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Viertes Kapitel.

Warum das Mariele mit Schokolade gestopft wird und Hanne einen Pfropf im Hals hat. – Schaffen macht leichter ums Herz. – Was Kathrine in der Nacht beim Fahren denkt, und wie Philipp mißtrauisch ist. – Eine Stube, die sich bewegt, und eine Straße, über die man nicht kann.

 

»Hurra, hurra, – wir gehen nach Amerika!« So schrie am andern Morgen der Peterle immer wieder in hellstem Vergnügen. Erstens hatte er einen nagelneuen Anzug an, ein Lodenjüpplein, einen Tirolerhut und dazu feste Lederhosen, so wie sie die Bauern im Orte trugen, und überall hatte er Taschen: »Eins, zwei, vier, sechs!« so zählte er in großem Stolz seiner Großmutter vor, und all die Taschen und Täschlein waren übervoll von Schokolade, Äpfeln und kleinen Tüten mit allerhand guten Zuckerlen. Jedermann, der noch kam, um die Fortziehenden zu begrüßen, steckte dem Peter etwas zu, und Kathrine hatte nur abzuwehren, daß man ihr nicht auch noch das Mariele stopfte; jetzt schon hatte es ein ganz braunes, klebriges Mündchen von Schokolade und von einer Feige, die ihm jemand in die Hand gegeben hatte. Obgleich der Weg zum Bahnhof eine halbe Stunde betrug, so ließen es sich die meisten Leute vom Dorfe doch nicht nehmen, noch bis dorthin zu gehen. Für die Familie Werner selber hatte der Ochsenwirt sein Gefährt angespannt, hintenauf lag das Gepäck.

Auch die Großmutter fuhr noch mit. Sie wollte Hannele nicht allein zurückkehren lassen und wollte doch auch bis zum letzten Augenblick dabei sein, das gehörte sich. Ging man doch auch mit auf den Kirchhof, wenn ein Liebes von einem schied, und hier war's ja doch fast gerade so, – ein Wiedersehen auf dieser Erde schien ihr ausgeschlossen.

Hannele hielt ihr Mariele fest umschlungen, und als ob dieses sie schon verstehen könnte, redete sie beständig ganz leise ihm ins Ohr: »Mein Goldkäferle, mein allerherzigstes! Mein Schnuckerle, mein liebs, – mußt nicht weinen! Ich wein' auch nicht! Dein Hannele kommt ganz, ganz bald nach, und dann bringt's dir das Millemille mit und die Gluck-Gluck und einen ganzen Sack voll Äpfele vom Luigenbäumle. Und dann springt's Mariele ihr entgegen, und wir bleiben immer, immer beieinander! … Gelt, Schätzle, gelt?« …

Und das Mariele guckte zu all den lieben Wörtlein etwas dumm und duselig in die Welt hinein. Es war alles so ungewohnt, und es hatte auch nicht richtig ausgeschlafen.

Wie schnell war die Fahrt vorüber und der Bahnhof da! In Hanneles Herz und Hals war's nun, wie wenn ein dicker, dicker Pfropf drin steckte, und sie hätte am liebsten hinausgeschrieen. Aber vor all den Leuten, die noch da waren, nahm sie sich doch zusammen, um so mehr, da die fremdesten Weiber mit Schürzen und Taschentüchern hantierten und schluchzten, als wäre man wirklich bei einem Begräbnis, und das war's doch nicht. Es war nur ein großer Wirrwarr, und alles ging nun sehr rasch. Ein jeder wollte noch etwas sagen und die Hand schütteln. Der Peter, der bis dahin so fidel gewesen, war nun auf einmal außer sich, als Hannele ihm sein Häschen, das man ihm erlaubt hatte, bis hierher mitzunehmen, wegnahm, und er schrie, wie wenn er am Spieße steckte: »Ich geb's nicht her, und ich nehm's mit!« Aber da hörte man schon den Zug heranrollen, und der Vater packte energisch seine Hand. Der Stationsmeister, auch ein alter Bekannter des Philipp, riß eine Türe Abteil dritter Klasse auf, und Kathrine fiel der Großmutter zum letztenmal um den Hals und umschlang ihr Hannele. »Schnell, schnell!« mahnte der Stationsmeister und schob die Eltern mitsamt dem sich heftig sträubenden Peter hinein. Und nun mußte Hannele auch ihr Goldkäferle abgeben. Noch im letzten Augenblick war's ihr, als müßte sie herausbetteln: »Ach, bitte, bitte, laßt mir's doch!« Aber sie wußte, daß das ja unmöglich war. Nur noch ein Küßle und dann noch eins, und dann ward die Wagentür zugeschlagen, und ein paar Dutzend Hände winkten, und alles blieb stehen, bis der Zug in dem Einschnitt unten am Waldrande verschwunden war …

Nun nahm die Großmutter ihr Hannele an der Hand und sagte – wie klang ihre Stimme doch so ganz anders als sonst –: »So, jetzt müssen wir eben suchen, miteinander fertig zu werden – gottlob, daß ich dich hab'!«

Viele von den Frauen kamen noch her und wollten wortreich trösten, und einige von denen, die am meisten geweint hatten, sagten: »'s ist eineweg nicht recht, daß man Euch so allein läßt!« Und: »In dem Amerika ist schon manches verkommen, was wunder was gemeint hat!«

Darauf erwiderte die Großmutter aber nichts, und sie war recht froh an dem Wäglein, das hinter dem Stationsgebäude gehalten hatte, und in das sie wieder einsteigen und all den Menschen entrinnen konnte.

Hannele war wie vor den Kopf geschlagen. Jetzt, wie war nur so etwas möglich? Gerade noch hatte sie das warme, liebe Körperchen von ihrem Mariele im Arm gehabt, und nun war alles leer, und ihr Kleines fuhr dahin, – war jetzt schon weiter, als manche Leute in einer Stunde laufen konnten! Peters Häslein schmiegte sich schnuppernd an sie, aber Hannele beachtete es nicht, und es wäre beim Aussteigen beinahe unter die Räder gefallen, wenn es sich nicht noch fest eingekrallt hätte.

Als man heim kam, da lag noch alles herum, man hatte ja nicht mehr aufräumen können, und die Großmutter sagte: »Wir wollen zuerst Ordnung schaffen.« Für Ordnung war die Großmutter ja vor allem, äußerlich und innerlich. Und sie trugen zusammen das Frühstücksgeschirr hinaus und spülten es, sie zogen die Betten der Fortgereisten ab und schichteten sie in der Kammer auf, wo die Großmutter ein großes, buntgewürfeltes Tuch darüber breitete. Besser war's, das alles gleich zu tun, nachher war's vielleicht noch schwerer. Und dann mußte man der Bläß Futter geben, und Hannele setzte vorher Peters von ihr vergessenes, ganz verschüchtertes Häslein wieder zu den andern. Danach galt's, die Hühner zu besorgen – alles war außer Ordnung heute – und inzwischen war's beinahe Mittag geworden. Es war eigen, daß man das alles konnte, und daß das alles so weiter ging, wie wenn nichts geschehen wäre. Die beiden sprachen auch gar nichts weiter über den Abschied, nur der dicke, dicke Pfropf in Hanneles Hals, der war immer noch da, und der Großmutter faltiges Gesicht war noch um einen Schein blässer als sonst.

Das Essen schmeckte auch keinem, obgleich sie beide nicht gefrühstückt und gevespert hatten. Aber die Großmutter sagte: »Wir wollen doch essen!« Und nachher, als das bißchen Geschirr geordnet war, holte sie in der Tenne draußen zwei Hauen und gab die kleinere davon der Enkelin. »So, jetzt wollen wir zusammen auf den Acker gehen und Kartoffeln ausmachen – Arbeit ist gut!«

Der Schullehrer hatte Hannele heute freigegeben, und sie hatte sich vorgenommen, gleich nach dem Essen zu ihrer Freundin Karoline, der Tochter des Kaufmanns über der Straße, zu gehen, mit der unbewußten Absicht, sich dort so recht gründlich auszuweinen. Die Karoline hatte ihr auch gestern gesagt: »Deine Großmutter darf dir schon jetzt recht viel Vergnügen verschaffen, wo du doch ihretwegen hiergeblieben bist!«

Ziemlich bestimmt, aber immerhin etwas ängstlich sagte Hannele: »Ich hab' heut frei und wär gerne zur Karline!«

Aber da erwiderte die Großmutter kurz und bündig: »Es ist besser, du gehst mit!« Und wenn die Großmutter so sagte, dann widersprach ihr niemand, selbst die Eltern hatten's nicht getan.

Mißmutig, mit ihrer Hacke auf ihrem Rücken, schlich Hannele hinter der alten Frau drein. Ihr Gewissen sagte ihr, daß sie heute gerade lieb mit der Großmutter sein müßte, hatte doch die Mutter auf dem Bahnhof ihr dies noch extra für die nächste Zeit ans Herz gelegt. Aber war sie, Hannele, denn nicht ebenso traurig, und hätte ihr nicht eine kleine Zerstreuung gut getan?

Auf dem Acker angekommen, konnte Hannele nun nicht mehr viel sinnieren. Eigentlich tat sie sonst gerne Kartoffeln heraus, es war das solch ein nettes Geschäft, mit der Hacke einzuhauen und zu sehen, wie die kleinen und großen runden Dinger so herauskollerten. Sonst, bei nassem Wetter, war's unlustig, die Früchte von dem anklebenden Schmutz zu reinigen. Heute aber war's eine Lust, die trockenen, reinlichen Knollen in den Korb zu legen. Die Herbstsonne schien warm und doch nicht zu heiß. Das Käsebrot und der Most, die die Großmutter mitgebracht hatte, schmeckten nach mehrstündiger Arbeit auf einem grünen Rain nun doch recht gut, und es war merkwürdig, um wieviel leichter es Hannele ums Herz geworden war.

Auch die Großmutter sagte unvermittelt: »Das ist gut, daß der Abschied vorüber ist, – nun ist etwas, was immer vor einem gestanden, hinter einem. Und wenn Gott Kraft gibt, so kann man wieder neu anfangen.«

Hannele konnte jetzt auch von ihrem Mariele reden, ohne daß gleich ein Schmerzensausbruch erfolgte. Und als die beiden, tüchtig müde von der Arbeit, im goldenen Abendscheine nach Hause gingen, da ward ihnen fast friedlich zumute. Freilich im Hause, als die Sonne untergegangen war und sie nach dem Nachtessen so allein in der sonst mit lieben Leuten aller Art gefüllten Stube saßen, da kam das Erlebte übermächtig über die zwei, und doch war's noch zu früh zum Schlafengehen.

Da klopfte es an die Türe, und Hanneles Lehrer trat ein. »Wollte nur noch geschwind nach Ihnen sehen, liebe Frau Aldinger, – kann mir denken, daß der heutige Abend kein leichter für Sie sein wird! Darf ich mich ein bißchen setzen?«

Das war eine Wohltat, daß jemand kam! Und Herr Ritter sprach nun ganz ruhig davon, wo die Reisenden nun etwa sein könnten. Dabei zog er eine Karte hervor, auf der er der Großmutter und Hannele den Weg anschaulich machte, den die Fortgezogenen zu machen hatten. Und dann erzählte er ihnen, was er aus Büchern wußte, von dem fernen, fremden Lande Argentinien, wodurch die Großmutter noch viel mehr erfuhr als seither aus den Briefen. Er sprach von fremden Ländern überhaupt, und wie die Welt so groß und weit sei, und wie klein wir einzelnen Menschenkinder darauf seien. Wie aber, wenn ein jedes seine Pflicht gerade auf dem Plätzlein, wo Gott es hingestellt hatte, tue, es allein Frieden ins Herz bekomme und eine frohe Aussicht darauf, auch einmal alle diese großen, wunderbaren Schöpfungswerke Gottes sehen zu dürfen. Wie unbewußt hatte er beim Sprechen über die Pflichterfüllung seine Hand auf Hanneles Kopf gelegt, und beim Fortgehen sagte er so liebreich wie noch nie zu ihr: »Wenn's die Großmutter erlaubt, Hannele, so besuch uns auch manchmal. Lydia ist gegenwärtig hier, sie läßt dir sagen, daß es sie herzlich freuen würde, dich zu sehen!« Lydia war die älteste, von allen jüngeren Mädchen des Dorfes angeschwärmte Tochter des Lehrers. Sie war in der Stadt, um Nähen zu lernen und daneben im Haushalt von Verwandten zu helfen. Zu ihr kommen zu dürfen, war für Hannele wirklich eine große Freude. Zur Großmutter gewendet aber sagte Herr Ritter: »'s ist nur gut, Frau Aldinger, daß Sie die da haben!« Und Hannele und der Großmutter herzlich die Hand schüttelnd, verabschiedete er sich.

Während die beiden Zurückgebliebenen zu Bett gingen und vor großer Müdigkeit auch bald einschliefen, fuhr der Zug mit den Auswanderern weiter und weiter dem Norden zu. Ein langer, recht ermüdender Tag – einer, wie sie ihn noch nie erlebt, – lag hinter ihnen. Der Abschied, dann ein sehr volles Abteil, Peter, der beständig aufstehen und herumlaufen wollte, wo kein Platz war, das Mariele, das nicht gewöhnt war, immer auf demselben Fleck zu sitzen, und das immer energischer nach seiner Ann-Ann verlangte, das machte, daß die Eltern abends todmüde und glücklich waren, als die beiden Kinder endlich schliefen. Sie selber hatten sich auf den harten Holzbänken vermittels Wollteppichen einen Sitz zurechtgemacht, – zum Liegen war kein Platz. Sie versuchten zu schlafen, aber das Geratter der Räder, das plötzliche Anhalten an den Bahnhöfen, das ruckweise Wiederweiterfahren weckte sie immer wieder auf. Ein paarmal hatten sie einander gefragt: »Schläfst du?« und fast immer war die Antwort des andern gewesen: »Nein!« Und dann dachten sie wohl an ihr warmes, gutes Bett daheim und an die Zurückgebliebenen, und Kathrine sagte plötzlich unvermittelt: »Jetzt ruft der Nachtwächter ein Uhr aus!« Gegen Morgen aber sagte Philipp: »Mir ist's, als hör' ich die Bläß schreien, – wenn nur das Hannele sie auch richtig zu behandeln versteht!«

Das Hannele, – die Mutter! – Wie konnte das nur auch sein, daß man in Zukunft ohne die beiden leben würde? Kathrine, die doch nicht schlafen konnte, sah in der beginnenden Morgendämmerung zum Fenster hinaus. Da flogen in wildem Lauf Dörfer, Städte und Gehöfte an ihr vorüber, Felder, Wiesen und wieder Häuser, – überall Häuser, und in diesen wohnten Menschen, junge und alte, kleine und große … Ob da nicht auch welche darunter waren, die zusammengewachsen waren und sich dann trennen mußten? … Strahlend stieg die Sonne empor und beschien eine ganz flache, ganz andere Gegend als daheim. Die Gehöfte wurden seltener, aber sie waren um so stattlicher. Vieh und Pferde weideten auf den Wiesen, und der Schaffner öffnete die Türe und rief mit schallender Stimme: »Die nächste Station ist Hamburg!«

Erschreckt waren die Kinder in die Höhe gefahren, und Mariele begann zu weinen und sich die Äuglein zu reiben. Der Peter aber, dessen Kopf wieder schlaftrunken zurückgefallen, war absolut nicht wach zu bringen, so sehr der Vater ihn auch schüttelte und auf die Füße stellte. Mariele verlangte nach Milch, der mitgenommene Vorrat war aber erschöpft, und ein trockener Zwieback wollte ihr gar nicht recht behagen.

Philipp hatte mit dem vielen Handgepäck und dem nun endlich wach gewordenen Buben, der aber in nichts weniger als rosiger Laune war, gerade genug zu tun, als der Zug in eine riesige Bahnhofhalle einfuhr, an der in großen Buchstaben »Hamburg« stand.

Welch ein Getriebe, welch ein Lärm und Getöse! Ganz verwirrt standen die Ausgestiegenen auf dem Bahnsteig, mitten in dem Gewimmel, umgeben von ihrer Habe und den weinenden Kindern. Der Agent hatte Philipp geschrieben, er werde ihn zu der bestimmten Stunde am Bahnhof erwarten. Aber wie viele Herren und Männer rannten da umeinander herum, und wie sollte man sich gegenseitig erkennen? Da endlich kam einer mit einer Brille, der ziemlich von oben herab fragte, ob er die Familie Werner aus Wiesental in Württemberg vor sich habe. Als Philipp dies freudig bejahte, winkte er einem Packträger, der sofort all die Bündel, Körbchen und Taschen ergriff und Philipps fest in der Hand gehaltenen Gepäckschein dazu und, ohne ein Wort zu sagen, in der Menschenmenge verschwand.

»Halt, halt!« rief Philipp angstvoll. Wie war er gewarnt worden vor fremden Betrügern! Alles zurücklassend, wollte er dem Manne nachspringen, als der Herr ihn am Ärmel packte und sagte: »Seien Sie ruhig, ich habe dem Mann Ihre Adresse angegeben, und er wird alles an den richtigen Ort bringen.«

Mißtrauisch sah Philipp den Sprechenden an. Wenn am Ende dieser ein Betrüger wäre? Aber er hatte ja als Ausweis einen Brief von Onkel Joseph in der Hand, und so folgte ihm die Familie bis zu einer Trambahn, die alle wiederum nach einer endlosen Fahrt in ein Wirtshaus am Hafen brachte. Der Herr mit der Brille erwies sich trotz seiner kurzen Redeweise und dem Dialekt, den Kathrine und Philipp nur schwer verstanden, als recht fürsorgend. Er sagte den beiden, daß am andern Morgen erst das Schiff nach Buenos-Aires abgehe, und daß sie sich heute nur die schöne Stadt Hamburg und besonders den Hafen ansehen sollten. Morgen früh werde er dann wieder zur richtigen Zeit da sein und sie auf das Schiff geleiten und ihnen die Billets einhändigen.

Das erste, was Kathrine tat, war, daß sie unten am Eingang einen Herrn, dessen Rock mit goldenen Borten besetzt war, fragte, wo sie Milch für ihr Kind bekommen könne. Der wies alle zusammen lächelnd in ein klein winziges Stüblein mit einer rot bezogenen Bank darin, in das sich auch ein ganz junger Mensch noch drängte. Das konnte doch nicht die Stube sein, in der sie die nächste Nacht zubringen sollten?

Was für ein Schrecken war's aber, als sich plötzlich das kleine Gemach in die Höhe hob. Mit einem Schrei tastete Kathrine nach Philipp und den Kindern, aber der junge Mensch, der gleichfalls ein Jackett mit goldenen Borten trug, sagte lachend: »Das ist nichts zum Erschrecken, das ist nur ein Lift, und hier sind wir nun auch schon im vierten Stock.« Damit öffnete er die Türe. Und wahrhaftig, man war, ohne irgend eine Treppe zu steigen, schon ganz hoch oben angekommen. Ein Kellner führte die Reisenden in eine geräumige Stube mit herrlich aussehenden Betten, und nun wäre Kathrine ganz beruhigt gewesen, wenn sie nur ihr Gepäck gehabt hätte. Es war doch schrecklich, so ohne alles dazustehen und warten zu müssen, ob's einem wildfremden Menschen einfiele, die Sachen zu bringen.

Wieder war ihre nächste Frage nach Milch für das immer noch lauter schreiende Mariele, und auch Peter sagte einmal übers andere: »Ich hab Hunger, Vater, – ich möcht etwas zu essen, Mutter!« Eine Jungfer mit weißer Haube, die gekommen war, sagte: »Zum Frühstücken müssen Sie wieder hinunterfahren ins Frühstückszimmer. Sie werden wohl aber vorher ein bißchen Toilette machen wollen?« So weit war Kathrine schon gebildet, daß sie wußte, daß in der feinen Welt Toilette machen so viel sei als sich waschen und kämmen, und sie tat's auch, obgleich es eigentlich kurios war, wenn man nicht vorher im Bett gelegen hatte. Auch getrauten sie sich kaum, die großen, schönen Krüge und Waschschüsseln zu gebrauchen. Hinunter gingen sie dann lieber zu Fuß die Treppe, denn Kathrine mochte sich nicht zum zweitenmal diesem unheimlichen Rutschkabinett anvertrauen, – man konnte doch nicht wissen, ob nicht so etwas zusammenbrach. Und nun in einem großen Zimmer mit vielen kleinen Tischen gab's Milch, Kaffee, frisches Gebäck und sogar noch Butter und Honig, was unnötig gewesen wäre, denn das kostete ja nur Geld. Das Mariele trank in durstigen Zügen seine Milch und hörte dann endlich mit Weinen auf. Der Peter aber hatte gleich zwei Brezeln auf einmal ergriffen und biß abwechselnd davon herunter. »Autsch, ist das fein!« Und ebenso tunkte er abwechselnd in Vaters und Mutters Kaffeetasse ein und durfte auch ebenso daraus trinken. Eine eigene Tasse traute man sich dem kleinen, lebhaften Burschen nicht zu geben.

Nun sah sich die ganze Welt viel rosiger an, um so mehr, als der Mann vom Bahnhof, der das Gepäck mit fortgenommen, es nun glücklich gebracht hatte, ohne daß irgend ein Stücklein fehlte. Alles war nun oben in der Stube schön beieinander. Kathrine ging vollends das Herz auf, als nach dem Frühstück eine ältliche Frau, die Wirtin des Gasthofs, zu ihnen trat und fragte: »Sie sind Auswanderer? Da das Schiff nach Buenos-Aires erst morgen früh abfährt, ist Ihnen wohl daran gelegen, sich ein bißchen hier umzuschauen? Wenn's Ihnen recht ist, gebe ich Ihnen dazu eine kleine Anleitung.«

Den beiden war's natürlich recht, obgleich sie sich für den Augenblick am liebsten in die guten, weichen Betten gelegt und ihren Schlaf nachgeholt hätten. Aber so wanderten sie kurz darauf mit einem Zettel in der Hand, auf den ihnen die Wirtin geschrieben hatte, was sie sich allenfalls ansehen sollten, zum Gasthof hinaus, Kathrine mit dem nun satt und wieder freundlich gewordenen Mariele auf dem Arm und Philipp mit Peterle an der Hand. So gingen sie durch etliche der nächstgelegenen Straßen und konnten nicht genug staunen über die mächtig hohen Häuser, über die vielen, vielen Menschen und über all die Fuhrwerke. »Ist denn heute Markt hier?« fragte Philipp einen vorübergehenden Mann, der ihn aber nicht verstand und deshalb auch keine Antwort gab.

Nun hätten sie sollen über die Straße gehen, um sich auf der andern Seite einen Platz und das Rathaus anzusehen, aber das Hinüberkommen war nicht so leicht. Immer wieder kam von einer Seite her etwas getutet, gefahren, gerollt. Einmal wollte Philipp recht schnell machen, sprang aber mit einem Satz wieder zurück, denn zwei Trambahnen kamen von verschiedenen Seiten, und er wäre beinahe dazwischen hineingekommen. Dann rief wieder die Kathrine: »Jetzt!« und sie lief auch, so sehr sie laufen konnte, aber beinahe in ein Auto hinein. Sie hatte nach der andern Seite geschaut und sein Tuten nicht gehört. Haarscharf kam sie gerade noch hinüber. Nun war aber der Philipp ihr nicht gefolgt, weil sich die Gasse im Verkehr wieder geschlossen hatte, und vergeblich winkte eines dem andern. Mindestens zehn Minuten dauerte es, bis Kathrine es riskierte, wieder herüberzulaufen, denn bei jedem Versuch, den Philipp machte, den Fuß auf die Fahrbahn zu setzen, schrie der Peterle Zetermordio und war nicht vom Fleck zu bringen. So blieben sie in Gottes Namen nun eben auf der einen Seite; es war vielleicht auch besser so, denn wie leicht konnte man sich in einer so großen Stadt verirren. Und wie dann wieder in den Gasthof zurückfinden?


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