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Sechstes Kapitel.

Von Blumen, und was Onkel Andres sagt. – Im Weinberg, und wie Hannele über drei Mäuerlein springt. – Der verschwundene Peter, und warum Kathrine sagt: »Gott Lob und Dank, Insektenpulver!« – Warum Hannele über beschmutztem Briefpapier weint.

 

In den kommenden Tagen waren Großmutter und Hannele viel beschäftigt im Hausgarten. Bohnen und Gurken waren ja längst eingetan, aber die Spätzwetschgen wurden heruntergemacht und die Beete umgegraben, gerecht und gedüngt. Die Gartengewächse hatten sich nach dem Hagelschlag wieder teilweise erholt, teilweise waren sie nachgewachsen, und Obst gab es noch immerhin, wenn auch nicht so schönes, tadelloses wie sonst. Öhmd war auch einiges nachgekommen, und in den nächsten Tagen sollte im oberen Weinberg geherbstet werden. Es war immerhin ein Drittelsertrag zu erhoffen. Alle diese Arbeiten verrichtete Hannele nach der Schule nicht ungern. Das liebste aber waren ihr die Blumen im Garten, worunter sie ihre ganz besonderen Lieblinge hatte. Dahlien und Astern, brennende Liebe und Reseda standen noch in vollem Flor. Und als Lydia nach drei Tagen wieder ging, hatte ihr Hannele einen prächtigen Strauß gebunden, ganz groß und wie eine Pyramide geformt, so daß die Beschenkte lachend gesagt hatte: »Da mach' ich drei davon in der Stadt, – die Reseden kriegt der Onkel, die Dahlien bekommt die Tante, und die rosa Astern stelle ich in mein Stübchen und denk' dabei noch lange an mein liebs Hannele.«

Frau Ritter aber meinte, wo nur auch das Hannele das schöne Blumenbinden herhabe, das könne ja kein Gärtner besser machen. Ja, darin war Hannele von jeher geschickt. Schon als ganz kleines Mädchen band sie Sträußchen aus Gänseblümchen, Vergißmeinnicht und Schlüsselblumen, auch Körbchen von Kletten und Schilf verfertigte sie nach eigener Idee und legte darein Beeren oder Eicheln oder Pilze, was es gerade gab. Ins Lehrerhaus war manch solches Körblein gewandert, denn Herr und Frau Ritter hatten eine große Freude daran, aber auch die Großmutter freute sich, solch niedliche Sachen auf der Kommode zu haben, und für den Sonntag durfte Hannele den ganzen Sommer hindurch einen Strauß im Garten holen und in die schöne, silbrige Glasvase stellen, die noch vom Großvater herstammte. –

Zum Herbsten kam für ein paar Tage der Vetter Gottlieb ins Haus, derselbe, der damals beim Heuen geholfen hatte. Ohne männlichen Beistand wäre man nicht zustande gekommen. Er kam auch sonst manchmal, um nach der Bläß zu sehen, und des Abends nach seiner Taglöhnerarbeit fand er sich auch des öftern ein und rauchte sein Pfeifchen bei der Großmutter. Sie waren Geschwisterkinder und miteinander aufgewachsen, und wenn sie beisammen saßen, da gab es immer mancherlei zu bereden. Aber nicht nur von der Vergangenheit und Verwandtschaft, Vetter Gottlieb hatte außer dem Taglöhnern noch ein anderes Amt: er war auch Totengräber. Und wenn, was in dem kleinen Dorfe ja nicht gerade oft vorkam, ein Todesfall eintrat, so hatte er die letzte Wohnung zu richten und bei dem Begräbnis zu sein. Wer aber glaubt, daß der Alte dadurch trübselig und sehr ernst gestimmt gewesen wäre, der täuschte sich. Im Gegenteil! Für ihn war der Tod eines Menschen nur ein Hinübergehen in eine bessere Welt, und das Graben eines Grabes dünkte ihm fast, wie wenn die Mutter ein Bettlein für eines ihrer Kinder richtet. Mit dem Fortgehen von Philipp und seiner Frau war er im stillen nicht einverstanden gewesen. Sie hätten damit warten können, bis ihre Mutter nicht mehr lebte, war seine Ansicht. Aber geäußert hatte er diese nie, er hatte die Ansicht, daß man die jungen Leute machen lassen müssen und ihnen nicht dreinreden dürfe. »Unser Herrgott tut's auch nicht,« konnte er sagen. »Der läßt auch jedes Menschenkind seinen eigenen Weg gehen.«

Im Weinberg draußen war heute alles voller Leute. Die Schulkinder hatten frei zur Lese, und wo sie in den eigenen Weinbergen nichts zu tun hatten – leider waren es deren in der Umgegend ziemlich viele – so halfen sie da, wo's noch etwas zu helfen gab. Hannele hatte Karline eingeladen. Mit Hippchen – krummgebogenen Messerchen – und einem Kübelchen in der Hand, gingen die Mädchen von Stock zu Stock, schnitten Traube um Traube ab und zupften dann die einzelnen faulen oder vertrockneten Beerlein weg. War das Kübelein voll, so trug man's auf dem Kopf die Weinbergstaffeln hinunter auf den freien Platz und leerte es in die große Bütte in der Kelter aus.

Auch die Großmutter war noch sehr rüstig bei der Arbeit, nur das Steigen der Staffeln fiel ihr schwer, und die Kinder nahmen ihr das ab. Zum Vesper setzten sich die Großmutter, der Vetter und die zwei Freundinnen auf ein sonniges Weinbergmäuerlein, und es gab Schwarzbrot mit weißem »Luckeleskäs« und süßen Most, das schmeckte einfach herrlich. »Gottlob,« sagte der Vetter, indem er sich mit seinem Taschenmesser ein Stück Brot abschnitt und es so recht gründlich, wie die Bauern es nach ihrer Arbeit zu tun pflegen, kaute, »gottlob, es ist doch noch viel besser geworden, als man damals nach dem Unwetter zu hoffen wagte.«

»Ach ja,« stimmte die Großmutter bei, »ich wollte nur, daß der Philipp und die Kathrine heute auch dabei sein könnten! Ich wollte, man könnte ihnen ein Schächtelein voll Trauben schicken. Trauben gibt's ja wohl dort drinnen gar nicht auf dem großen, weiten Camp, wie sie's heißen?« Und wieder, wie jetzt beim Ausgang fast eines jeden Gesprächs, endete dieses mit dem Gedenken an die fernen Reisenden.

Karline meinte: »'s ist doch schon so mächtig lange, daß sie fortgegangen sind, und nur die eine Postkarte habt Ihr bekommen,« worauf Hannele, für die Ihrigen fast beleidigt, erwiderte: »Ja, meinst du denn, man könne da vom Schiff aus Briefe auch so ohne weiteres wie hier in einen Briefkasten werfen? Vater sagte, daß wir vor acht Wochen, selbst wenn sie sofort bei der Ankunft schreiben, keine Nachricht mehr erhalten könnten. Vier Wochen hinüber, vier Wochen herüber, das macht acht volle Wochen aus, und vor Mitte Oktober können wir, leider Gottes, auf nichts hoffen!«

»Au, das ist lange,« sagte Karline und nahm dabei einen mächtigen Schluck Most. Sie dachte aber weiter nicht viel dabei, denn im Nebenweinberg hatten die Schulmeistersbuben Frösche losgelassen. Die hüpften nun mit leichtem Knallen über das Weinbergmäuerlein zu den Mädchen herüber, so daß diese erschreckt in die Höhe fuhren und, Unsinn machend, anfingen, mit Stückchen roter Weinbergerde zu bombardieren.

Der Vetter scherzte: »Wenn ihr alles hinüberschmeißt, so haben wir ja keinen Boden mehr für unsere Stöcke,« und die Mädchen hielten lachend inne und gingen wieder an ihre Arbeit.

Zum Mittagessen gab's warmen Kaffee, der, in Tücher eingepackt, in der Frühe mit herausgenommen worden war. Die Sonne schien vom klaren Septemberhimmel, und den Arbeitenden war warm geworden, da schmeckte der Kaffee doppelt gut. Gegen Abend aber ward's kühl, und die Arbeit war nun auch beendet. Etwas früher als sonst war man fertig geworden, und noch einmal wurden die Mostflaschen und Brotlaibe hervorgeholt und ein Imbiß genommen, ehe man heimkehrte.

»Hoffentlich haben sie dort auf dem Meer klares Wetter,« sagte die Großmutter wieder, und ein jedes der Feiernden suchte sich vorzustellen, wie denn das wohl auch sei, wenn man immer nur Wasser und Wasser und gar nichts anderes mehr sehen könne.

Da rief vom nächsten Weinberg eine Männerstimme herüber: »Frau Aldinger, ich hab' etwas für Sie mit heraufgebracht, 's ist mit der letzten Post angekommen.« Es war der Briefbote, der hier oben auch ein kleines Weinberglein hatte, und Hannele hatte diese Worte kaum gehört, so sprang sie auf und kletterte wie eine Katze über zwei, drei Mäuerlein, um ebenso rasch mit einem Brief in der Hand wieder herüberzukommen: »'s ist vom Mutterle, 's ist vom Mutterle!« konnte sie nur in allergrößter Aufregung sagen. Und auch die Großmutter zitterte ordentlich vor Überraschung. »Ja, wie kann denn das auch jetzt schon sein?«

Hannele wollte den Brief nur so ohne weiteres aufreißen, obgleich hinten herüber eine Marke mit einem mächtigen Schiff darauf geklebt war. Der Vetter aber nahm ihr das Schreiben aus der Hand und sagte: »Oha, so macht man's nicht! So was wird ordentlich und regelrecht aufgeschnitten!« Und nachdem er zuerst sein Käsemesser an einem Büschel Gras abgestrichen und den Brief umständlich und ordnungsgemäß geöffnet hatte, gab er ihn dem vor Erwartung ganz zappelig werdenden Hannele, und nun durfte diese lesen. Diesmal fing der Vater an, und es hieß:

 

An Bord der Esperanza.
Anfang Oktober 1904.

Liebe Großmutter! Liebes Hannele!

Ihr werdet erstaunt sein, jetzt schon einen Brief von uns zu erhalten. Das kommt so: Wir werden morgen wahrscheinlich einem großen Dampfer begegnen, der ein Boot aussetzt und Briefe in Empfang nimmt. So kriegt Ihr bälder, als wir dachten, Nachricht, und das ist recht. Wir schwimmen jetzt schon vierzehn Tage, und es ist kein Vergnügen zu denken, daß wir fast noch einmal so lange auf dem Schiff bleiben müssen. Unsere Karte von Hamburg werdet Ihr erhalten haben. Als wir eingeschifft wurden, ging's ganz tief hinunter, bis zum Zwischendeck. Dort kamen Kathrine und Mariele aus die eine Seite zu den Frauen, ich mit Peter auf die andere Seite, wo die Männer sind. Die Kabinen sind allemal für fünfzehn bis zwanzig Personen berechnet, und ein jeder hat für sich ein Plätzle nur so groß, daß er höchstens zwei Schritte machen kann. Die Lagerstätten, bestehend aus einer hängenden Matratze, einem Polster und einer Decke, sind so knapp über einander, daß, wenn man sich schnell aufrichtet, man den Kopf anschlägt. Es ist eine Anzahl Männer in unserer Kabine, die schon einmal drüben waren. Die hatten es los und belegten sofort die oberen Betten. Dies sind die besseren, obgleich man mit einer Leiter hinaufsteigen muß. Es passiert einem auch nichts so Unangenehmes von wegen der Seekrankheit, wenn man oben ist, als wenn man unten liegt, aber ein Sichbeklagen gibt's da nicht. Und gerade so ist's bei der Kathrine drüben. Kaum daß wir eingestiegen waren, wurden wir in einem großen Raum alle samt und sonders von einem Doktor untersucht, ob kein Krankes darunter sei. Einige waren verdächtig und wurden sofort, ob sie wollten oder nicht, in die Spitalabteilung gelegt. In den folgenden Tagen wurden wir alle geimpft, obgleich wir's doch schon waren, und Kathrine hatte schwere Arbeit mit Mariele, deren Ärmchen ganz hoch anschwollen. In den ersten Tagen hatten wir furchtbar Nebel, und niemand konnte schlafen wegen dem Tuten des Nebelhorns, – das tut gerade wie ein wildgewordener Stier. Wir hatten auch hohe Wellen, ich glaube, sie wären über unser Häusle daheim gegangen. Ich hab' mir fest vorgenommen, nicht seekrank zu werden, aber ich war's doch sechs Tage lang, da hilft kein Wollen. Ich sag' Euch, das ist scheußlich, und ich wäre ganz gern gestorben. Den Peter hat's nicht gepackt, er ist ganz gesund geblieben, und das war für mich arg, denn er wollte beständig hinaus auf das Verdeck, und ich konnte doch nicht nach und sehen, was er treibt. Einmal hat uns der Peter einen argen Schrecken eingejagt. Denkt Euch nur, gerade als mir am allerübelsten gewesen, war das Büble auf einmal verschwunden. Als er so lange nicht mehr kam, krabbelte ich mich heraus und ging ihn suchen, aber nirgends war er zu finden. Ich sagte es endlich der Kathrine, die lief wie verzweifelt auf dem ganzen großen Schiff herum, und etliche sagten: »Der wird sich halt zu weit vorgebeugt haben und hinuntergefallen sein.« Da hättet Ihr die Kathrine sehen sollen, – kein Tröpfle Blut hat sie mehr im Gesicht gehabt. Aber auch mir ist das Übelsein ganz vergangen. Da auf einmal kommt etwas die Treppe vom Maschinenraum herauf, etwas ganz Kohlschwarzes, Kleines und hinter ihm drein ein Heizer. Der rief mit lauter Stimme: Wem dieses Kind gehöre, das zu ihnen hinuntergekommen sei, der möge sich melden! Wir taten's erst nicht gleich, das schwarze Geschöpf konnte doch nicht der Peter sein? – Aber er war's doch! Haar und Gesicht wie ein Neger, sein schöner neuer Anzug über und über voll Ruß! Der Malefizkerl wollte sich einmal aus der Nähe das »Feuerle« da unten ansehen und stieg dazu die fast senkrechten Leitern, die beinahe vier Stockwerk tief ins Innerste des Schiffes führen, hinunter. Stellt Euch nun vor, wenn er ausgelassen hätte! … Drunten habe er gesagt, er möchte sich nur ein bißle das Feuer ansehen und die vielen Puff-Puff. Und er habe sich gar nicht gefürchtet vor dem Höllenlärm, sondern habe allerlei geschwätzt und gefragt. Der Heizer, der mit ihm heraufkam, sagte, das sei ein ganzer Kerl, und er habe auch so einen daheim. Geschwitzt hat der Peter, – ich sag Euch, die schwarze Brühe ist nur so an ihm heruntergelaufen, und die Kathrine hatte keine kleine Arbeit, bis sie ihn nur einigermaßen wieder rein bekam. Um das schöne Jüpple ist's aber jammerschade, das bringt man nimmer zurecht. Ein paar Ohrfeigen hat der Schlingel dann gekriegt, obgleich wir ja glücklich waren, ihn wieder lebendig zu haben. Sie waren gesalzen, damit er sie nicht gleich wieder vergißt. Und denkt Euch, wie merkwürdig, meine Seekrankheit war von dort an wie verschwunden! Aber jetzt soll die Kathrine fortfahren, Euch zu schreiben. Nur das will ich noch sagen, daß wir viel an Euch denken, und Ihr sollt Euch nichts abgehen lassen. Wie gut mag die Luft jetzt im Weinberg sein! Habt Ihr wohl schon geschnitten? …

Und jetzt mache ich weiter, die Kathrine, und sag Euch hundert und hunderttausendmal Grüß Gott! Es geht uns im ganzen ja gut, aber das Leben auf so einem Schiff hab' ich mir doch anders gedacht! Auf dem Verdeck, wenn man hinaus kann, ist's ja schön, und wenn das Meer so grausig weit und mächtig vor einem liegt, da fällt einem manches aus der Bibel ein von der Größe Gottes, und was der Lehrer einem in der Geographiestunde gesagt hat. Wundernett ist's auch, wenn die weißen Möwen um einen herumfliegen und Stücklein Brot auffangen, welche die von der ersten Kajüte hinunterwerfen. Wir werfen kein Brot hinaus, denn was wir bekommen, ist nicht zu viel. Am ersten Tag gleich erhielt jede von uns Frauen einen großen Henkeltopf, mit dem marschieren wir dann vor den Mahlzeiten in die Küche, wo wir unser Essen hereinkriegen. Alles in den einen Topf: Suppe, Bohnen, Kraut. – Man muß sich an dies Essen gewöhnen, und anfangs schmeckte es ja keinem. Fürs Mariele kann ich Milch und Zwieback haben, muß das aber extra bezahlen. Mein Mariele ist mir ein rechter Trost, denn sie ist die einzige unter allen in meiner Kabine, die alleweil lustig und vergnügt ist … (bei diesen Worten versagte Hannele die Stimme, und es währte eine ganze Weile, bis sie vor Schnupfen und Schluchzen wieder weiterlesen konnte:) … Das Mariele ist auch der Liebling von allen, aber ich leide nicht, daß die andern Weiber es auf den Arm nehmen, denn ich hab's in der Gesellschaft nicht gut getroffen. Wir haben auf dem Schiff eine große Anzahl von polnischen Auswanderern, und Ihr macht Euch gar keinen Begriff davon, wie diese Frauen und Kinder schmutzig sind, und welchen Geruch sie an sich haben. Ob die je einmal ihre Wäsche gewechselt haben? Die schlafen dicht neben und unter einem, und Ihr könnt Euch denken, was das für eine Luft gibt! Und dann das Ungeziefer! Ich bin so froh, daß die Wirtin in Hamburg mir noch gesagt hat, ich müsse auch Insektenpulver mitnehmen. So streu ich alle Abende das Mariele und mich von oben bis unten ein, und nur so haben wir ein bißchen Ruhe. Ich wollt', ich könnt' beim Philipp sein, aber so ist's nun einmal. Wenn's gut Wetter ist, dann gehen wir hinaus ins Freie, breiten unsere Teppiche aus und liegen dann wenigstens in der guten Luft. Wie gut ist's da, daß wir in Hamburg noch mehr Teppiche gekauft haben, denn manchmal weht ein recht kalter Wind, und dann hat man doch etwas, um sich drin einzuwickeln, und die Kopftücher sind auch recht am Platz. Nun, es ist auch schon über die Hälfte der Reise vorbei, und dann wird's ja wohl besser kommen! Ich schreib' Euch auf einem Brett, das man aufklappen kann, und das Mariele will mir alle Augenblicke die Feder aus der Hand reißen. Ein paar Haarnadeln hat es mir schon herauszogen … (»O mein Goldiges!« schaltete Hannele hier ein. »Ach ja, gerade so hat sie's bei mir auch immer gemacht!«) … Das Mariele macht mir wohl viel Mühe, aber es ist auch mein Trost, liebes Hannele, und ich weiß nicht, wie mir's jetzt zumute wäre, wenn ich's nicht bei mir hätte! (Hier schaltete die Großmutter ein »Gottlob!« ein.) Jetzt eben hat man uns hinaufgerufen, es seien Delphine zu sehen, das war merkwürdig. Das sind Fische, die blasen ganze Springbrunnen aus ihrer Nase heraus, und das sieht sehr lustig aus. Lustig ist auch, wenn nach der Mittagstafel die Leute aus der ersten Klasse von oben herab Orangen und gute Sachen werfen. Darüber freut sich ein jedes, besonders die Kinder. Wenn sie aber Geldstücke herunterwerfen, gibt's gewöhnlich eine Balgerei, und das mag ich nicht, – da mag ich nichts davon haben!

Mutter, liebe, gute Mutter, kannst Du auch schlafen? Läßt Dich Deine Gicht auch gegenwärtig in Ruh? Tu nur nicht zu viel, der Vetter und das Hannele sollen Dir immer das Gröbste abnehmen! (Bei diesen Worten nickte der Vetter mit dem Kopf.) Und gelt. Du tust Dir auch manchmal was zu gut? Laß Dir beim Ochsenwirt eine Flasche Rotwein holen und trink davon, wenn Dir's schwach wird! Hat die Näh-Sophie meinem Hannele schon das Kleid gemacht? Ist das Öhmd gut hereingekommen? Jetzt muß ich schließen, sie sagen, das Schiff komme bald vorbei.

Ich grüße alle in ganz Wiesental, besonders auch Herrn Ritter, den Vetter Gottlieb und halt – alle, alle.

Eure ewig getreue
Kathrine.

 

NS. Da, wo's ein bißle schmutzig ist, hat das Mariele sein Händle hergelegt, wie ich gesagt hab', ob sie einen Gruß ihrer Ann-Ann schicken wolle. Ich wasch's den Tag über gar oft, aber immer wieder wird's schmutzig durch den Kohlenstaub.

 

... Nun war der Brief zu Ende gelesen, und einen Augenblick lang sagte keines der Anwesenden etwas. Nur Hannele strich immer und immer wieder über die bezeichnete Stelle, wo die kleine Hand ihres Lieblings geruht hatte. Ach, wie wollte sie ihr Herzkäferle verküssen und an sich drücken, auch wenn's noch viel tausendmal schmutziger gewesen wäre, wie die Mutter schrieb! … Dann aber mußte man den Brief zusammenfalten und einstecken, denn es war Zeit zum Heimgehen, auch waren alle rechtschaffen müde von der langen Tagesarbeit.

Am nächsten Tage aber, es war ein Sonntag, kam eins nach dem andern aus Wiesental zu der Großmutter, – sie hätten gehört, es sei ein Amerikanerbrief angekommen, und sie möchten halt doch auch gerne wissen, was der Philipp und die Kathrine schrieben. Und immer wieder von neuem setzte die Großmutter die Brille auf oder las Hannele vor, was in dem interessanten Briefe stand, dessen Inhalt vorderhand noch bei keinem Bewohner von Wiesental Neid erregte.


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