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Drittes Kapitel.

Was der Maurerfritz für einen Rat gibt. – Warum Philipp die Kinder hinausschickt und dann sagt: »Jetzt paßt auf!« – Ein Amerikanerbrief, worauf alle schweigen. – »Ohne mein Mariele kann ich nicht leben!« – »Erst glücklich machen, dann glücklich sein!«

 

Während die Frauen daheim verhältnismäßig getröstet ihr Lager aufsuchten, ging's im Roten Ochsen heute abend noch lebhafter zu als sonst. Männer, die für gewöhnlich keine Wirtshausgänger waren, hatten sich heute eingefunden, – die gemeinsame Not wollte auch gemeinsam besprochen werden. Einen jeden unter ihnen hatte das Unwetter mehr oder weniger betroffen. Die wenigsten waren versichert, und der eine Groll war allen gemeinsam: Umsonst geschafft, – umsonst geschunden! Auch der Schultheiß, der heute dazugekommen war, wußte keinen Rat für die Nichtversicherten als den, daß man bei der Regierung um eine Gnadengabe einkommen müsse.

Das aber widerstrebte dem Schreiner-Philipp gewaltig, und er sagte: »Das tu' ich nicht, – für mich und die Meinen betteln zu lassen, das tu' ich nicht!«

Einige stimmten bei, wieder ein paar meinten: »Warum sollen wir uns nicht von denen geben lassen, die's haben? Da ist keine Schande dabei!«

Ein dritter, der Maurerfritz aber, der ledig war und in der nächsten Woche nach Amerika auswandern wollte, der sagte: »Ich bin froh, daß mich's nichts mehr angeht, ob's hier hagelt oder schön Wetter ist, ob's Arbeit gibt oder keine, – ich hab' die Hungerlöhne hier satt und geh' dahin, wo der einzelne Mensch auch noch etwas gilt und anständig bezahlt wird.«

»Wenn du dich nur nicht täuschst, daß du glaubst, da drüben fliegen einem nur so ohne weiteres die gebratenen Tauben in den Mund,« sagte der Schultheiß.

Die Jungen aber setzten sich um den Maurerfritz her und hörten begierig auf das, was dieser ihnen von drüben erzählte, während die Alten auch näher zusammenrückten und berieten, wie sie das Unglück wohl durchmachen würden.

Philipp saß in der Mitte und hatte das eine Mal zu den Jungen und dann wieder zu den Alten hinübergelauscht, und der Kopf war ihm ganz wirr geworden über dem Vielerlei. Auswandern, ja, das war etwas, das er auch schon oft und vielfach erwogen hatte. Und jetzt wieder, wo der Maurerfritz gar nicht genug erzählen konnte von dem, was ihm der Agent in der Stadt alles gesagt und versprochen hatte, da stieg's ihm von neuem in den Sinn, ob es denn nicht auch vielleicht das richtige wäre, wenn er mit Frau und Kindern aufpackte und nach Amerika ginge. Halb scherzend hatte man ja diese Frage schon oft daheim behandelt, da von der Großmutter Seite ein Vetter drüben in Argentinien war, der's dort zu etwas gebracht und schon verschiedene Male geschrieben hatte, ob nicht einer der Verwandten auch hinüberkommen wollte, er könnte gut noch mehr Leute und Hilfe brauchen. Jedesmal hatte man die Sache scherzhaft erörtert und sich ausgemalt, wie das wohl wäre, wenn man fort übers Meer führe und alle Leute, die man kannte, und alle seine Sachen zurücklassen müßte. Heute abend aber kam Philipp dies zum erstenmal nicht mehr gar so ungeheuerlich vor. Und als der Maurerfritz, der im voraus viel Geld bekommen hatte und nun in seiner Glückslaune, daß er fein raus sei, Wein kommen ließ und auch Philipp einschenkte, da war diesem die ganze Sache zu Kopf gestiegen. Als sie ziemlich spät auseinandergingen und der Fritz gesagt hatte: »Bist ein Esel, dich hier so zu plagen – komm nach!« da war Philipp mit allerlei wirren und tollen Gedanken nach Hause gekommen, und in der Nacht hatte er von keinem Weinberg und keiner Wiese geträumt, wohl aber von lauter riesengroßen Schiffen und Haufen von Geld. Recht unwirsch war er am andern Morgen aufgewacht, als dies alles verschwunden war und die Wiesen-, Weinberg-, Futter- und Fabrikfrage wieder riesengroß über ihn hereinfiel.

Diese Fragen waren auch überwältigend, obgleich sich im hellen Morgenschein das gestrige Unglück immerhin ein wenig günstiger ansehen ließ. Strichweise war der Hagel gefallen, und von Großmutters Weinberg war der obere Teil merkwürdig ganz verschont geblieben. Auch die Wiese weiter drüben überm Bach hatte weniger gelitten, und man konnte immerhin noch einen Wagen voll heimbringen. Aber alles andere war eben kaput, es mußte gesucht werden, wie es ging, Geld zu verdienen, und schon in aller Frühe machte sich Kathrine auf den Weg zur Fabrik. Bitter ungern tat sie diesen Schritt; sie war gewohnt, den ganzen Tag im Freien zu sein und draußen zu schaffen, und jetzt sollte sie stundenlang in einem engen Raume hinter einer Maschine sitzen. Aber nun es nötig geworden war, mußte sie es auch wie die andern können. Mit besorgtem Blick hatte ihr die Großmutter nachgeschaut, sie wußte, wie schwer ihrem Kinde dieser Schritt fiel. Aber trotz allem war's doch ein rechter Schrecken, als die Kathrine gegen Mittag müde und sichtlich enttäuscht von dem Gange zurückkam.

»Was hast?« fragte die Großmutter besorgt. Und Kathrine berichtete nun, daß denselben Entschluß wie sie noch eine Anzahl andere Frauen im Dorf gefaßt hätten, und daß der Fabrikmeister gesagt habe, ob sie nicht gescheit seien, was er denn auf einmal mit all den Frauenzimmern anfangen solle. Er habe schließlich die Jüngsten von ihnen zurückbehalten, und die andern alle hätten eben unverrichteter Sache wieder heimgehen müssen.

»Jetzt sieht's letz aus, Mutter, jetzt weiß ich keinen Rat mehr!« sagte Kathrine. »Zum Nähen habe ich kein Genie, und Feldgeschäfte gibt's nirgends eines. Mir ist's nur Angst, bis der Philipp herüberkommt. Ich habe ihn heut früh so nett beruhigt gehabt, und jetzt wird er wieder ganz auseinander sein, daß es nichts ist!«

Aber der Philipp war gar nicht auseinander, als er von einem Geschäftsgang heimkam. Er achtete zuerst gar nicht auf die verwetterten Gesichter der Frauen, sondern lächelte nur immer ganz eigentümlich vor sich hin. Und als man dann beim Essen saß, – fremde Leute waren ja heute nicht da, – und die Kathrine zaghaft anfing zu berichten, da winkte er nur mit der Hand ab und sagte: »'s ist schon recht, aber zuerst essen, dann reden, – ich hab' rechtschaffen Hunger!« Und er, der gestern abend fast nichts über die Lippen gebracht und heute morgen fast noch nichts geschafft hatte, aß wie ein Drescher, das Hannele konnte ihm nicht genug Kartoffeln schälen.

Dann aber, als die Großmutter das Dankgebet gesprochen hatte, da sagte er auf einmal: »Schickt die Kinder hinaus, die brauchen nicht dabei zu sein!«

Und als Hannele mit dem Mariele auf dem Arm fragenden Blickes hinausging, der Peter dicht hinterdrein, da sagte Philipp mit erhobener Stimme: »Jetzt paßt einmal auf, – jetzt hört, was ich euch zu sagen habe! Jetzt, Großmutter, kannst sagen, daß Unverhofft oft kommt, – ich will dir's glauben!«

Unter seinem Wams zog er einen Brief hervor, – das war ein Amerikaner, – solche Briefe kannten die Frauen schon an den ausländischen Marken. Und indem er ihn auseinanderfaltete, sagte er: »Jetzt hört zu, was der Vetter Joseph von drüben schreibt! Und daß der Brief gerade heute ankommt, das ist nicht von ungefähr, das sag' ich!« Er rückte seinen Teller auf die Seite, legte den Brief auf den Tisch und, ihn umständlich mit der Hand glättend, fing er nun an, zu lesen:

 

Lieber Vetter Philipp!

Wir haben lange nicht mehr geschrieben! Es ist das so bei uns drüben, daß man schwer zum Schreiben kommt und es nur tut, wenn man etwas Wichtiges zu sagen hat. Und das habe ich heute. Ihr werdet Euch erinnern, daß ich schon öfters geschrieben habe, ob keines von Euch hinüber kommen wolle. Aber Ihr habt nicht gewollt. Nun mach ich wieder einen Vorschlag: Meine Estanzia vergrößert sich. Es ist mir schwer am Anfang geworden, bis das Gröbste eingeleitet war. Nun bin ich nicht mehr so kräftig und sollte Unterstützung haben. Meine Frau auch. Warum soll sie nun, wo sie es kann, nicht auch das Leben ein bißchen genießen? Da brauchen wir eine Stütze, und ich habe mir gedacht, jemand Eigener ist besser als jemand Fremder. Im letzten Brief, den die Base Christine mir geschrieben, sagte sie mir, daß die Geschäfte in Deutschland nicht gut gingen, besonders auch die Schreinerei. Zu schreinern gibt's bei uns nun gerade nicht viel, aber die Base Christine schrieb mir, daß Ihr beide kräftige junge Leute seid und gerne schafft und eine Tochter habt, die schaffen kann, und das ist's, was wir hier herüben brauchen. Freilich müßtet Ihr noch viel lernen, aber das gibt sich. Und dann habt Ihr eine Zukunft vor Euch, was drüben wohl nicht der Fall sein wird. Das Leben auf dem Camp ist auch schön, und man hat Freiheit, von der Ihr ja keinen Begriff habt. Wenn Ihr nun also Mut und Lust hättet, herüber zu kommen, so erwarte ich Euch noch diesen Herbst, wo bei uns die schöne Jahreszeit beginnt. Das Gehalt, das ich Euch geben könnte, ist das Doppelte von dem, was Ihr daheim verdient, und wenn Ihr sparsam seid, könnt Ihr, wie ich es auch getan habe, Euch nach und nach selber Land kaufen. Eure Kinder können gerade so gut auf dem Camp aufwachsen, und Base Christinens Sprüchlein: »Bleibe im Lande und nähre Dich redlich« ist veraltet, es gilt nicht mehr. Nur die eine Bedingung mache ich, daß Ihr die dummen Gefühle von Heimweh und dergleichen nicht mit herüberbringt. Die taugen nichts und machen schwach. Also besinnt Euch nicht lange, und dann schreibt mir sofort Euren Entschluß! Ich schicke Euch dann ein Angeld. Bescheid über das Nähere von der Reise, die auf meine Kosten geht, wird Euch von einer Hamburger Gesellschaft zugehen, ebenso wie das Geld. Ich denke, das Schiff, mit dem Ihr reisen werdet, geht Mitte September von Hamburg ab.

Es grüßt Euch
Euer treuer Vetter
Joseph Werner.

 

Philipp war nun zu Ende mit seinem Vorlesen, nun schaute er sich nimmer ganz so triumphierend wie am Anfang, sondern fast ein bißchen ängstlich um. Es war doch etwas sehr Großes, was er da vorgebracht hatte … Wenn doch nur auch eines etwas sagen würde … Warum schwiegen sie denn nur alle? … Mit einem unmutigen: »Na, also was sagt ihr jetzt dazu?« fuhr er endlich drein.

Da sah Kathrine die Großmutter an und diese wieder ihre Einzige, und dann sprach Kathrine mit stockender Stimme: »Das kommt so schnell und unerwartet, Philipp, da kann man sich doch gar nicht gleich zurechtfinden!«

Nun aber sprang Philipp von seinem Stuhle auf und lief erregt im Zimmer auf und ab. »Nichts drüber sagen, – nicht sich zurechtfinden? Als ob es da nur noch ein Besinnen gäbe! … Großmutter, Weib, denkt nur auch darüber nach, das Doppelte und Dreifache könnten wir drüben verdienen, während einem hier jetzt die Sorgen über dem Kopf zusammenschlagen und man sich zu Tod schaffen kann, ohne daß man je auf einen grünen Zweig kommt! … So ganz leicht kommt mir's doch auch nicht an, die alte Heimat zu verlassen, aber der Vetter hat recht, wir sind viel zu weich, und dem Mutigen gehört die Welt! Und, Großmutter, ich versprech's Euch, was an mir liegt, so soll's die Kathrine von jetzt an besser kriegen als hier, und für Euch, Großmutter, ist's ja doch auch leichter, wenn Ihr uns nicht mehr alle auf dem Halse habt.«

Etwas unsicher war Philipps Stimme doch wieder geworden, denn plötzlich war ihm eingefallen, daß ja die Großmutter dann ganz allein zurückbleiben würde. Diese aber sagte leise, mit fast erloschener Stimme: »Wegen mir ist's nicht, Philipp, um mich sorgt Euch nicht! Gar zu lange werde ich ja auch nimmer leben!«

Da aber brach die Kathrine in ein lautes Jammern aus: »Mutter, Euch allein hier zu lassen, das geht einfach nicht, das würde mir das Herz brechen! Ach, Philipp, ich will mir ja das Blut unter den Nägeln hervorarbeiten, ich will taglöhnern gehen und überall aushelfen, nur …«

Das war aber, was Philipp am wenigsten ertragen konnte, wenn er jemand weinen sah, und recht heftig sagte er: »Natürlich, ihr mit eurer deutschen Gefühlsduselei, von der der Vetter schreibt, mit der man zu nichts kommt, und die einem alles wieder verdirbt, was man sich so schön ausgedacht hat! So krieg halt Arbeit, wo's keine gibt, und schaff bis aufs Blut, wo niemand dich braucht!« Mit diesen Worten ging er fort und schlug die Türe laut krachend hinter sich zu.

Nun waren die beiden Frauen allein und durften sich in ihrem Jammer keinen Zwang mehr anlegen. Es war zu schwer, was da so jäh über sie hereingekommen war, viel schwerer noch als das ärgste Hagelwetter. Kathrine sagte plötzlich aufs bestimmteste: »Nein, Mutter, ich verlaß dich nicht, das kann ich einfach nicht!«

Die Großmutter faßte sich zuerst wieder und sagte: »Der Philipp hat recht, wir sind wahrscheinlich zu weich. Überlegt muß die Sache werden, in Gottes Namen, und wenn dein Mann will, so hast du ihm zu folgen.«

Und überlegt wurde sie, recht gründlich und von allen Seiten, in den nächsten Tagen. Philipp selber tat's, und auch der Herr Schultheiß und der Herr Pfarrer wurden zu Rat gezogen; die Herren wußten doch noch mehr von der Welt, wo sie doch studiert hatten. Und merkwürdig, sie zeigten sich der Sache nicht abgeneigt. Es mußte zugestanden werden, daß das kein Auswandern ins Blaue hinein war, sondern ein Vorschlag auf fester Grundlage, der sehr viel Verlockendes hatte. Die Summe, die der Vetter schicken wollte, war so groß, daß, abgesehen vom Reisegeld, der Schaden vom Unwetter gedeckt werden konnte. Und dann würde die Großmutter ja auch zum Leben so viel weniger brauchen, wenn sie allein sein würde. Das alles sahen die Frauen auch ein. Und Peter und Hannele, als sie von dem Plan hörten, waren nach Kinderart natürlich begeistert. Peter machte nur die Bedingung, daß seine Hasen auch mit durften, und Hannele malte sich's und ihren Schulkameradinnen aufs glühendste aus, wie das sein werde, auf dem Meer zu fahren viele, viele Tage lang und in ein Land zu kommen, wo noch lebendige Indianer und wilde Tiere waren.

Die Trennung von der Großmutter erfaßten die Kinder am Anfang noch nicht, diese verhielt sich ja auch ganz still, und keine Klage kam über ihren Mund. Aber als nun der Entschluß auszuwandern wirklich gefaßt war, als Philipp dem Vetter mit Ja geantwortet hatte, als die Reiseroute bestimmt wurde und man allmählich an die Vorbereitungen denken mußte, da drohte Christine Aldinger ihr Mut zu verlassen, und sie sah so blaß und hinfällig aus, daß die Leute im Dorfe sagten: »'s ist doch eineweg nicht recht, daß die Kathrine ihre Mutter so allein läßt. Und wie soll das alte Fraule mit ihrem Garten und dem Gütlein zurechtkommen? Wenn sie ihr doch nur wenigstens das Hannele hier ließen, die ist schon kräftig und groß, die könnte für vieles sorgen!« Das Hannele! Ja, das war ein Ausweg, an den die Kathrine auch schon gedacht hatte, den sie aber immer wieder von sich weg wies als etwas, das ein neues Opfer von ihr verlangte. Ihre Große hergeben, die ihr doch schon so viel war, die ihr in dem fremden Lande schon gewaltige Hilfe und Freundin sein konnte? …

Und doch war's schließlich so weit gekommen, daß auch der Philipp, der sich anfangs gewaltig sträubte, einsehen mußte, daß dies das einzig Richtige sei, wenigstens für die nächsten Jahre, bis die Großmutter mehr ans Alleinsein gewöhnt sein würde. Nun Kathrine diesen Ausweg als den richtigen erkannt hatte, beharrte sie auch fest darauf, – entweder so oder gar nicht. Auch der Großmutter gegenüber, die ein so großes Opfer anfangs durchaus nicht annehmen wollte, blieb sie felsenfest. Und so war's nun gekommen, daß der Schreiner-Philipp mit seiner Familie sich zum Abzug von Wiesental gerüstet hatte, daß aber das Hannele zurückblieb.

Mit dieser selbst hatte Kathrine noch einen schweren Kampf zu bestehen. Das junge Kind wollte absolut nicht einsehen, warum es allein hierbleiben solle, und heiße und bittere Tränen gab's und sogar ein paarmal recht heftige Auftritte, zum Glück ohne daß die Großmutter etwas davon merkte, dazu hatte Hannele diese doch zu lieb. Aber einmal hatte das Kind doch den schüchternen Versuch gemacht, die Ahne zu fragen: »Großmutterle, – ach Großmutterle, könntest du denn nicht auch mit nach Amerika gehen? Wir wollen dir's da drüben ja so arg gut machen! Und gar nimmer zu schaffen brauchtest du … und denk nur die wunderschönen Blumen und Schmetterlinge, die's dort gibt, und und …«

Hannele wußte gar nicht mehr, was sie noch alles sagen sollte, um der Großmutter das fremde Land verlockend zu machen. Aber diese schüttelte voll Wehmut den Kopf und sagte: »Kind, du vergißt, daß der Vetter ja gar nichts von mir geschrieben hat, und daß man da drüben ja nur Leute brauchen kann, die jung sind und kräftige Arme haben!« Da war also auch nichts zu machen.

Aber etwas anderes verfolgte Hannele nun mit dem wildesten Eifer. Mit einer Leidenschaft, die ihr Ziel bis zum letzten Moment glühend verfolgte, wollte sie es durchsetzen, daß die Eltern ihr das Mariele daließen, – das Mariele, das ja doch noch so winzig klein war, das doch nur ein Hindernis auf der Reise war, und das noch viel, viel weniger für Jahre hinaus etwas schaffen konnte als die Großmutter!

Am Anfang schien's auch wirklich, als ob die Eltern selber daran dächten, es so zu machen. Ein kleines Kind war ja auf der Reise etwas Schwieriges. Auch hatten alle wirklich Angst davor, wie Hannele die Trennung von ihrem Liebling überstehen würde; hatte sie doch mit der größten Bestimmtheit erklärt: »Ich bleibe in Gottes Namen noch eine Zeitlang hier, aber nur wenn ihr mir das Kind laßt, ohne mein Mariele kann ich einfach nicht mehr leben.«

Sie hatte dabei die Kleine so fest an sich gedrückt, daß diese laut aufschrie, mit dem Händchen nach ihr schlug und sagte: »Dudu … bö bö! … Ann, Ann!« …

Aber nach und nach war es doch über die Eltern gekommen, daß es trotz allem richtiger sei, die beiden Kleinen beieinander zu lassen. Der Peter wäre doch gar zu einsam im fremden Lande gewesen, denn die Kinder vom Vetter waren schon beinah erwachsen. Und dann gehörte so ein ganz junges Kind ja doch immerhin noch mehr zu der Mutter als zu einer Schwester. Auch harrte für Hanneles Schultern schon gerade genug Arbeit in der Großmutter Anwesen; ein kleines Kind noch daneben zu versorgen, wäre gewiß zu viel für ein dreizehnjähriges Mädchen, – so meinten auch alle Leute im Dorf.

Und die Nachbarsfrau, eine Tagelöhnerin, die sieben Kinder hatte, suchte das untröstliche Hannele mit den Worten zu trösten: »Sei doch froh, daß du nachts kein solches Schreierle mehr am Bett hast! Und wenn's dich nach Kindern verlangt, so kannst du ja die meinigen herumtragen, ich laß dir sie gern!« Ach, aber die Kinder der Frau waren eben doch kein Mariele, und nur die ganz feste Verheißung, daß, wenn die Großmutter ans Alleinsein gewöhnt sei, Hannele nachkommen dürfe, beschwichtigte diese endlich einigermaßen.

Philipp und Kathrine hatten noch im Garten, auf der Wiese und im Weinberg so viel Ordnung geschafft, als nur irgend möglich. Dann hatte Philipp seine Gerätschaften und seinen Vorrat an Holz an einen jungen Schreiner verkauft, der von der Großmutter die Werkstätte mietete. Dann waren die beiden an einem Tage in die Hauptstadt gefahren, wo sie überseeische Koffer und alles das, was man zum Auswandern brauchte, und was ihnen von dem Agenten angegeben worden war, einkauften. Wieder ein paar Tage danach liefen die zwei im ganzen Dorfe herum, um Abschied zu nehmen. Und überall bekamen sie die Versicherung: »Wir sagen euch noch nicht für ganz adieu, wir kommen noch an die Bahn!«

Und nun war heute der letzte Abend, wo man in der altgewohnten Wohnstube nach dem Nachtessen noch beisammen saß, – zum letztenmal! Ach wie war es allen, selbst Philipp, so schwer zumute, aber ein jedes nahm sich zusammen, damit es die andern nicht merkten. Man sprach von ganz gewöhnlichen Dingen. Kathrine erinnerte Hannele daran, sie solle nur auch immer fein ihre Strümpfe stopfen, die kleinen Löcher, ehe sie zu großen würden.

Die Großmutter mahnte: »Gebt nur auch fein acht auf den Peterle, er ist so wild, daß ihm auf dem Schiff nichts passiert!«

Philipp zählte der Großmutter noch einmal das Geld vor, womit sie die Futterschulden vom vorigen Jahr und die Einkäufe für heuer bestreiten sollte. »Also hier, in dem Beutele, ist alles beisammen. Und nicht wahr, Großmutter, Ihr zahlt's lieber gleich, daß es nicht herumliegt? Und nicht wahr, Großmutter, Ihr nehmt euch da und dort den Vetter Andres, daß er Euch hilft? Und was ich noch sagen wollte, laßt im Herbst den Küfer kommen, daß er Euch ratet. Es wird im obern Weinberg immerhin noch ein gutes Weinle geben. Gönnt Euch dann und wann ein Glas voll, das braucht man im Alter!«

Damit ging der Philipp hinaus. Er lief noch einmal durchs Haus und durch den Stall, wie er heute schon wiederholt getan hatte. Die Kathrine sprach von Nelkenablegern und Kressensamen, der in der oberen Schublade sei, von Waschseife und von dem Tuch draußen auf der Bleiche. Als aber die Großmutter so gar still dasaß und auf alles fast nichts antwortete, da war's auch auf einmal um die Fassung der Kathrine geschehen, und, ihren Sessel wegschiebend, kniete sie neben die Großmutter hin und legte schluchzend ihren Kopf in deren Schoß.

Auch die Großmutter hätte gerne geweint, es war aber nur ein trockenes Schluchzen, denn ihren Tränenvorrat hatte sie in der letzten Zeit ganz in der Stille vergossen, durch sie sollte keinem das Herz noch schwerer gemacht werden. Nun war's einmal so, nun mußte man's tragen. Und die Hand auf dem Scheitel ihrer Einzigen ruhen lassend, war es ihr gegeben, auch jetzt nur milde, gute, beruhigende Worte zu sprechen. Daß die Kinder ihren Herrgott hinüber ins ferne Land mit sich nahmen und ihn dort behielten, das war ihre größte Sorge, und das legte sie der Kathrine mit aller Innigkeit und Liebe ans Herz, alles zusammenfassend in den Worten: »Auch drüben wird's gelten wie hier: Erst glücklich machen, dann glücklich sein!«

Wo war aber das Hannele hingekommen? Das saß drinnen in der Kammer neben seinem schon lange fest schlafenden Mariele. Hannele hatte das Kind für die letzte Nacht noch in ihr Bett bekommen, des Kindes Bettstücke lagen draußen in der Tenne zu einem Bündel gepackt. Der Mond schien herein, und Hannele legte ihren vom Weinen heißen Kopf neben das rotgeschlafene Bäckchen ihres Lieblings. Das Herz wollte ihr zerspringen.

Da aber rief des Vaters Stimme vom Stall her: »Hannele!« Und als sie hinausgelaufen war, sagte ihr der Vater noch einmal genau, wie die Bläß zu behandeln sei, und was ihr gut tue. Und als sie zusammen wieder hereinkamen, da sagte die inzwischen aufgestandene Großmutter: »Wir wollen noch zusammen den Abendsegen beten und dann ins Bett gehen, – morgen heißt's früh aufstehen!«

Ohne viel Worte ging man darauf auseinander, – das Hannele in ihr Bett, das nun schon neben dem der Großmutter stand, wo es bleiben sollte. So sachte sie hereinstieg, so wachte doch das Mariele ein klein bißchen auf und wollte weinen. Da nahm sie es ganz fest in ihren Arm, beschwichtigte es und küßte es immer wieder mit tausend lieben Worten. Und schließlich war sie und das Kind miteinander eingeschlafen, während die Ahne nebenan noch lange mit gefalteten Händen dalag und aus tiefster Seele seufzte: »Herrgott, gib uns allen Kraft, – Herrgott, wende du alles zum Besten!«


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