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Zwölftes Kapitel

Warum Vater sagt: »Fragt meine Tochter!« und warum Eva Handschuhe anzieht. – Von dumpfer Stubenlust und dem winzigen Gärtlein »da draußen«. – »Um Annis willen, lieber Gott, um Annis willen!« – Ein Reisbrei, der kalt wird, und warum Wilhelm Berger nicht reden kann. – Wie über die alte Gotthelf verfügt wird, und von einer »Dame«, die Putz macht. – Warum Dummerchen am Schluß nochmals stottert.

Und das neue Leben wurde von einem jeden mit gutem Willen begonnen, aber mit mehr oder weniger gutem Gelingen.

Eva durfte noch nicht gleich wieder fort, sie mußte sich erst erholen, und es war ihr auch wohl, wieder daheim und bei den Ihrigen zu sein. Nach dem Begräbnis gab es noch vielerlei zu schreiben und zu ordnen, da half sie gern und fühlte sich nicht überflüssig. Vater vertraute ihr auch die Aufgabe an, mit Heinz für ein paar Tage nach München zu fahren, um dessen Zukunft dort zu regeln. Jetzt, wo die Ausgaben für die arme Mama aufhörten, wurde es Herrn Lindt möglich, Heinz in Zukunft die Mittel zur Ausbildung im Zeichnen zu geben, nur konnte das nicht gleich geschehen; die Krankheits- und Begräbniskosten mußten erst verschmerzt werden. Deshalb sollte Heinz den Winter über noch abschreiben und in dem Vereinshause wohnen bleiben, in dem er bisher gewesen war. Wilhelm Berger, der Erfahrung in solchen Dingen hatte, riet auch dazu, schrieb aber verschiedene Briefe an ihm bekannte Zeichner und Verleger, denen er den begabten jungen Mann für die Zukunft empfahl. Diese Briefe nahm Eva mit, machte mit Heinz die Besuche, zeigte seine bisherigen Arbeiten und erhielt überall freundlichen Bescheid und Ermutigungen. Der Verleger einer illustrierten Zeitung meinte sogar, wenn der junge Herr von jetzt an des Abends wenigstens in die Zeichenschule ginge, so könnte er ihn vielleicht schon vom Januar an beschäftigen.

Eva kam ganz beglückt nach Hause zurück; die kleine Reise ohne Sorgen und nicht in Abhängigkeit hatte ihr gutgetan. Dabei hatte sie wieder Großstadtluft geatmet, die sie so lange entbehrt, und ihr Entschluß stand fest, auch in München ein Unterkommen zu suchen; daheimbleiben konnte sie ja unmöglich. Wo alle arbeiteten, mußte sie es auch tun, das hatte sie jetzt einsehen gelernt, und sie wollte, das nahm sie sich fest vor, nun einmal versuchen, mehr als bisher an das Wohlergehen anderer zu denken. Woher Anni das nur hatte, und warum nur jedermann sie gern hatte, da sie doch von klein auf keinerlei hervorragende Eigenschaften besaß? Ihr früherer Klassenlehrer, der Geistliche, der sie eingesegnet, ein Teil ihrer Schulgenossinnen und auch ein paar Mütter derselben kamen, ihr nach Mamas Tode ihr Beileid auszusprechen, und doch hatte sie nirgends Besuch gemacht. Die Milch- und Gemüsefrau, der Fleischer- und Bäckerjunge vertrauten ihr ihre Geheimnisse an und baten um Rat, wenn sie was drückte. Die zwei Mädchen unten strahlten ja ganz, wenn sie nur einen Zipfel des Kleides von ihrer Fräulein Anni sahen, und in der übrigen Familie Berger wurde sie geradezu verehrt. Die Rosa, eigentlich ein recht trockenes, ungeschliffenes Ding, tat, was sie ihrer jungen Herrin an den Augen absehen konnte, und die Kleine war trotz ihrer derben Kleidung doch merkwürdig fein erzogen für die jetzigen Verhältnisse. Daß Vater keine Anweisung gab oder auch nur den kleinsten Entschluß faßte ohne Anni, das war Eva von der ersten Stunde an aufgefallen.

»Fragt meine Tochter, die wird sagen, was geschehen soll, – wie man's machen soll,« hatte er bei allen Anfragen gesagt, und Eva mußte innerlich tüchtig schlucken, daß sie, die so viel Ältere, einfach übergangen und das Dummerchen als die Leitende in allem anerkannt wurde.

Es gehörte für Eva viel Überwindung dazu, die sich stark regende Eifersucht zu bekämpfen, es gehört dazu aber auch Annis ganze liebreiche, fast mütterlich fürsorgende Art der Schwester gegenüber.

»O Eva, wie bin ich froh, dich dazuhaben! ... O Eva, was hast du durchgemacht, du Arme! ... O Eva, wenn nur für dich und Vater die Zukunft recht froh und leicht würde!«

Vorerst sollte Eva sich daheim wieder erholen und kräftigen, und sie wollte daneben auch endlich ein bißchen im Haushalte helfen. Aber alle derartigen Arbeiten fielen ihr recht sauer, und Rosa sagte zu Frau Berger: »Wenn die Fräulein Eva eine Viertelstunde Gemüse geputzt hat, so bürstet sie nachher eine halbe Stunde an ihren Händen herum, und wenn sie abstaubt, zieht sie Handschuhe an!«

Frau Berger hörte nicht gern auf solche Reden und erwiderte ziemlich kurz: »Die junge Dame ist zu anderem erzogen, Rosa, da darf man sich kein Urteil erlauben.«

»Ich erlaub' mir auch keines über Fräulein Anni, nur über die andere,« sagte Rosa noch rasch, ehe sie den Laden verließ. Frau Bergers Gesicht lud zu keinem weiteren Gespräche ein. –

Die beiden Schwestern saßen beisammen und richteten Trauerhüte, d. h. Eva steckte Schleifen und Blumen, darin hatte sie von jeher Geschick, und Anni faßte ein oder säumte da und dort ein Stückchen Stoff.

»So was tue ich gern,« sagte Eva und hielt einen Hut, der eben fertig geworden war und trotz einfacher Mittel sehr fein aussah, noch einmal prüfend in die Höhe, dann legte sie ihn zu den andern, schon fertigen.

»Wie geschickt du bist!« sagte Anni bewundernd.

»Geschickt, – in was? Nur in Dingen, dir mir nichts nützen! Ach Boba, wie unsagbar öde ist das Leben! Lauter Anforderungen, denen man nicht genügt, – elende Hoffnungen, die sich nicht erfüllen.«

Ja, für Eva stimmte das, da war schwer zu widersprechen, und auf die Länge, das fühlte jeder, ging es auch daheim nicht mit ihr trotz dem wirklich guten Willen, den sie zeigte. Da war es eine günstige Schickung, daß für einen leidenden Knaben eine Reisebegleiterin in ein Sanatorium gesucht wurde, allerdings ohne Gehalt, aber für jemand, der bei freier Station selber Erholung suchte. Und so war für die nächsten Monate wenigstens wieder gesorgt.

Annis Leben gestaltete sich auch in mancher Beziehung etwas anders.

Der Mutter Zimmer hatte eine andere Bestimmung erhalten. Der Laden unten mußte vergrößert werden, und da Lindts gerne den nun überflüssigen Raum abgaben, so schliefen Lydia und Martha von jetzt an dort. Sie hatten ihre Schlafstätte da, aber auch den Tag über weilten sie viel oben, spielten mit Mariechen und machten mit ihr zusammen die Aufgaben. Ganz von selbst ergab sich's, daß Anni den dreien half, und währenddessen frischte sie auch die eigenen Kenntnisse auf. Frau Lindts Palmen standen nun im Wohnzimmer, die übrigen Pflanzen hatte man aufs Grab gestellt. Oft führten die Spaziergänge dorthin, und als es wieder Frühjahr wurde, pflanzten und gossen die Mädchen die Blumen auf dem Grabe um die Wette.

»Wir haben nun doch auch ein Gärtlein,« sagte Mariechen fast vergnügt, als die blauen Leberblümchen, Krokusse und Schneeglöckchen hervorkamen und sie dem Vater einen kleinen Strauß davon bringen konnte. Vater kam außer am Sonntag fast nie in die Luft, und sein Aussehen war und blieb abgearbeitet und sorgenvoll.

Es nahte nun wieder die Zeit, wo die meisten Menschen sich besinnen durften, wo sie ihren Urlaub verbringen wollten, wo sie statt der dumpfen Stubenluft eine Zeitlang Berg- oder Waldluft atmen konnten. Auch in den Schulen wurde dieser Gesprächsstoff eifrig erörtert, und Mariechen sagte ganz traurig: »Alle in meiner Klasse dürfen irgendwohin, wo man recht springen und Blumen pflücken und Butterbrot essen kann, nur ich allein darf nicht!«

Lydia und Martha freuten sich ja auch schon unbändig seit Wochen, weil Mutter mit ihnen an einen Ort im Schwarzwald gehen wollte, wo sie früher schon einmal gewesen waren, und wo Herr Berger sie dann allemal an den Sonntagen besuchen konnte. Mit der ganzen Rücksichtslosigkeit von Kindern, denen es immer gut im Leben ergangen ist, erzählten sie tagelang vorher von den Beeren, die dort so dicht wuchsen, daß man daneben kein Plätzchen mehr zum Sitzen finde, von dem Moos, in das man ganz hineinsinke, und von den »hundert Millionen Pilzen«, die man da sammeln könne.

»Und die Honigwaben dürfen wir selber holen helfen.« »Die Frau Wirtin bäckt Schmalzküchlein besser als alles in unserem Laden!« und »Barfuß dürfen wir laufen und in einem richtigen Bach ohne Badhäuslein ganz im Freien baden!«

Wieder seufzte Mariechen und Anni diesmal auch. Sie tat's aber so, daß es niemand hörte. Ach ja, wie herrlich mußte das alles sein!

Wer sich aber innerlich vielleicht am allermeisten nach Ausspannung und frischer Luft sehnte, das war der Vater, und wieder wie damals konnte er mitten aus stillem Nachdenken heraus zu Anni sagen: »Jetzt heuen sie auf den Matten, ... jetzt summen die Bienen wieder um den Lindenbaum, ... jetzt blühen die Alpenrosen, und des Abends kommt die Luft aus den Bergen und weht über den See her!« ...

»Vater, ist's denn ganz, ganz unmöglich, daß du endlich einmal wieder dahin gehst?« fragte Anni wiederholt, aber der Vater schüttelte immer verneinend den Kopf. Einmal hatten die schwarzen Kleider viel Geld gekostet, dann waren es neue Stiefel und Schulgeld, dann Steuern und vor allem der Zuschuß für Heinz, der sich nun ganz dem Zeichnen widmete und gute, aber langsame Fortschritte machte.

Heute, nach dem Kaffeestündchen, war Anni zu Frau Berger hinabgegangen. Diese saß behaglich an ihrem Fensterplatz, das Strickzeug lag auf dem breiten Gesimse, und sie las im »Daheim«.

»Sind Sie allein?« Rasch hereinschlüpfend, setzte sich Anni auf Frau Bergers freudiges: »Aber das ist recht, liebes Kind, daß Sie auch einmal um diese Zeit zu mir kommen,« ganze nahe zu dieser hin – der Tritt hatte knapp Platz für zwei – und begann verlegen: »Frau Berger, ich möchte Geld verdienen und habe einen Plan!«

»Was der Tausend!« Frau Berger bog ihren Kopf noch näher, sie glaubte nicht richtig gehört zu haben. »Was wollen Sie? Ich dachte, Sie hätten so schon Arbeit genug!«

»Geld verdienen,« wiederholte Anni, »so viel Geld, daß Vater irgendwo einen kleinen Landaufenthalt nehmen und ausruhen kann.« Nun legte Anni ihre Gedanken dar, ob sie nicht vielleicht noch mehr Kinder zur Beaufsichtigung beim Spazierengehen bekommen oder mit einigen nachher französische oder englische Aufgaben oder Handarbeiten machen oder irgend etwas anderes mit ihnen anfangen könnte. Vater müsse fort, das stehe einmal fest.

»Und Sie, Kindchen, das immer nur an andere denkt?« hätte Frau Berger am liebsten geantwortet, aber sie schluckte es hinunter. Warum dem armen Ding das Herz noch schwerer machen? Die Pläne hatten so etwas Unsicheres, und jedenfalls würden die Leute nicht viel zahlen. Es war ihr fast lieb, daß sie in diesem Augenblick in den Laden gerufen wurde, um zu bestätigen, daß der große Gugelhopf wirklich von heute, die Brezeln rösch und die Krapfen mit Himbeer gefüllt seien. Und als sie zurückkam, stürmten die Kinder aus der Schule nach Haus, der Hausherr streckte den Kopf herein und sagte: »Ist der Kaffee bald fertig?« und Anni mußte nun auch hinauf. Frau Berger konnte ihr nur noch einmal geschwind versichern, sie werde sich's im stillen überlegen. Im stillen überlegen hieß bei ihr immer so viel, daß sie's mit Mann und Sohn besprach, und deren Urteil war für sie ihr eigenes und maßgebend.

»Das Mädle schafft sich noch zu Tode, – leid's nicht!« war Herrn Bergers nicht gerade erschöpfender Rat.

»Unsinn!« sagte aber auch Wilhelm in ganz barschem Tone, und die Sache wäre für alle vollständig entschieden gewesen, wenn nur die Geldfrage dadurch eine andere geworden wäre. –

Zehn Schulmädchen hatte Anni doch zusammenbekommen durch den Rektor der Schule und durch das begeisterte Erzählen der Bergerschen Schwestern, wie furchtbar nett es bei Fräulein Lindt sei. Zehn Mädchen dreimal in der Woche, wovon jede fünfzig Pfennig zahlte, machte fünfzehn volle Mark, und bis zu den Ferien waren es noch sechs Wochen, also, o Wonne! konnte Anni auf neunzig Mark rechnen. Mit hundert, hatte Vater gesagt, könnte er acht Tage in der alten Heimat ausruhen. Welche Seligkeit, ihm Mitte nächsten Monats das Geld übergeben und sagen zu können: »Jetzt, Väterchen, reise, jetzt, Väterchen, spanne doch endlich ein bißchen aus!«

»Was hast du denn gegenwärtig immer für einen Haufen Mädel, die dir nachlaufen?« hatte er einmal gefragt, aber Mariechen, die natürlich mit im Geheimnis war, rief schnell besonnen: »Lauter Freundinnen von mir sind's, die für unsere Anni schwärmen!«

Sie schwärmten auch wirklich für Anni, all die jungen Mädchen, und es kamen noch ein paar weitere dazu. Viel sprechen mußte Anni, viel erklären, auch mahnen und wehren und erzählen, statt ausruhen oben im Wald, und den Anfängern das Erzählte übersetzen. Recht müde kam sie oft nach Hause, aber ihr Schatz wuchs, und noch ein paar Tage, so war das Hundert voll, hundert ganze Mark, verdient von ihr! ... Anni war's, als fühle sie trotz der gegenwärtigen Hitze wirkliche kühle Bergluft wehen und sehe grüne Matten mit roten Blumen darauf und höre Bienengesumme ...

Aber noch war's nur ein Traum, und der schien von neuem zu zerrinnen! Der Verleger einer großen Zeichenanstalt in München schrieb dem Vater, er möchte ihn bitten, umgehend herzureisen, um Heinzens Zukunft mit ihm zu besprechen. Es müsse etwas geschehen für diesen jungen Mann, dessen Begabung hervorragend sei, es lasse sich so etwas aber nur mündlich auseinandersetzen. Vater wurde ganz blaß, als er diesen Brief las »Ich habe zu solcher Reise kein Geld, – ich kann für Heinz überhaupt nicht mehr tun, als bisher geschehen ist!« sagte er tieftraurig.

Da holte Anni ihr Beutelein und legte es vor den Vater hin. »Hier!«

Ein bißchen weinen mußte sie, – es war alles wieder so ganz anders gekommen, als sie gedacht hatte. Dann erklärte sie es dem Vater. Als aber dessen Augen, obgleich auch feucht geworden, aufleuchteten und er sagte: »Mein Herzenskind, mein liebes Herzenskind!« da ward ihr Inneres doch sehr froh, und sie bestimmte: »Jetzt reisest du einmal dorthin, und für später hoffen wir auf den lieben Gott!« Und Vater reiste.

Leicht zu überwinden war diese neue Enttäuschung für Anni wahrlich nicht, und Frau Berger, die sie und Mariechen heute zum Abendbrot heruntergebeten hatte, mußte auch ihrem Herzen mit einem kräftigen: »Jammerschade ist's um das gute Geld!« Luft machen. Draußen war's dunkel, Frau Berger zog die Vorhänge zusammen, der Tisch war gedeckt, Salat und kalter Aufschnitt stand darauf, und die Kinder verspürten Hunger.

»Wo bleibt denn der Schlingel, der Wilhelm, heute so lange?« fragte der Hausherr etwas ärgerlich.

»Er kommt, er kommt!« riefen die zur Türe hinausspähenden Mädchen, und der Erwartete trat rasch ein.

»Ah, Fräulein Anni,« er verbeugte sich flüchtig und vergaß ganz, die Eltern zu begrüßen. »Fräulein Anni, ist Ihr Herr Vater oben? Ich muß ihn sofort sprechen!«

Ganz erschreckt sahen alle drein, und Anni sagte mit wenig Worten, was heute geschehen, und wo Vater hin sei.

»Das trifft sich ja herrlich, da werde ich ihm sofort ein Telegramm nachsenden, das er hoffentlich heute abend noch erhalten wird. Mutter, du entschuldigst.« Wilhelm Bergers Gesicht sah aus, als wäre jetzt auf der ganzen Welt alles andere Nebensache, vor allem so etwas Gewöhnliches wie ein Nachtessen, im Vergleich zu dem, was er am Nebentisch auf ein Telegrammformular schrieb. Er, der sonst so Ruhige, drückte Anni die Hand, daß es fast schmerzte, und das lange Telegramm, das er dann vorlas, und das gleich darauf den Weg nach München nahm, lautete:

Habe soeben von einer sehr vorteilhaften kaufmännischen Direktorsstelle an einer großen Dampfsägerei zwischen München und dem Starnberger See erfahren und habe Sie genannt. Lage des Wohnhauses entzückend, Bedingungen höchst annehmbar. Entschluß wegen Todesfalls des seitherigen Direktors bald zu treffen. Brief folgt. Sehen Sie sich, bitte, die Sache womöglich morgen an. Soviel mir bekannt, Lindenhof nicht weit entfernt.

Wilhelm Berger.

Und Herr Lindt sah sich die Sache an. Am nächsten Morgen war er mit dem ersten Zuge den Bergen zugefahren, – seinen Bergen. Im Frühlicht strahlten sie zu ihm herüber, der See glitzerte, und köstlich frische Luft umspielte seine Schläfen, – Heimatluft. Dort, am Ausfluß des Sees, in grüner Mulde, begrenzt von Tannen und Birken, lag die Stätte, die er sich ansehen sollte. Ein Wohnhaus mit einer Altane grüßte von einem blumenüberwachsenen Hügel herab, und das Rauschen des Baches, die Töne eines fröhlichen Betriebes empfingen den am nahen Bahnhof Aussteigenden. Tief, tief atmete er auf. Nach Jahren wieder weitete sich die Brust dessen, der gleich darauf den kleinen Wiesengrund hinabschritt. Und als er vor dem Gebäude, in dem sich sein Schicksal entscheiden sollte, noch einen kurzen Halt machte, da flehte seine Seele: »Um Annerls willen, lieber Gott, um meines Herzkindes willen laß es gelingen!«

Und die Bitte wurde erhört.

Anni und Mariechen saßen gerade bei der Suppe, und in der Küche bestreute Rosa den gekochten Reisbrei mit Zucker und Zimt. Sie ließ durch die Streubüchse einen dicken Regen herunterfallen, denn Mariechen freute sich schrecklich auf ihre Leibspeise. Da schellte es draußen, und Wilhelm Berger stand da mit einem geöffneten Telegramm in der Hand. Und hinter ihm drückten sich zwei Mädel vor, die Mutter kam gleichfalls, etwas schnaufend, nach, und von der mittleren Treppe rief der Vater Berger, dem das Steigen schwer fiel: »Haltet, wartet, ich will auch dabei sein!« Alle waren sie beisammen, und aller Gesichter strahlten voll treuester Teilnahme, als Wilhelm das an ihn gerichtete Telegramm vorlas:

»Direktorstelle erhalten, Bedingungen über Erwarten günstig. Ihnen verdanke ich die Wendung meines Schicksals. Bitte meinen Kindern Bescheid zu geben. Übersiedlung möglichst bald, komme übermorgen.

Lindt.«

Zu Rosas großem Ärger blieb die Suppe ungegessen, und der Reisbrei wurde kalt wie auch das Mittagsmahl in der Ladenstube unten. Es gab zu viel des Redens und Freuens und Händeschüttelns und Bedankens, bis Lydia und Martha plötzlich einfiel, daß ja hinter all dem ein Abschied stecke, und beide schickten sich an zu weinen. Wilhelm aber sagte nachdrücklich: »Das könnt ihr später einmal besorgen, heute ist heute, und ich bin so unbändig froh, Fräulein Anni, Ihr Gesicht einmal so recht gründlich vergnügt zu sehen!«

Das dachte auch Frau Berger, aber gleichfalls mit Wehmut, denn es ging ihr wie ihrem Töchterlein, und ihr Mann, der das merkte, meinte schnell, vielleicht wäre es gut, jetzt zu Mittag zu essen. Nachmittags könne dann, wenn Fräulein Anni damit einverstanden sei, bei einer Schokolade unten das Weitere besprochen werden.

»Aber eine Festschokolade muß es sein, und der schönste Gugelhops muß dazu!«

»Und ich auch,« sagte Wilhelm fast übermütig. »Ich mache mich heute frei, und wenn sie an meinem Neubau auch das Unterste zu oberst kehren, – morgen drehe ich's dann wieder herum.«

*

(Zwei Jahre später.)

 

Brief von Anni Lindt an Gräfin Waldernberg.

Mühlhalde, Mai 19..

Geliebte Tante!

Das, was Du hast kommen sehen, als Du mit Ruth im Frühjahr hier bei uns warst, ist wahr geworden: seit gestern bin ich die Braut von Wilhelm Berger. Könnt Ihr denn fassen, daß er mich gerade gewählt hat, er, der so geschickt und gescheit, so beliebt und so gut, mit einem Wort eben der allerbeste Mensch auf der ganzen Welt ist? Und er hat noch gezögert, ob er's wagen dürfe, um mich anzuhalten, um mich, das unwissende, unscheinbare Dummerchen, denn daß dieses Wort trotz all Deinem Widersprechen wahr ist, merke ich nie mehr als im Gespräch mit ihm. Er sagt, er hätte mich nie gefragt aus Angst, ein Nein zu bekommen, und so hat die liebe Mutter Berger, wofür sie gesegnet sein soll, die Vermittlerin gemacht. Sie besuchte uns mit Martha und Lydia, worüber Mariechen glückselig war. Und als ich ihr am ersten Abend unsern Garten gezeigt und wir an Vaters Lieblingsplatz saßen, von wo man in der Ferne die Hügel seiner Heimat sieht, da sagte sie: »Fräulein Anni, es wird einmal schwer für Sie sein, von hier und von den Ihrigen wegzugehen, aber beim Heiraten ist das immer so, und ich weiß einen, der sein Herzblut für Sie gäbe!« Was ich darauf sagte, weiß ich nicht mehr, aber am Abend da kam der Eine, der nun selber sprach, und Vater Berger kam heute in seinem schönsten Rock, mit Medaillen und dem Eisernen Kreuz mir zu Ehren geschmückt, und den Geschwistern in München wurde telegraphiert. Unser Heinz und der neue Schwager verstehen sich immer besser, sie haben viel gemeinsame Interessen, und Wilhelm hat so mancherlei Beziehungen in München, so daß er daran denkt, später vielleicht einmal dorthin zu ziehen. Vorerst soll unser Heim in Stuttgart sein, und zwar oben in der lieben alten Wohnung bei den Eltern. Das Haus mag nun tausendmal etwas trübe aussehen und in einer engen Gasse stehen, – ich denke, es soll doch helle bei uns sein. Und keine Sorgen mehr! Und dann das Zimmer, wo maminha war, und dann all die Lieben unten, und dann – Wilhelm sagte das als Erstes – dann soll ich sehr oft Väterchen besuchen dürfen, sooft ich wolle. Und sowie es warm werde da oben zwischen den Dächern, bringe er mich hierher auf die herrliche Mühlhalde, aber lange verlassen, das sage ich jetzt schon, tue ich ihn nie. Vater zu verlassen und mein Mariechen, das ist jetzt das einzige, was mir mein Glück trübt. Er sagt zwar, er werde mich gar nicht vermissen aber dabei schimmert's feucht in seinen lieben Augen, und ich weiß, er tut's doch. Da kam mir der Gedanke an unsre alte Gotthelf, und es ist ihm recht, wenn ich schreibe. Rosa mit der jungen Magd führen tadellos den Haushalt, Vater braucht nur jemand zum Reden und abends zum Vorlesen. Mariechen, die hier bis jetzt die Dorfschule besucht, bekäme auf diese Weise eine vorzügliche Erzieherin. Was das Gotthelfchen vielleicht ein bißchen zu ernst ist, wird unsere übersprudelnd lustige Kleine schon ausgleichen, und hier zwischen Bergen, Wald und See in der befreienden Luft kann ja auch gar niemand auf die Dauer bedrückt bleiben, das sehen wir täglich an Vater.

Und nun zum Schluß noch eine Neuigkeit! Ihr wißt, wie unsere Eva seither noch verschiedenes versucht hat, und wie es ihr trotz ihrem wirklich guten Willen, den sie nun hat, nirgends gelingt. Das natürlichste wäre, sie würde mich hier ersetzen, aber sie hätte das nicht gemocht, auch wenn sie nicht vorher schon im stillen etwas anderes begonnen hätte. Vor etlichen Monaten bat sie Vater um einige hundert Mark, – gottlob, daß er sie jetzt geben kann! Es war von München aus, und Heinz sagte: »Laßt sie nur machen, – diesmal wird's recht werden!« Und wir glauben, daß es das Richtige ist, obgleich es uns noch recht verwunderlich scheint. »Anni soll kommen und sehen, was ich jetzt bin,« schrieb sie vorige Woche, und ich fuhr hin. Die Adresse lautete: Charlotte Braun, Werkstätte für Damenmoden. Das ist eine Beamtenwitwe, die seit Jahren das erste Geschäft dieser Art in München führt, und dort traf ich unsere Eva als – Leiterin. Ganz im stillen hat sie noch dort gelernt, und Frau Braun empfing mich wie eine liebe Bekannte. Sie ließ mich durch die halboffene Tür ihres hübschen, behaglichen Wohnzimmers in den Kundenraum sehen, wo Eva gerade als Dame mit Damen verhandelte und ihnen riet. Dann sah ich noch, wie sie jungen Modistinnen Blumen und Federn, Spitzen und Stoffe zum Verarbeiten zusammenrichtete, so daß das Ganze eine schöne Harmonie bildete, und dabei sah sie so vergnügt und frisch aus, wie seit langem nicht mehr. »Eine solche Gefährtin habe ich mir schon immer gewünscht,« sagte Frau Braun, als sie mir nachher Tee anbot. »Eine Gefährtin aus guter Familie, die feinen Geschmack hat und die richtige Seelengröße, Dame und Geschäftsfrau würdig zu verbinden!« Da war Eva eben eingetreten.

»Mit Würde und Seelengröße ist's nicht weit her bei mir, das weiß Anni,« fiel sie lachend in unsere Rede. »Ich bin das, was ich jetzt bin, nur geworden, weil ich einfach ohne Flitter und Tand nicht sein kann!« Aber dann, als wir behaglich beisammensaßen – es war gegen Abend – und niemand mehr kam, da sah ich, wie gut sich die beiden schon zusammen eingelebt hatten, und Eva vermochte sogar scherzend zu sagen: »Es geht doch eigen in der Welt zu, Boba! Ich bleibe eine alte Jungfer, und Dummerchen heiratet!« Ein bißchen Wehmut klang dabei durch, und das wird mich immer bedrücken, obgleich Eva sofort beifügte: »Der Mann, der mich bekommen, hätte mich auch gewaltig gedauert!« Die liebe Schwester, sie mußte doch am schwersten von uns allen tragen. Als sie mir nachher ihr Zimmer zeigte und ich ihr dies andeutete, sah sie einen Augenblick starr vor sich hin und nickte. Dann sagte sie so rührend: »Ich war aber auch die Hochmütigste, davon könnten Kathi und die Gotthelf ein Lied singen. Na, Dummerchen, sei froh, du brauchst keine Reue zu haben!« und dabei küßte sie mich und lief rasch hinaus.

Nun aber Schluß, denn es ist späte Nacht! Ihr Lieben, Lieben, nicht wahr, Ihr freut Euch mit mir? Tante, ist's denn kein Unrecht, daß ich so unbändig glücklich bin? Ich glaube, das hat mir der liebe Gott geschenkt, denn wie oft ist mir früher das Frohsein nicht gelungen! Tante, wie hat er uns allen jetzt geholfen, – wie gut war doch alles, was er geschickt! Glücklich und dankbar

Eure Anni.

N.S. Als Wilhelm mich fragte, ob ich ihn liebe, da habe ich so gestottert, Tante, wie nie, nicht einmal in meiner schlimmsten Zeit, aber – verstanden hat er mich doch!


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