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Sechstes Kapitel

Von der Nandl, die findet, drei Esser seien zuviel. – Vom Lenerl, und wie es Großmutters Sorgen teilt. – Warum ein fremder Herr Fräulein Bland besucht und dann wieder »entzückend« sagt. – Warum die Großmutter den Brei anbrennen und die Wäsche kalt werden läßt und Fritz sagt: »Mit den Armen fuchteln ist dumm!« – Von drei Kindern, die verdienen helfen.

Etliche Wochen waren seit jenem ersten Theaterbesuch der Kinder verflossen, aber die gehobene, fröhliche Stimmung war nicht geblieben. Für Frau Friedemann hatte die letzte Zeit erneute Sorgen gebracht. Die Kohlenrechnung mußte bezahlt werden und dazu der Hauszins. Der Apotheker hatte schon zum zweiten Male seine Rechnung geschickt. Dazu liefen auch noch die Steuerzettel ein, und nun war es wirklich wie verhext, als alle drei Kinder auf einmal dringend neue Stiefel brauchten. Die Großmutter, deren Kasse kaum noch zum täglich Notwendigen reichte, wußte sich trotz des äußersten Sparens nicht mehr zu helfen. Fräulein Bland traf die Nachbarin einmal, wie sie verzweifelt rechnete und berechnete. Und sie, die, was Geld anbelangte, sonst unendlich verschlossen war, konnte ihren Kummer und ihre Angst vor der Zukunft nicht mehr verbergen. Wie gerne hätte Fräulein Bland geholfen! Aber trotz ihrem schönen Verdienst ging es auch bei ihr knapp zu. Sie hatte noch an einer Schuld abzubezahlen, die sie gemacht hatte, um die Erziehungskosten für den Bruder zu bestreiten. Wohl war ein großer Teil davon getilgt, und sie hoffte, daß der nun Erwachsene bald selber beisteuern könne. Aber noch war es nicht so weit. Und wenn sie auch in der letzten Zeit einen langen Brief von ihm erhalten hatte, daß er Aussicht habe, eine gute Stellung als Reisender in einem Seidengeschäft zu bekommen, so hatte er sie doch noch nicht. Und außerdem brauchte sie ja als Schauspielerin so viel Geld für Kleider und Kostüme.

Die zwei Frauen berieten lange zusammen, und endlich sagte Frau Friedemann: »Mir bleibt nichts anderes übrig, als an die Nandl nach Bergwies zu schreiben. Ihr Mann, der Bürgermeister und Vormund, verwaltet noch ein kleines Kapital für die Kinder. Er soll mir ein paar hundert Mark davon schicken. Ich kann's in Gottes Namen nicht mehr allein machen!«

Der Nandl Brief lautete sehr teilnehmend und verständnisvoll, aber Geld enthielt er nicht. Leider könne ihr Mann das Geld, das gut angelegt sei, im Augenblick nicht flüssig machen. Da er aber wohl einsehe, daß die Last für die Großmutter zu groß sei, so möchten sie beide vereint der Großmutter nochmals vorschlagen, ihnen das Miezel zu schicken. Sie wollten's gewiß gut halten und zu einem braven Menschenkinde erziehen. Der Fleischer habe auch ein paarmal schon angefragt, ob denn das Lenerl wirklich in der Stadt bleibe. Seine Frau könnte es jetzt so gut bei den sieben Kindern zur Hilfe gebrauchen. Es sei nämlich wieder ein Kleines gekommen. Und daß das Lenerl stark und kräftig zur Arbeit würde, dafür wolle er schon sorgen – Fleisch gebe es bei ihm alle Tage.

Nandls Brief schloß mit den Worten: »Jetzt meine ich halt so: drei Esser sind zuviel für eine Witwe in Ihrem Alter, und Sie haben immer noch genug Mühe und Ausgaben, wenn Sie für den Fritz sorgen. Glaub's schon, daß es Ihnen schwer wird. Aber was nicht geht, geht nicht. Drum schicken Sie die Mädel, sobald Sie können. Schreiben Sie genau den Zug, mit dem sie kommen. Mein Mann holt sie dann an der Haltestelle ab. Es ist ein neuer Schullehrer im Ort, da können die Kinder auch das lernen, was sie brauchen. Und auf das Lenerl will ich schon auch achtgeben, daß die Fleischersfrau ihr nicht zuviel aufladet.

Ihre getreue Nandl Hinterhuber.«
Bergwies, den 2. April 19..

Dieser Brief, der so gut gemeint war, brachte eine furchtbare Aufregung in die kleine Wohnung am Markt. Als die Großmutter ihn erhalten hatte, wußte sie sich nicht anders zu helfen, als sofort damit zu Fräulein Bland hinüberzugehen, und auch diese war, nachdem sie ihn gelesen, ganz niedergeschmettert und ratlos. War's denn Hochmut, daß der Großmutter ganzes Herz sich dagegen sträubte, die Kinder wieder in die alten Verhältnisse zurückzugeben? Oder was war's, daß sie immer wieder ausrufen mußte: »Ach, nur das nicht – jetzt wieder auseinander müssen, wo wir uns so zusammen eingelebt haben! Und was würde der Bub anfangen ohne seine Schwestern? Und die Miezel ohne ihren Fritz, wo sich die zwei doch so liebhaben! – Und erst unser Lenerl? Ich kann mir in Gottes Namen nicht helfen: das Kind ist zu gut dafür, daß es bei einem Metzger Fleisch austrägt und der Frau ihre Kinder hütet und für sie putzt und wäscht!«

Und so wie Frau Friedemann dachte auch Fräulein Bland, und mit nutzlosem Hin- und Herreden vergingen ein paar Tage. – Frau Friedemann verkaufte den einzigen Schmuck, den sie besaß, eine goldene Brosche, die sie einst von ihrem Bräutigam erhalten; damit bezahlte sie das augenblicklich Dringendste.

Die Kinder merkten wohl, daß irgend etwas nicht in der Ordnung war, und Fritz sagte zu den Schwestern: »Ganz gewiß, ich habe heute nacht gehört, wie das Großmutterl geschluchzt und geweint hat, und wie sie immer wieder zu dir, Miezel, hinüberschaute. Und dann hat sie sich zu dir hinuntergebeugt und hat dir ganz leise einen Kuß gegeben.«

»Aber ich bin doch gestern lieb und nicht unartig gewesen!« sagte die Kleine und weinte auch beinahe, denn sie glaubte, die Großmutter sei ihretwegen traurig.

Fritz meinte aber dann: »Vielleicht hat sie auch bloß Kopfweh oder Leibweh gehabt. Wenn das recht arg ist, da muß man auch weinen.«

Das Lenerl sagte nichts, aber es nahm sich fest vor, sobald als möglich die Großmutter zu fragen, was denn eigentlich los sei. Das tat sie denn auch am selbigen Nachmittag, als sie nach der Schule die Großmutter ausnahmsweise daheim an ihrem Schreibtisch sitzend traf. Meistens saß sie nun dort und gar nicht mehr so oft wie sonst am Arbeitstisch. Und auch heute lagen wie all die letzte Zeit her allerhand Papiere, mit Zahlen beschrieben, herum.

Lenerl schlich sich leise von hinten her und legte den Arm um die in tiefen Gedanken Dasitzende. »Großmutter!«

Diese sah erschreckt auf, denn sie hatte des Kindes Nähe nicht bemerkt, und gab ihm einen flüchtigen Kuß. Damit ließ sich das Lenerl heute aber nicht abspeisen, war sie nun doch schon neun Jahre alt und ein verständiges Mädchen. Darum nahm sie sich das Herz und sagte: »Großmutterl, so sag mir nun doch auch einmal, warum bist denn jetzt immer gar so traurig?«

Frau Friedemann wehrte ab: »Das ist man halt manchmal, Lenerl, und jetzt geh nur und mach deine Aufgaben!«

Das Lenerl ließ sich aber nicht ohne weiteres fortschicken, sondern redete weiter: »Großmutterl, immer sagst du, ich sei deine Alte und deine große Tochter, und doch sagst du mir gar nicht, warum du auf einmal so ganz anders bist als vorher. Hast du uns denn gar nicht mehr lieb?«

Das Kind schmiegte sich an Frau Friedemanns Schulter. Da aber konnte sich diese nicht mehr zurückhalten, und indem sie die Enkelin fest an sich drückte, stammelte sie mit hervorbrechenden Tränen: »Weil wir uns wahrscheinlich trennen und voneinander müssen, Lenerl! Deshalb bin ich so betrübt.«

Auf einmal war's ihr, als könne sie wirklich dem Kinde das anvertrauen, was sie bedrückte, als müsse dieses nun doch auch wissen, worum es sich handle, und sie holte Nandls Brief, las ihn vor und erklärte die Sachlage.

Ganz still und ernsthaft hatte Lenerl zugehört, und nur ein paarmal, wenn die Rede von Trennung war, war es zusammengezuckt. Als aber die Großmutter sich überwand, ihre Tränen trocknete und in möglichst fröhlicher Weise dem Kinde auseinandersetzte, wie vielleicht die Bürgermeisters-Nandl recht haben könne, und wie es vielleicht für ihre und Miezels Zukunft besser sei, wenn sie dort aufwüchsen, da hatte das Kind ein kurzes, heiseres »Nein!« ausgestoßen und war dann der Großmutter um den Hals gefallen.

»Nein, o nein, Großmutterl, gelt, du schickst uns nicht fort? Gelt, du behältst uns? Gar nichts essen wollen wir, und ich will auch immer das alte, blaue Kleid anziehen. Und der Fritz soll nicht mehr beständig auf dem Bürgersteig schleifen und seine Sohlen zerreißen. Und die Miezel zanken wir tüchtig aus, wenn sie gleich wieder mit einem Riß im Kleid nach Hause kommt! Aber nur dableiben, gelt? – Nur dableiben! – Was würde auch Fräulein Bland dazu sagen und die Jule, wenn wir fort müßten! Und meine Schule, Großmutterl, meine Schule! Ich will ganz gewiß noch viel, viel fleißiger lernen als bisher. Und – besinnen wir uns doch – vielleicht könnte ich auch schon etwas verdienen.«

Das Lenerl erging sich in den undenkbarsten Vorstellungen, wie und wo es etwa für Geld arbeiten könnte. Es meinte, ob es nicht vielleicht der Jule helfen könnte Gutsle einwickeln. Es wolle gern die halbe Nacht dazu aufbleiben.

Aber diese, die auch von dem Familienkummer erfuhr, schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Kinderarbeit für Fabriken ist nicht erlaubt, mein Lenerl. Auch mußt du deinen Schlaf haben, wo du noch so im Wachsen bist, Liebes!«

Was war da zu machen? Von Tag zu Tag schob Frau Friedemann die Antwort nach Bergwies hinaus. Ganz abschlagen konnte und wollte sie die Sache noch nicht. Hatten doch auch ihre Freundinnen in dem Kranz, den sie als einzige Erholung noch dann und wann einmal besuchte, ihr entschieden zugeredet und gesagt: »Das haben wir von Anfang an kommen sehen, daß es so nicht geht! Hättest die Kleinen lassen sollen, wo sie waren, und hättest dir nicht eine solche Last aufladen sollen.«

Die Freundinnen meinten es gut, aber sie wußten ja gar nicht, wie oft Frau Friedemanns Tochter einst zu ihr gesagt hatte: »Gelt, Mutter, wenn die Mädels einmal heranwachsen, nimmst du sie zu dir und läßt sie in eine gute Schule gehen?« Und die Frauen wußten auch gar nicht, wie furchtbar einsam und verlassen sie sich nach dem Tode ihres Mannes gefühlt hatte. –

Es schlug zehn Uhr, und Frau Friedemann ging in die Probe. Das Lenerl hatte heute keine Schule, weil große Reinigung war, und sie saß, wie in jeder freien Stunde, die sie erhaschen konnte, drüben bei ihrer geliebten Fräulein Bland. Sie hatte ein Schulbuch mit hinübergenommen und lernte auswendig. Das Fräulein war an ihrem Schreibtisch beschäftigt. Da klopfte es an die Türe, und herein trat ein Kollege von Fräulein Bland, der Herr Oberregisseur Schwarz. Nach kurzer Begrüßung saßen sich die beiden gegenüber. Das Lenerl wollte aufstehen und hinausgehen, aber Fräulein Bland sagte, sie könne wohl im Nebenzimmer bleiben und weiterlernen. Der Herr sah der Kleinen nach und rückte dann sofort mit dem Zweck seines Kommens heraus.

»Wir sind in großer Not, Fräulein Bland, und wenn es irgend möglich ist, so müssen Sie mir helfen. Nächste Woche soll Don Carlos gegeben werden, und das kleine Mädel, das darin eine Rolle zu spielen hat, ist krank geworden, und keines der andern Kinder eignet sich dazu. Der Herr Intendant erinnerte sich, daß Sie ihm von einem Kind gesprochen, das so gut vortragen könne. Deshalb bin ich nun bei Ihnen, und wenn's möglich ist, müssen Sie mir helfen! – Ist's am Ende die Kleine, die eben hier durchkam?« fragte er und setzte einen Kneifer auf. Das Lenerl saß bei offener Tür im Nebenzimmer, hatte beide Daumen in den Ohren und lernte.

Fräulein Bland nickte bejahend und sagte: »Ja, die ist's. Wir wollen aber ein bißchen leiser sprechen, daß sie uns nicht versteht. Das muß ich Ihnen aber vor allem sagen: ich weiß nicht, ob die Großmutter des Kindes erlaubt, daß die Kleine auftritt.«

Eine Zeitlang flüsterten die beiden nun zusammen, dann sagte Fräulein Bland: »Für alle Fälle können Sie das Lenerl ja einmal irgend etwas aufsagen hören; es ist wirklich überraschend, wie gut sie das macht!«

Das Fräulein öffnete die Tür des Nebenzimmers. »Willst du einen Augenblick hereinkommen, Lenerl? Ich würde dich gern deine neue Aufgabe überhören. Gelt, es ist das Gedicht von Rückert: ›Es läuft ein fremdes Kind usw.‹? Du brauchst dich vor diesem Herrn nicht zu schämen, er ist ein großer Kinderfreund.«

Das Lenerl tat's nicht gern, aber weil ihre liebe Fräulein Bland ihr ermutigend zunickte, begann sie. Und sowie das Lenerl einmal in etwas drin war, empfand sie alles so tief, daß sie unwillkürlich richtig aussprach und mit großem Verständnis das auswendig Gelernte wiedergab.

Herr Schwarz sah unverwandt die Kleine an und sagte dann, zustimmend nickend: »Sehr hübsch – sehr gut – auch die Stimme ist gut und das Aussehen!«

Das Lenerl wußte nicht, was der Herr mit dem »Aussehen« meinte. Das war beim Hersagen doch gleichgültig!

Und noch erstaunter war sie, als Fräulein Bland sagte: »Lenerl, mach uns einmal den Spaß und mach es mir nach, wie ich neulich meine neue Rolle lernte! Weißt du, das, wo es hieß: Eilende Wolken, Segler der Lüfte!«

Das Lenerl schämte sich gewaltig. Wie konnte Fräulein Bland auch so etwas von ihr verlangen! Hatte sie doch damals bloß, weil die Verse so wunderschön klangen, versucht, es nachzusprechen, und unwillkürlich hatte die dann die Bewegungen gleichfalls nachgemacht. Aber so was vor dem fremden Herrn! Das tat sie gar nicht gerne. Als aber Fräulein Bland ermutigend sagte: »Das war so nett, – komm, mach mir die Freude!« da stellte sich das Lenerl auf und fing an vorzutragen. Und je weiter es kam, desto weniger schämte es sich, die Verse waren eben gar zu schön, da konnte man gar nichts anderes daneben mehr denken.

»Entzückend! Einfach ausgezeichnet!« rief der Herr lebhaft und klatschte dabei in die Hände. »Das ist wirklich ein Talent! – Das ist ja gerade das, was wir brauchen!« Und von neuem sprach er eifrig auf Fräulein Bland ein. Dann rief er das Lenerl zu sich her und stellte noch einige Fragen an sie, wie alt sie sei, in welche Schule sie gehe, und indem er sich nun rasch verabschiedete, sagte er: »Also nicht wahr, Sie tun Ihr äußerstes? So etwas findet man ja selten. – Und wenn Sie mit der alten Dame gesprochen, so geben Sie mir sofort Antwort!«

Fräulein Bland saß ein paar Minuten noch stillschweigend und in sich versunken da, so daß Lenerl schon meinte, sie habe etwas nicht recht gemacht. Aber das Fräulein sagte nur: »Im Gegenteil, gut war's!« Und dann fügte sie bei: »Nimm deine Bücher; wir gehen zusammen zur Großmutter hinüber. Ich muß etwas mit ihr besprechen!«

Frau Friedemann war in der Küche und wusch Kinderwäsche. Sie tat das jetzt immer selber, obgleich ihr Rheumatismus durch das lange Stehen nicht besser wurde. Ein Kinderhöslein wand sie eben aus und guckte nicht gerade sehr erfreut in die Höhe.

»Ach, Fräulein Bland, können Sie nicht lieber nach Tisch ein bißchen herüberkommen? Ich kann jetzt nicht gut reden, – muß die Wäsche noch vor Abend fertig haben!«

Aber Fräulein Bland kehrte sich nicht daran: »Friedemännchen, ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen sich die Hände abtrocknen und geschwind mit mir hereinkommen.«

»Was gibt's denn?« fragte die Großmutter etwas unwirsch, folgte aber dann doch der Aufforderung.

»Nun mal los, – viel Zeit habe ich wahrhaftig nicht!«

Wer aber seine Wäsche mitsamt dem Auswinden und Aufhängen gänzlich vergaß über dem, was Fräulein Bland in der nächsten Viertelstunde vorbrachte, das war Frau Friedemann. Man hatte das Lenerl in die Küche hinausbeordert, sie solle nach dem Haferbrei sehen, daß er nicht anbrenne, und nur die Miezel saß in einer Ecke und ließ ihr Püppchen tanzen. Die verstand ja noch nichts von dem, was gesprochen wurde. Aber über der Großmutter Ausrufe: »Ach nein, ach nein, Fräulein Bland, das tu ich nicht!« – und wieder: »Mein Lenerl aufs Theater geben, wo sie mir am Ende gar eitel wird?«, da war die Miezel aufmerksam geworden und war dann mit ihrer Puppe in die Küche hinausgelaufen.

»Du, Lenerl, sie sprechen vom Theater, und daß du dazu solltest. Aber das Großmutterl will's nicht leiden.«

Da sprang das Lenerl auf vom Herd, ließ Brei Brei sein und stürzte in die Stube hinein. »Großmutter! – Fräulein Bland – ist's wahr, was die Miezel sagt? – Daß sie mich haben wollen? Daß ich was spielen dürfe im Theater? O Großmutterl, o Fräulein Bland, sagt doch ja! O Fräulein Bland, das wäre herrlich! Und ich will mir auch gewiß alle Mühe geben, es recht zu machen!«

Die Großmutter zankte und sagte, so weit sei's noch lange nicht, und Kinder hätten draußen zu bleiben, wenn man sie hinausgeschickt habe. Aber nun war das Lenerl einmal da und blieb auch und wollte weiter wissen. Sie saß am Tisch, die Arme verschränkt, weit vorgebeugt, und folgte dem Gespräch der beiden.

Die Großmutter kämpfte einen schweren Kampf. Alles, was sie etwa Nachteiliges vom Theater schon gehört und von ihrem Souffleurkasten auch selber schon beobachtet hatte, fiel ihr ein, und sie sagte: »Nein, nein, ich leid's nicht!«

Da aber erwiderte ihr Fräulein Bland, daß auch sie einstens ein »Theaterkind« gewesen und trotz mancherlei Versuchungen ernst und brav geblieben sei. »Nicht der Stand, Friedemännchen, macht den Menschen zu etwas Rechtem oder etwas Unrechtem, sondern das, wie er seine Arbeit in diesem Stande ausführt. Schon lange hat mir das hervorragende Talent Lenerls zu denken gegeben. Auch so etwas schenkt der liebe Gott nicht umsonst! – Nun aber noch etwas, was mir im jetzigen Augenblick gleichfalls recht wichtig vorkommt! Sie stecken in Sorgen, liebes Friedemännchen, und durch die Kinder haben Sie große Ausgaben. Wollen wir's da nicht als eine Schickung ansehen, daß das Lenerl, wenn man's brauchen kann, schon etwas verdienen würde? Und für das Kind selber wäre es wahrhaftig ein schöner und erhebender Gedanke, sich sagen zu können: So jung ich bin, so darf ich schon mithelfen, meiner Großmutter ihre Sorgen abzunehmen.«

Lenerls Augen waren bei dem Gespräch immer größer geworden, und als Fräulein Bland das vom Verdienen gesagt hatte, da war das Kind aufgesprungen und war der Großmutter um den Hals gefallen. Und wieder in die nun schon beinahe abgelegte Mundart zurückfallend, rief sie: »Großmutterl, Großmutterl, i bitt di, sag ja. Müh' will i mir geb'n und brav will i bleib'n und euer Freud' sollt ihr an mir hob'n! – Dös versprech i euch in d'Hand!«

Ein paar Minuten nachher rief Fräulein Bland den Herrn Oberregisseur Schwarz ans Telephon und sagte: »Die Großmutter hat ihre Einwilligung gegeben, und ich werde die Kleine morgen zur Probe mitbringen. Wenn's so geht, wie ich mir denke, so werden wir bald eine bleibende kleine Kollegin an ihr bekommen, denn das Kind ist wirklich hervorragend talentvoll. Ich selber werde sie in meine Lehre und unter meine Obhut nehmen.«

Die Bewohner von Frau Friedemanns Wohnzimmer kamen aber noch lange nicht zur Ruhe. Der Brei brannte an, und die Wäsche im Zuber wurde kalt, und niemand kümmerte sich darum. Hin und her besprach sich die Großmutter mit dem über ihre Jahre verständigen Lenerl. Immer wieder konnte sie nur sagen: »Aber gelt, du wirst mir nicht stolz? Gelt, du wirst mir nicht eingebildet?«

Fritz, der aus der Schule heimgekommen war, und dem man die Sache mitteilte, sagte: »Mich tät's nicht freuen. Verse lernen ist dumm, und sie hersagen und mit den Armen dazu fuchteln, noch dümmer.«

Die Miezel aber blieb keinen Augenblick mehr auf ihrem Stuhl sitzen, sondern hüpfte beständig von einem Fuß auf den andern und rief: »Mit dir nehmen mußt mi, Lenerl, mit dir nehmen!«

Und so war's nun gekommen, daß das Lenerl ein Theaterkind geworden.

Die Probe damals war zur Zufriedenheit ausgefallen; auch der Intendant hatte sich die Kleine angesehen, und Fräulein Bland hatte ihr in den nächsten Tagen die Rolle beigebracht und immer wieder gesagt: »Es ist merkwürdig, wie dieses Kind alles so leicht lernt und auffaßt!«

Und dann wurde das Lenerl wieder aufgefordert und wieder. In vielen Stücken kommen Kinder vor, und wie manchmal hat da schon ein ungeschicktes, das steckenblieb oder seine Aufgabe nicht ernst nahm, eine ganze Szene verdorben. Das geschah nun bei Lenerl nie. Einmal war es wie in der Schule so auch hier sehr pflichtgetreu und nahm seine Sache immer ernsthaft, schon um der geliebten Lehrerin willen. Nun erst konnte das Lenerl so recht verstehen, wieviel Arbeit und Fleiß dazu gehörte, eine Rolle gut zu lernen und richtig zu spielen. Wie leicht erscheint einem dies, wenn man nur so zusteht, und wie vieles mußte da beobachtet werden! Immer mehr wurde es Lenerls größte Freude, unter Fräulein Blands Efeulaube in der freundlichen, sonnigen Ecke an ihrem Arbeitstischchen sitzen und zusehen zu dürfen, wie diese ihre Rolle einstudierte. Und das kleine Mädel sah ihr da manches ab und merkte sich vieles, was zu ihren Kinderrollen paßte. Eine unsagbare Freude aber war es für Lenerl, als eines Tages – es war am Letzten des Monats – die Großmutter nach Hause kam und, nachdem sie sich rasch umgezogen hatte, sich an den Tisch setzte und ihren Beutel zog.

»Jetzt, Lenerl, da komm einmal her!« Langsam und bedächtig und mit großer Feierlichkeit zählte die Großmutter zehn funkelnagelneue Markstückchen auf den Tisch.

»Da, Herzenskind, das ist dein, das hast du verdient!«

Ob wohl je in der Welt Markstückchen so wunderbar glänzten und so herrlich aussahen wie diese? Immer wieder fragte das Lenerl: »Ist das wirklich mein Geld? Hast du's wirklich ganz allein für mich bekommen?«

Die Geschwister standen staunend herum und sahen fast ehrfürchtig auf die große Schwester. Die Jule kam dazu, und auch ihr ward jedes einzelne Stückchen gezeigt, und sie mußte es in die Hand nehmen. »Von mir verdient, Jule, von mir!«

Da mußte auch die Jule, die durchaus nicht damit einverstanden war, daß das Lenerl auch schon beim Theater mittue, sich doch von Herzen freuen, und sie sagte: »So war mir's auch zumute am ersten Zahltag damals, wo ich noch in der Fabrik war und meinen ersten Lohn bekam!«

Nun wurde gründlich nach allen Seiten hin überlegt, wozu dieses Geld am besten zu verwenden sei. Die nächsten Tage schien es Lenerl in der Stube doppelt warm zu sein, denn Großmutter hatte schließlich mit den zehn Mark die drückende Koksrechnung bezahlt.

Aber nachdem der erste Schritt getan war, folgte auch der zweite. Der Herr Ballettmeister hatte das kleine, blondlockige Mädel, das damals so zierlich vor ihm getanzt hakte, nicht vergessen. Als bald darauf ein großes Ausstattungsstück, »Die Puppenfee«, gegeben wurde, wozu man gar viele Kinder brauchte, die Puppen und allerlei Spielzeug vorstellen sollten, da hatte er geradezu die Großmutter um ihre kleinste Enkelin gebeten und auch um ihren Enkel, da es auch Bubenrollen – Affen, Hasen, Bären und allerlei derartiges Ungetier – gab. Wieder mußte sich die Großmutter überwinden und wußte allerlei Gegengründe. Aber schließlich mußte sie selber einsehen, daß, wo eins der Kinder war, die andern wohl auch sein konnten, und daß, weil sie einmal selber des Abends nicht daheim sein konnte, die Kinder doch ihr näher und in gewissem Sinne mehr unter ihrer Obhut waren als zu Hause. An vielen Abenden war ja auch Fräulein Bland dort beschäftigt, und das Hinführen und Abholen der Enkel besorgte sie selber. Und gar zu oft war's ja nicht, daß die Kinder mitzuspielen hatten.


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