie da und schaukelte sich. Aber es mochte wohl zu kühn gewesen sein, denn plötzlich krachte etwas, und die kleine Elfe war mitsamt dem Zweig heruntergefallen. Im Publikum hatte man nichts davon bemerkt, es ging zu rasch. Aber der Schrecken für Miezel war groß gewesen, und von da an war ihr eine gewisse Ängstlichkeit geblieben, die sie auch heute abend nicht los wurde, als sie im langen, weißen, schleppenden Gewande mit den großen Flügeln und den blonden, aufgelösten Haaren die steile Treppe zu betreten begann. Sieben Engel gingen herunter, sieben Engel gingen wieder hinauf, etliche andere hatten sich über das schlafende Kinderpaar zu neigen. Miezel war die Erste von den sieben und mußte vorangehen. Hell und glitzernd lagen die beleuchteten Stufen vor ihr, und durch kleine Ritzen sah man hinunter in eine unendliche Helle. So dumm, wie ihr diesmal die Augen flimmerten! Das war doch noch gar nie gewesen! Und dazu solch ein bängliches Gefühl ums Herz, wie wenn sie etwas herabzöge. Und doch durfte sie nur langsam, langsam schreiten. Miezel machte auch ihre Schritte, wie sie vorgeschrieben waren, aber ein paarmal wankte sie und verwechselte die Füße. Dadurch kam ihr Gewand in Unordnung, und einmal griff sie mit der Hand, die sich betend mit der andern hätte falten sollen, plötzlich in die Luft, wo es doch gar kein Geländer gab. Herrn Bruckmann, der hinter den Kulissen den Gang der Sache verfolgte, wurde sehr unbehaglich zumute, und etwas wie »Donnerwetter, was hat nur das Mädel?« entfuhr seinen Lippen. Miezel war glücklich, wenn auch noch einige Male schwankend, den Himmelsweg heruntergekommen und stellte sich, vorwärts gebeugt, zu Häupten der Schlummernden auf. Den Reigen nachher mit den andern Engeln vollführte sie wie immer tadellos und genau. Als sie aber nachher hinter die Kulissen kam, empfing sie Herr Bruckmann mit einem sehr scharfen Verweis.

»Was ist denn mit dir auf einmal? Was ist nur in dich gefahren, daß man hätte meinen können, du wollest kopfüber anstatt auf den Füßen herunterkommen? ... Du, die doch das Vorbild für die andern sein soll, machst mir solche Sachen und verdirbst uns beinahe die ganze Aufführung!«

Ganz zerknirscht und mit den Tränen kämpfend stand die Engelsgestalt da, und Miezel konnte nur sagen: »Ich weiß nicht, was ich gehabt habe. – Mir war's so dumm zumute, und ich habe solche Angst bekommen.«

Da sagte Herr Bruckmann in fast strengem Ton: »Angst? Das fehlte noch, daß du Angst hättest! Eine junge Ballettkünstlerin und Angst haben! Wozu hätte ich dann all die Mühe an dich verwendet, wenn du mir jetzt auf einmal nicht mehr sicher bist? Nimm dich zusammen!« setzte er in milderem Ton hinzu.

Miezel aber ging ganz vernichtet in die Kleiderablage zu den andern, die sich teilweise schon ihrer himmlischen Gewänder entledigt hatten und der alten Kleideraufsichtsfrau halb wichtig, halb schadenfroh erzählten, die Moosbrugger sei heute beinahe die Treppe hinuntergefallen.

»Der kann auch einmal etwas zustoßen, warum denn nicht?« sagte hämisch ein kleines Mädchen, das großen Neid auf Miezel hatte.

»Das kann einem jeden, du naseweises Ding«, verwies ihm die alte Frau. »Und du, Mimi, hast auch nicht nötig zu spotten, wo deinetwegen erst neulich die ganze Tanzfigur verkrachte!« schalt sie ein anderes Mädchen, das sich die Hände rieb und kicherte: »Das freut mich, daß der Moosbrugger auch mal etwas zustieß!«

Als die noch immer schluchzende Miezel kam und Frau Vogel – so hieß die Alte – ihr beim Auskleiden half, da sagte diese tröstend: »Miezel, was heulst? Hab' schon ganz große Ballettdamen unter meinen Händen gehabt, die einen plötzlichen Schwindel gekriegt haben. Mußt halt das nächste Mal gar nicht dran denken, das ist das beste!«

Damit löste sie sachte und behutsam die Engelsflügel und band der Kleinen die Sandalen ab. Als die Großmutter heraufkam, um Miezel abzuholen, wie sie es immer tat, da sah sie nur noch die lieblosen Blicke einiger der Mädchen, die an ihr vorbei die Treppe hinabgingen, und hörte, wie die eine zur andern sagte: »Recht geschieht's ihr, dem eitlen Ding! Hab' mich diebisch gefreut, wie der Herr Ballettmeister sie so herunterkanzelte!«

Die Großmutter fürchtete sofort, daß das Gehörte sich auf Miezel beziehe; denn auch sie hatte mit Schrecken die Unsicherheit des voranschreitenden Engels bemerkt. Als sie dann die verweinten Augen Miezels sah, sagte sie: »Aber heute, Miezele, hab' ich ein wenig Angst um dich gehabt. Hat dir denn eine deiner Sandalen schlecht gesessen?«

Frau Vogel aber machte der Großmutter hinter Miezels Rücken eifrig Zeichen und flüsterte ihr zu: »Nicht berufen, Frau Friedemann, um's Himmels willen nicht berufen! So ein Angstgefühl setzt sich sonst fest.«

In den folgenden Wochen hatte Miezel nur auf ebenem Boden zu tanzen, und sie machte da in verschiedenen Stücken ihre Sache so gut, daß Herr Bruckmann sie wiederholt lobte und Fräulein Balbi sie zum ersten Male lächelnd ihre kleine Kollegin nannte. Darüber schwoll Miezels Herz vor Entzücken, denn Fräulein Balbi war ihr ein Vorbild in allem. Diesmal sah sie sich mit bewußter Eitelkeit und mit Stolz im Kreise der Gefährtinnen um, ob diese auch gewiß hörten, was zu ihr gesagt wurde. Auch daheim gebärdete sich die Miezel recht selbstbewußt und erzählte mit großem Behagen von ihren Erfolgen. Wie schon einige Male überhob sie, die jüngere, sich über die ältere Schwester, die so gar nichts als lernen tat, während sie, die Miezel, nun doch schon was Richtiges leistete. Wehmütig und bedrückend blieb's für Lenerl, daß sie rein nichts mehr verdiente, während die Kleine nun schon recht hübsche Sümmchen nach Hause brachte, ohne die die Großmutter gar nicht gereicht hätte, und es war nicht schön von der Miezel, ihr das vorzuhalten.

Heute abend war die Kleine überhaupt ganz aus dem Häuschen, trällerte, hüpfte und wirbelte umher, so daß die Jule, die noch da war und den Rest ihres Bonbonberges einwickelte, in recht unwilligem Tone sagte: »Schnapp mir nur nicht über mit deinem dummen Zeug! Vor einer Stunde erst hab' ich dem Lenerl geholfen die Stube reinmachen und abwischen, und jetzt bringst du alles wieder in Unordnung!«

Als aber die aufgeregte Miezel sich hieran nicht kehrte, sondern ihre Übungen noch vor den Spiegel verpflanzte, den Kopf hin und her drehte und dann sagte: »Heut hab' ich ganz deutlich gehört, daß eine Dame vorn im Zuschauerraum zu einem Herrn sagte: ›Zum Anbeißen hübsch ist sie, die kleine Moosbrugger!‹«, da war's der Jule zu bunt, und sie packte das, was zu ihrem Geschäft gehörte, zusammen.

»Jetzt geh' ich aber; solch dummes, läppisches Zeug mag ich nicht mitanhören! Sei du meinetwegen schön oder wunderschön, und dreh du deine Füße so oder so, wie sie's dort haben wollen, aber das weiß ich, daß Eitelkeit die Seele häßlich macht, und daß die schön und rein bleibt, das ist wichtiger als alles andere.«

Bei diesen Worten deckte die Jule das Tuch über ihr Brett und ging fort.

So hatte die Jule noch nie geredet, und die Miezel fühlte gar wohl die Mißbilligung und den Vorwurf heraus. Darum flog sie ihr nach und wollte ihr oben am Treppenabsatz einen Kuß geben. Aber die Jule wehrte ab und sagte: »Laß das nur! Mich hast du ganz traurig gemacht mit solch dummem Reden. Wenn du mir nur um des Himmels willen nicht oberflächlich wirst!« Damit stieg sie vorsichtig tastend – denn es war dunkel – die Stiege hinab.

Der Vater wachte noch – er schlief meistens spät ein – und fragte: »Kommst schon? Hast heute nicht abgewartet, bis die von ihrem Theater heimgekommen sind?«

Die Jule schloß ihr Brett samt dem, was darauf war, in einen Schrank und sagte dann mit bedrückter Stimme: »Doch, Vater, ich hab' sie noch gesehen, die Großmutter und das Kind. Wer was ich von Anfang an befürchtet habe, – die Miezel wird uns eitel. Je besser sie das kann, was sie dort machen muß, desto mehr lobt man sie, und dann meint sie wunder, was sie schon sei. Da mag man sagen, was man will, wenn ich's auch nicht kenne: beim Komödienspiel werden die Leute doch anders als anderswo.«

»Mag sein«, sagte der alte Mann, »auch ich kann's nicht beurteilen und mach' mir oft meine Gedanken darüber. Aber wenn ich zurückdenke, wie ich noch Röcke und Mäntel gemacht habe, und wie die vielen Fräuleins aus allen Ständen zu mir kamen, da hat's doch unter allen Arten Eitle und Nichteitle gegeben. Und wenn ich zurückdenke, wie sich im Leben unserer Hausfrau doch alles so begeben hat ... wie die Kinder doch so tüchtig schaffen, so denk' ich, ein Gottessegen kann überall hinfallen. Und wenn dort die Versuchung wahrscheinlich größer ist für die Kinder als wo anders, so wollen wir sie halt um so treuer unserem Herrgott ans Herz legen!«

»Freilich, Vater, freilich wollen wir das tun und tun's ja immer. Aber die Kinder selber sollten halt ernster sein und mehr zu unserem Herrgott geführt werden«, sagte Jule, und dabei war ihr das Weinen nahe.

Der alte Mann schwieg einen Augenblick. Dann sagte er aber in beruhigendem Ton: »Für das Lenerl ist mir's nicht bang, die mag im Leben stehen, wo sie will, die hat was Ernstes und Gesetztes. Und auch unser Flederwischle kann der liebe Gott mitten in den Eitelkeitsversuchungen bewahren oder auch einen andern Weg finden lassen, so wie er's für gut findet.«

Im Hinter- und Vorderhause waren die Lichter gelöscht, und die Bewohner schliefen. Nur eine junge Mädchengestalt in dem schmalen Bett neben dem der Großmutter bewegte sich noch unruhig hin und her, und jugendliche Lippen flüsterten im Schlaf: »›Kleine Kollegin‹, hat sie gesagt ... ›meine kleine Kollegin!‹«

Das Lenerl ging nun täglich in die neue Schule, und die Damen hatten eine rechte Freude an der neu eingetretenen fleißigen Schülerin. Wäre das Lenerl nicht von Haus aus schon gewissenhaft gewesen, so hätte sie schon Fräulein Bland und den Damen zulieb, die solche Opfer für sie brachten, ihr Äußerstes getan. Nicht leicht war's am Anfang, denn sie, die Zwölfjährige, mußte in einer Klasse mit bedeutend Jüngeren anfangen, mußte überhaupt mit manchen Fächern neu beginnen und nacharbeiten, und wenn sonst das Lenerl mit ihren Aufgaben gar rasch fertig gewesen war, so mußte sie nun den ganzen Abend noch schreiben und lernen. Nicht nur, daß das junge Mädchen das anregende Lernen ihrer Rollen und ihr eigenes Auftretendürfen schwer vermißte, so fand sie jetzt auch kaum mehr Zeit für die ihr so liebe Stunde unter der Efeulaube.

»Das ist ganz gut, mein Lenerl, daß du mit einem Schlage gar nichts mehr vom Theater stehst und hörst«, tröstete Fräulein Bland. »Ein bißchen hart ist's ja schon, aber es muß eben sein, und du sollst jetzt alle deine Gedanken auf etwas anderes richten.«

Das andere! Ach, wie war's manchmal so trocken, so mühsam! Besonders die Sprachen machten Lenerl große Mühe, denn sie mußte da ganz von vorn anfangen. Da half aber wieder Fräulein Bland. Und durfte Lenerl auch nicht träumend unter Efeuranken sitzen, so kam doch die liebe, treue Freundin zu bestimmten Stunden zu ihr herüber und half ihr beim Übersetzen und Aussprechen, und das war immerhin ein Ersatz für vieles. Dabei wurde doch auch manches gesprochen, und das Lenerl konnte ihr Herz ausschütten, wenn ihr in der neuen Schule manchmal etwas fremd vorkam. In erster Linie bedrückte sie ihr Äußeres, das heißt ihr Anzug. War er in der Bürgerschule immerhin ganz recht gewesen, so stach er doch nun recht gewaltig von dem der Töchter aus feineren und reicheren Familien ab, und die Großmutter und Fräulein Bland verstanden gar wohl, daß das für ein junges Menschenkind bedrückend war. Und doch ließ sich trotz langem Hin- und Herreden beim besten Willen die Sache nicht ändern, denn neue Kleider kosteten Geld, und das hatte man nicht. Wohl spendete Fräulein Bland ein älteres Mäntelein von sich und einen Hut, der nicht mehr ganz modern war, und Frau Enderle suchte das bisherige Schulkleid mit einem Einsatz zu modernisieren, aber schön sah das Ganze nicht aus, das mußte man sagen, sondern etwas sehr zusammengestoppelt. Schon am ersten Tage bemerkte Lenerl, wie die Mädchen sie darob ansahen und kritisierten.

»Was Feines ist die Neue nicht«, hörte sie zwei Mädchen zusammen reden. Es waren die Tochter eines Offiziers und die eines reichen Kaufmannes. »Ein nettes Gesicht hat sie ja, aber der Anzug ist greulich!«

Wie einstens, als die Kinder wegen ihrer Gebirgstracht verspottet wurden, so empfand das Lenerl wieder ein tiefes Unbehagen. Aber da sie wußte, daß das Getadelte einfach nicht geändert werden konnte, so nahm sie sich vor, derartiges still und ruhig hinzunehmen. Die Lehrer und Lehrerinnen waren sehr freundlich zu ihr; hatten sie doch die vorzüglichen Zeugnisse gelesen, die Lenerl aus der andern Schule mitbrachte. Und Herr Grill, der Hauptlehrer, sagte ermutigend: »Ich bin überzeugt, daß du dich bald bei uns einlebst und das nachholst, was dir noch fehlt.«

Das Lenerl gab sich alle Mühe und war freundlich und gefällig gegen jede in der Klasse, auch gegen die, die ihr weniger angenehm waren. Im übrigen hielt sie sich etwas fern von den Mädchen, denn sie wußte wohl, daß nähere Bekanntschaften zu Einladungen und dergleichen führen würden, und so etwas konnte sie der Großmutter ja nicht zumuten. Diese schien ihr neuerdings wieder so sehr gedrückt. Oft kam sie recht müde nach Hause, – Lenerl wachte da jedesmal auf, – und wenn sie sonst noch gern ein bißchen zusammen plauderten und die Großmutter sich erzählen ließ, wie es den Abend über gewesen war, und auch der Enkelin, die sich doch so sehr für alles, was ihr liebes Theater betraf, interessierte, von dort berichtete, so winkte sie jetzt meist nur ab und sagte: »Bin müde, Lenerl, mag nimmer reden, will schlafen!«

Aber die Großmutter schlief oft lange nicht, und das Lenerl hörte, wie sie manchmal tief aufseufzte. Was sie nur wohl haben mochte? Gewiß war es wieder das leidige Geld, und Lenerl bedrückte es von neuem, daß sie nun wohl lange nicht zum Lebensunterhalt beitragen konnte. Ein paarmal schon hatte sie zur Großmutter gesagt: »Wie machst du's nur auch, Großmutterl? Mir ist so bang, daß es nicht reicht. Meinst du denn nicht, ich soll doch nebenher noch auftreten und etwas verdienen?«

Aber wieder hatten die Großmutter und auch Fräulein Bland aufs bestimmteste erklärt, sie wünschten es nicht, und jetzt sei die Zeit, wo Lenerl nur an ihr Lernen denken dürfe.

»Nur an das Lernen! Fräulein Bland, wieviel Jahre wird denn das währen, bis ich so weit bin, daß ich wieder Rollen studieren und auftreten darf?« fragte Lenerl. Und sie war sehr niedergeschlagen, als Fräulein Bland erwiderte: »Ich hab' dir's schon oft gesagt, daß wir daran jetzt gar nicht denken wollen. Wer weiß, vielleicht vergeht dir überhaupt die Lust zum Schauspielen, wenn du erwachsen bist, und du wählst dir irgend einen anderen schönen Beruf.«

Aber da war das Lenerl so außer sich gekommen und hatte so bitterlich geweint, daß Fräulein Bland nur zu trösten hatte. »Sei doch nicht gleich so leidenschaftlich! Du weißt ja doch, Kleines, daß ich nur dein Bestes will. Aber ich weiß auch am besten, wieviel Schweres und wieviel Kämpfe mein Beruf mit sich bringt. Und darum sollst du erst einmal wählen, wenn du das alles verstehst und erwachsen bist.«

Fräulein Bland bewegte auch in der Stille die Sorge für die Unterhaltfrage Frau Friedemanns in ihrem Herzen. Wenn auch der Bub jetzt nichts mehr kostete, so wuchsen die beiden Mädel doch heran, und das Leben wurde überhaupt immer teurer. Aber vorderhand schien es ja noch zu gehen, nur wurde Frau Friedemanns Anzug immer weniger modern. Das Kleid, in dem sie allabendlich ihres Amtes waltete, war nachgerade so schäbig, daß Fräulein Willmann, die neueingetretene jugendliche Schauspielerin, zu ihr sagte: »Frau Friedemann, ich glaub', Ihr Kleid stammt noch vom vorigen Jahrhundert!«

Auch der Regisseur, der ihr wohlwollte, hatte trotzdem die Bemerkung gemacht: »Friedemännchen, Sie vernachlässigen sich ein bißchen gar sehr. Das sollten Sie nicht tun. 's ist wegen der Achtung seitens der Herrschaften auf der Bühne!«

Die Großmutter hakte Ehrgefühl und empfand tief die Wahrheit all dieser Bemerkungen, ohne es ändern zu können. Dies und noch manches andere war's, was sie oft so schwer bedrückte und demütigte.

Das Lenerl mochte nun etwa ein halbes Jahr in die neue Schule gegangen sein, und ehrlich, redlich und mit viel Fleiß hatte sie sich einen guten Platz errungen. Auch die Mädchen mochten sie im ganzen gut leiden, und als sie im Frühjahr in einem netten, sauberen Waschkleid erschien, da erregte auch ihr Äußeres keinen Anstoß mehr. Die Mädchen wußten, daß die Mitschülerin ein Theaterkind gewesen, und manchen unter ihnen war sie deshalb interessant geworden. So auch Lilli von Redern und Esther Mayer, die das große Wort in der Klasse führten. Mit Staunen hörten sie anfangs auch zu, wie hübsch Lenerl vortrug. Als diese aber auch die besten Aufsätze machte, worin Lilli bisher die Erste gewesen war, und als gar auf einem Schulfest nicht Esther, sondern der »Neuen« die hübscheste Rolle in einem kleinen Stück zugeteilt wurde, da begannen die beiden gewaltig neidisch zu werden, doch ließen sie sich's vorerst nicht merken.

Lilli von Rederns Geburtstag nahte heran, und sie verkündigte, daß ihre Mama ein Gartenfest geben und die ganze Klasse dazu einladen wolle. »Wenigstens die, die ich näher kenne«, verbesserte sie sich rasch, denn Esther Mayer hatte ihr einen Puff gegeben und dabei geflüstert: »Binde dich doch nicht fest!«

In den lebhaftesten Farben schilderte sie, wie schön das werden würde, mit Tee und Gefrorenem im Freien, nachher Tanz und eine Verlosung, und zuletzt, wenn es dunkel geworden, ein Feuerwerk. Ja, wunderschön mußte so etwas sein. Wer da auch dabei sein durste! Sehnsuchtsvoll hörte Lenerl zu, und ganz in der Stille hoffte sie, auch dazu kommen zu dürfen, denn Lilli hatte ihr gesagt: »Du könntest uns dann eigentlich etwas vorspielen, das wäre gar nicht so übel!« Bei so etwas Schönem sein und am Ende gar einmal wieder ein bißchen spielen zu dürfen! ...

Ganz glückselig kam das Lenerl nach Hause und berichtete der Großmutter und Fräulein Bland von diesen herrlichen Aussichten. Die beiden freuten sich herzlich mit dem Kind, und die Großmutter sagte nach einigem Zögern: »Fräulein Marietta hat mir neulich von einem ganz einfachen, weißen Kinderkleid gesagt, das ihr liegen geblieben, weil das Mädchen, für das es bestimmt war, Trauer bekommen hat. Sie meinte, das wäre etwas für unser Lenerl, und sie könnte es mir ganz billig überlassen. Was meint ihr? Soll ich so leichtsinnig sein und es kaufen?«

Frau Friedemann erlag der Versuchung, – einmal mußte mau doch dem Kinde die Freude machen, daß es den andern ähnlich war. Sie bekam das Kleid auch wirklich zu dem billigen Preis, und Fräulein Bland hatte eine blaßblauseidene Schärpe dazu geliefert, eine Farbe, die sie selber jetzt nicht mehr so gern trug. Der Staat lag ausgebreitet auf Großmutters Bett, und sämtliche Hausbewohner, auch die Jule, besahen und bewunderten ihn, und das Lenerl war glückselig. Nun fehlte nur noch die Einladung, die, wie Lenerl genau wußte, morgen ergehen sollte.

Fröhlich ging sie am andern Tag in die Schule, und erwartungsvoll vernahm sie, wie die Mädchen untereinander von der geschriebenen Einladung verhandelten, die sie heute mit der ersten Post bekommen hatten. Warum aber sie nicht? Der Briefträger hatte doch schon vor dem Frühstück eine Karte von Fritz gebracht! Wie merkwürdig, daß auch Lilli gar nichts zu ihr sagte, und daß sichtlich das Gespräch der andern verstummte, wenn sie in der Nähe war.

Die Stunde begann, aber das Lenerl war diesmal nicht bei der Sache. Immer wieder mußte sie darüber grübeln, warum sie allein kein Brieflein bekommen hatte. Ob es wohl Zufall war? Ob sie wohl in der Pause Lilli geradezu fragen sollte?

»Lenerl, Lenerl Moosbrugger, ich habe dich schon zweimal aufgerufen zu antworten! Ich glaube, du träumst heute ein bißchen!« sagte der Lehrer plötzlich, und Lenerl fuhr zusammen und war beschämt, denn sie hatte wirklich die Frage gänzlich überhört.

Ihre Nachbarin, Olli von Lützow, ein nicht sehr begabtes, aber sehr liebes Mädchen, sah sie heute so ganz besonders freundlich an, und als es läutete und die Pause begann, sagte sie leise zu Lenerl: »Mußt dir's nicht zu Herzen nehmen – meine Mama erlaubt mir auch nicht, zu dem Fest zu gehen. Sie mag solche großen Sachen nicht.«

Lenerl wußte nicht, was sie von diesen Reden halten sollte, und noch immer erwog sie, ob sie nicht Lilli sagen solle, daß keine Karte zu ihr gekommen sei. Aber diese wich ihr sichtlich aus, und als sie Esther Mayer, die Vertraute von Lilli, befragen wollte, da konnte sie diese im Schulgarten nicht gleich finden. In der Mitte des Gartens stand eine Hütte. Lenerl bog eben um die Ecke, da hörte sie Lillis Stimme, wie sie zu irgendeinem der Mädchen sagte: »Rederns können doch einfach die Lene Moosbrugger nicht einladen, seit sie gehört haben, daß ihre Großmutter die Souffleuse im Theater ist – die Frau mit dem altmodischen Hut und dem wunderlichen Mantel, der man auf hundert Schritte schon ansieht, daß sie was ganz Untergeordnetes und Gewöhnliches ist!«

Jäh wich Lenerl ein paar Schritte zurück. Es war ihr zumute, als habe man ihr einen Schlag ins Gesicht gegeben. Also mit Absicht nicht eingeladen war sie! Ausgeschlossen von den andern! Und warum? Weil ihre liebe, gute, prächtige alte Großmutter sich ihr Brot mit anstrengender, redlicher Arbeit verdiente, und weil sie sich nicht schön anziehen, keine schönen Kleider kaufen konnte! Und für wen war das? Für wen hatte sie sich all das auferlegt?

Lenerl zitterte am ganzen Leibe. Das durfte sie sich nicht gefallen lassen – für die Großmutter mußte sie einstehen. Mit raschem Entschluß ging sie die paar Schritte vorwärts und erschien in der Hütte, wo die meisten Mädchen, auch Lilli, beisammenstanden und eifrig sprachen. Unheimliche Stille trat ein, als das Lenerl so unerwartet mitten unter ihnen stand und mit blitzenden Augen sagte: »Ich hab' nicht hören sollen, was ihr gesagt habt, aber ich bin gerade um die Ecke gekommen. Wenn ihr aber von meiner Großmutter in solchen Ausdrücken sprecht, so kann ich das nicht leiden. Wohl sieht sie nicht fein aus und trägt ihre alten Kleider, weil sie für uns zu sorgen hat und deshalb keine neuen kaufen kann. Untergeordnet ist ja wohl der Beruf, den sie hat, aber er ist ein ehrenwerter, wichtiger Beruf, und wenn ihr sagt, sie sei eine gewöhnliche Frau, so sage ich euch, sie ist die edelste, beste, für uns die höchststehende, die ich kenne.«

Lenerls Wangen waren blutrot geworden, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie mit einer raschen Bewegung die Hütte verließ. Dort war noch einen Augenblick Schweigen, aber dann brach ein lebhaftes Durcheinanderreden los. Ein großer Teil der Mädchen, die vorher Lilli und Esther zugestimmt und gesagt hatten: »Ja, die Moosbrugger gehört nicht in seine Gesellschaft, – du hast ganz recht daran getan, sie nicht einzuladen, – sie ist auch immer so eingebildet auf das, was sie kann«, die sagten nun auf einmal: »Am Ende hättest du sie doch nicht ausschließen sollen.«

Und als eines der Mädchen, die sonst stille Laura Hugendubel, schüchtern sagte: »Die Frau Friedemann hat ein Kränzchen mit meiner Großmutter, der Frau Rechnungsrat Hugendubel, und da sind noch mehr ganz seine Damen dabei«, da wandte sich plötzlich wieder das Blatt zugunsten der Geschmähten, und da Lilli mit Esther weggegangen war, hieß es: »Die Lilli ist eben doch recht eitel und hochmütig, das muß man sagen!«

Nach Schluß der Schule ging das verweinte Lenerl an der Seite Ollis von Lützow, die mit einem gewissen Trotz zärtlich den Arm um sie gelegt hatte, heimwärts. Da kam eine nach der andern von den Mädchen zu ihr und sagte: »Mir darfst du nichts übel nehmen!« – »Ich habe nichts über deine Großmutter gesagt!« – »Mir tut's arg leid, daß Lilli dich nicht eingeladen hat!«

Nicht eingeladen! Jetzt, als Lenerl ihren Weg vollends allein zurücklegte, kam die ganze Schwere dieses Wortes wieder über sie, und mit tiefster Betrübnis gedachte sie des neuen Kleides, der Schärpe und dessen, was wohl Großmutter dazu sagen würde.

Diese hatte sofort entdeckt, daß ihr Lenerl geschwollene Augen hatte, und fragte: »Hast du am Ende deine Aufgaben heute nicht gekonnt?«

Da schluckte das Lenerl ein paarmal und zögerte mit der Antwort. Und sie, die sonst nie eine Unwahrheit über die Lippen brachte, flüsterte stockend ein kaum vernehmbares »Ja« vor sich hin.

Der Großmutter erschien das ganz merkwürdig, denn so etwas kam ja fast nie vor, aber sie mußte es doch glauben. Und ernsthaft, ein bißchen in verweisendem Ton, sagte sie: »Ei, Lenerl, Lenerl, wirst mir doch nicht durch die Aussicht auf das Fest zerstreut und nachlässig geworden sein?«


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