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Siebentes Kapitel

»Fortweh!« – Weshalb Vater »Warum?« sagt und die Kleine ihren Plüschaffen liebt. – Von seidenen Schleppen, Walzerweisen, tausend farbigen Lichtern und plötzlicher Finsternis. – Wie Male findet, daß Kopfwaschen unnötig sei, und Friedrich um seinen Dieneranzug jammert. – »Für deine Mutter tu, was du kannst!«

Das Wetter schlug um, und unter Sturm und naßkaltem Maiwetter war Frau Lindt mit Eva zurückgekehrt. Die beiden hatten sich sehr gut erholt. Da sie sich jedoch durch Unvorsichtigkeit bald nach ihrer Ankunft erkältet hatten, so waren sie sehr schlecht auf das heimische Klima zu sprechen. Um so mehr erzählten sie von dort und dem glänzenden Leben an dem großen Kurorte, wo reiche Menschen von der ganzen Welt ihr Vergnügen finden. Mit einigen von ihnen war schon verabredet worden, daß man sich im August in einem Seebad treffen wolle. Inzwischen, meinte Eva, müsse man sich die Zeit hier eben, so gut es ginge, vertreiben.

Auch Anni hatte »Fortweh« und fühlte sich nicht wohl zu Hause trotz dem glänzenden, prächtigen Heim, in das sie wieder zurückkehrte. Fräulein Cécile hingegen war mit tausend Freuden von ihrem Urlaub, den sie bei einer Schwester mit vielen kleinen Kindern zugebracht hatte, ins Lindtsche Haus zurückgekommen. Sie hauste nun wieder wie einst mit Anni zusammen. Aber obgleich diese die französische Sprache vollständig beherrschte, hatten sich die beiden doch wenig zu sagen. Auch die Mama und Eva zeigten nach den ersten Berichten des Kindes wenig Interesse für all das Köstliche, was Anni erfüllte. Ja, als diese ein paarmal begeistert von der lieben Tante sprach, da war's fast, als würde die Mama eifersüchtig. Sie meinte: »Natürlich hat die Gräfin in ihrem stillen Leben Zeit genug für all diese kleinen Dinge im Haushalt und in der Kinderstube, die sich eigentlich für eine vornehme Dame gar nicht passen!«

»Tante Waldernberg t... tut nie etwas, was sich nicht p... paßt!« entgegnete darauf Anni mit flammendem Gesicht.

Aber die Mama sagte nur kurz: »Das mein' ich auch nicht, und wir haben ihr ja auch gebührend für die Freundlichkeit gedankt, die sie für dich hatte. Übrigens, Boba, du stotterst ja wieder!«

Die Mama wartete keine Antwort ab, denn Eva trat eben mit ihrem neuen Sommerhut ins Zimmer, und die Wartfrau brachte die Kleine zum Lebewohlsagen vor dem Spaziergange. Das kleine Mädchen trug in den Armen einen riesigen Orang-Utan aus Plüsch, den Mama ihr mitgebracht hatte, und brannte darauf fortzugehen, um ihn im Zoologischen Garten, wohin sie heute durfte, mit den wirklichen Affen zu vergleichen. Aber so schnell kam die Kleine nicht von Mama fort. Erstens mußte von dem wohlerzogenen Kinde die Hand geküßt werden, dann mußte es unzählige Liebkosungen über sich ergehen lassen, und ganz zuletzt wurde noch, wie meistens, Aussehen und Anzug beanstandet.

»Warum nicht die weißen Schuhe statt der blauen? Liebling, ich kann dich nicht sehen mit dem Knoten! Wickeln Sie doch morgen wieder Locken! ... Ist die Luft auch nicht schlecht bei all den Tieren? ... Passen Sie doch ja um's Himmels willen recht auf, daß Maria keinem zu nahe kommt! ... Nicht wahr, Herzchen, du bist immer artig? ... Bleiben Sie auch schön im Schatten!« ... Und als die beiden schon an der Türe waren, mußte die Kleine wieder zurück. »Komm her, gib Mama noch ein paar Küsse, – so!« Aber jetzt wurde das Kind, wie meistens bei solchen Gelegenheiten, ungeduldig und unwirsch, und es gab noch eine kleine Strafrede für die Wartfrau und ihren Pflegling.

Anni erschien das alles auf einmal so merkwürdig, in ganz anderm Lichte als früher, aber es hielt sie etwas davon ab, mit der mütterlichen Freundin über die Ihrigen zu reden. Sie hätte es auch nicht recht in Worte kleiden können. War doch Mama im Grunde genommen sehr lieb, nur eben launisch, woran wohl ihre Gesundheit schuld war. Mochte sie heute nichts hören und nichts sehen, was sie »angriff«, so konnte sie morgen in wirklichem Mitleid an irgendeiner Straßenecke einem Armen eine große Summe geben. Machten ihr die Dienstboten heute nichts recht, so verwöhnte sie sie morgen mit Geschenken aller Art. Und kam sie tagelang nicht dazu, sich um Anni zu kümmern, so ließ sie die Kleine doch plötzlich manchmal zu sich rufen, fragte tausenderlei über Schule und Lehrer, über die allwöchentlichen Besuche bei Waldernbergs und über die Gräfin, die Frau Lindt zu ihrem stillen Mißvergnügen selten zu sehen bekam, für die sie sich aber doch ungemein interessierte. Und wenn Anni, glücklich, bei Mama sitzen zu dürfen, alles so nett und schlicht schilderte, so ehrlich bemüht, alles, was ihr am Herzen lag, auch richtig darzustellen, da kam es vor, daß die Frau auf dem Liegesofa ihre Zigarette plötzlich beiseite legte, sich aufrichtete und Anni zärtlich in die Arme schloß mit den Worten: »Bobinha, mein Braves, mein Liebes, mein Armes!«

Wie beglückend war das trotz des stets mitleidig klingenden letzten Wortes, das wohl Annis nicht hübschem Äußern galt! Das junge, warme Herz wallte in solchen Augenblicken hoch auf, und kein Opfer wäre ihm da für die Mutter zu groß gewesen. Aber noch mehr, noch viel mehr und ganz anders noch schlug es dem Vater entgegen. Der mochte das fühlen, denn seit einiger Zeit kam es vor, daß er auf einmal zu einer Zeit, die er sonst auswärts zuzubringen pflegte, zu Anni ins Zimmer trat, um sich dort, wie er sagte, ein wenig zu erholen. Wenn er doch nur nicht so furchtbar viel arbeitete, der Arme, Liebe! Anni schob ihm dann sofort, wenn er kam, den alten Lederstuhl mit den Ohrklappen, der noch aus dem Lindenhof stammte, hin, zündete ihm seine Zigarre an, zog ihm den grünen Vorhang vor das Licht und setzte sich, ein Strickzeug in der Hand, ihm gegenüber. So mochte er's, – es erinnere ihn an die Großmutter, sagte er. Meist wurde wenig gesprochen, – der Vater ruhte ja aus, ehe er sich zum Essen umkleidete und hinunterging. Hie und da aber erzählte er von damals, als er noch Kind war, als er in Joppe und Kniehosen mit dem Vater auf die Wiesen ging und mit der Mutter in die Kirche, wie ihm Ernteküchlein und Speckknödel als das Höchste vorgekommen, und wie er verblüfft gewesen sei, als der Großvater ihm sagte, die wirkliche Welt fange erst hinter den Bergen an.

Wie furchtbar gern hörte Anni da zu. Aber gestern verstand sie den Vater nicht. Zum Essen ließ er sich entschuldigen und war dann nachher doch da, bei ihr, in ihrer Stube. Niedergesetzt hatte er sich nicht, sondern war mit großen Schritten auf und ab gelaufen.

»Hast du frisches Wasser, Kind?« Er fragte es hastig und stürzte dann ein Glas nach dem andern hinunter. Plötzlich war er stehen geblieben und reckte die Arme: »Herr Gott, Annerl, mag's da unten in den Bergen jetzt schön sein!«

Seine Stimme klang so, wie wenn jemand Tränen verschluckt, – aber ein Vater weint doch nie!

»Warum gehen wir dann nicht im Sommer dorthin statt in die dummen Bäder mit den vielen Menschen?« fragte Anni zaghaft.

»Ja, warum, warum? So könnte man bei vielem fragen.« Nun war's aber wirklich wie ein Schluchzen, was aus Vaters Brust drang, und Anni blickte ihn besorgt an. Da wandte er sich so rasch, wie er gekommen, zum Gehen, drehte sich unter der Tür aber noch einmal um. »Bei dir ist gut sein, Annerl, du wirst deinen Vater immer liebhaben, auch wenn ...«

Das letztere verstand Anni nicht, aber es verfolgte sie das Wort »wenn« ... Was meinte Vater nur damit? Was war's, das ihn solche Dinge sagen ließ, das ihn bis zum Weinen betrübte? Ob die Tante wohl eine Ahnung davon hatte? Die hatte in letzter Zeit auch sie, Anni, so manchmal mitleidig angesehen. Was konnte das bedeuten?

Viel Zeit zum Nachdenken gab's aber heute nicht. Im Hause war große Unruhe und Arbeit, denn am folgenden Tag sollte im Lindtschen Park ein großes, glänzendes Gartenfest stattfinden. Kathi hatte mit besonderer Sorgfalt Annis schönes Haar eingeflochten, damit es morgen hübsch lockig sei. Eva war noch gekommen, um von Annis Zimmer aus, das gegen Westen lag, nach dem Himmel zu sehen. Funkelnde Sterne und ein wolkenloser Himmel verhießen das Beste.

Auch Eva kam Anni heute so merkwürdig vor. Schon im Nachtgewand, mit gelöstem Haar setzte sie sich einen Augenblick ans Bett der Schwester, sprach ein paar gleichgültige Worte, und gleich darauf folgte eine stürmische Umarmung. »Dummerchen, liebes gutes Dummerchen, ich bin so unaussprechlich vergnügt!«

»Ist's wegen des Gartenfestes?« Anni sah ganz erstaunt an der Schwester, die schon wieder aufgestanden war, in die Höhe. Bei all solchen Veranstaltungen war Eva sonst doch immer ganz kalt geblieben, und heute leuchtete und strahlte ihr Gesicht. »Warte nur, balde, balde,« trällerte sie beim Hinausgehen, nachdem Anni nochmals einen Kuß bekommen hatte.

Und Fräulein Cécile, die war erst recht aufgeregt, als sie noch ziemlich später als sonst von unten heraufkam. Unbekümmert darum, daß Anni eigentlich schlafen sollte, redete sie wie ein Wasserfall von all den »superben Arrangements« in Haus und Garten und dann – sie konnte nicht schweigen, es hätte ihr das Herz abgedrückt – von »ein große, große Ge'eimnis, von die aber nok niemand sprecken dürfe, und daß die liebe Mademoiselle Eva dann wohl die reikste und die schönste Frau von der ganzen Stadt werde sein«.

So viel verstand Anni endlich, daß Eva sich morgen wohl verloben werde, und sie ahnte auch, mit wem. Es war der junge Chelius, der Bruder von Evas Freundin, ein sehr feiner, sehr gewandter Herr, der, von Reisen zurückgekommen, in letzter Zeit gar oft genannt worden war, der aber Anni gar nicht gefiel. Leute, die spotteten, mochte sie nun einmal nicht, und die paarmal, wo sie ihn bei den Mahlzeiten gesehen, war ihr gerade dieser Herr gar nicht lieb erschienen.

Es war fast Mitternacht, als Anni endlich einschlief. Ihre Hände waren noch gefaltet, und die Lippen hatten beim Einschlafen gesagt: »Mach' du, lieber Gott, daß Vater nicht mehr weinen muß, und daß Eva glücklich wird!«

Der himmlische Vater erhört die Gebete seiner Kinder nicht immer sofort, und Anni war's im Innern, als käme über sie und über alle eine große, große Finsternis. Sie wollte vor Angst laut aufschreien, aber da fühlte sie eine feste Hand, die sie hielt, und eine Stimme sagte: »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!« –

Strahlend schön stieg der nächste Morgen auf, und wolkenlos war der ganze Tag. Man konnte so recht unbesorgt alle Vorbereitungen zu dem Feste treffen. Zahllose Diener waren im Haus und Garten beschäftigt, die Tische zu decken, lauschige Plätze zu richten. In der Küche hantierten neben Cilli noch etliche Köche, und köstliche Platten mit seltenen Speisen standen reihenweise bereit. Unter Friedrichs Anordnung waren Weine der verschiedensten Marken aufgestellt worden. Die Beete prangten in den schönsten Blumen, der Rasen war wie grüner Samt, und den Platz unter den alten Kastanien, wo getanzt werden sollte, bedeckte ein großer Teppich. Die Wege waren alle tadellos hergerichtet und mit kleinen, durch einen Draht verbundenen Lämpchen eingefaßt, und von Zweig zu Zweig schwangen sich durch alle Alleen und Gebüsche Ketten von bunten Papierlaternen.

Einige Minuten vor acht Uhr ging die Herrin all dieser Pracht langsam besichtigend an Evas Arm durch den Garten. Lässig ließ sie die Schleppe ihres Kleides von indischer Seide schleifen. Der Reif von Brillanten in ihrem Haar und die Ohrringe, bestehend aus einzelnen großen Steinen, leuchteten und funkelten selbst in der Dunkelheit ganz seltsam auf. Anni, die bis zum Essen dem Feste beiwohnen durfte und in dem blaßblauen Seidenkleide mit den hellen, dichten Locken niedlich aussah, konnte den Blick nicht von der schönen Mama wenden, die hier so recht an ihrem Platze zu sein schien.

»Wie in meiner Heimat!« hörte Anni sie mit ihrer tiefen, stets etwas müden Stimme zu Eva sagen. Müde war Mama ja immer. Aber jetzt schlug es acht. Die ersten Wagen fuhren vor, und auf ein gegebenes Zeichen flammten all die unzähligen Lichter auf; wie mit einem Schlage dünkte man sich mitten in einem Wunderlande.

»Wo ist Vater? Es ist ein Jammer, daß er nie pünktlich sein kann!« Eva sagte dies ungeduldig, ehe sie sich unter die Gäste mischte. Anni aber blieb mit Fräulein Cécile ein bißchen zurück, um den Fremden Raum zu lassen. Das Fest nahm seinen Verlauf. An Teetischen mit mattfunkelndem silbernem Geräte saßen die älteren Herrschaften. Mandolinenspieler waren hinter ihnen im Gebüsche versteckt und ließen ihre süßen Lieder erschallen. Drüben tanzte die Jugend nach fröhlichen Weisen. Eva als Ballkönigin, sofort erkennbar an einem silberglitzernden Gewande, begehrt von allen Tänzern, bevorzugte viel den einen, dessen glatte Art und Weise Anni mit Angst beobachtete.

Ihr war überhaupt so angstvoll zumute. Augenblicklich stand sie allein da. Fräulein Cécile hatte auch einen Tanz angenommen und flog selig lächelnd an ihr vorüber.

»Erwarte mich hier, an diese Baum, ick komme gleik wieder!« hatte sie gesagt, aber Anni fühlte sich unbehaglich unter all diesen Menschen, namentlich wenn sie mit Bangen an den Vater dachte. Wo blieb dieser nur? Was konnte ihn abgehalten haben zu kommen, da er doch auch sonst trotz der größten Arbeit bei Festen um der Mama willen noch nie gefehlt hatte?

Hinter den Bäumen, in der Ferne, wetterleuchtete es, und ein plötzlicher Windstoß ließ Anni erschauern.

»Keine Gefahr, das Gewitter bricht erst gegen Morgen los, – bis dahin nützen wir die schönen Stunden aus,« hörte sie Herrn Chelius zu Eva sagen, die, einen Strauß prachtvollster Rosen tragend, eben an seinem Arme vorüberging.

Anni fürchtete sich vor Gewittern, und wieder spähte sie nach dem Himmel. Sämtliche Sterne waren verschwunden. Da sah sie plötzlich Kathi, die gleich den andern Mädchen nichts da unten zu tun hatte, suchend auf sie zukommen.

»Fräulein Anni, liebe, liebe Fräulein Anni, bitte, kommen Sie sofort mit mir!«

»Sofort!« Anni eilte der gleich wieder dem Hause sich Zuwendenden nach und faßte sie, bebend vor Furcht, am Arm: »Kathi, ist's etwas mit dem Vater?«

»Ja!« sagte diese. Beide hatten schon zusammen die Treppe erreicht. »Ja! Der gnädige Herr ist vor wenigen Augenblicken vom Geschäft nach Hause gekommen. Von seinem Zimmer ist er in das Ihrige gegangen, wo ich gerade war. Es muß ihm nicht gut sein. Er fragte nach Ihnen, Fräulein Anni, und da lief ich, um Sie zu holen.«

Anni riß die Tür auf, und da saß Vater in seinem Stuhl an dem Tisch, tief vorgebeugt, den Kopf in den Händen verbergend. War denn sein Haupt immer so grau gewesen?

Anni strich leise mit der Hand über seine Haare und legte ihre Wange an die seine. »Vater, – lieb Vaterchen!«

Da hob er den Kopf und sah ihr todestraurig in die Augen. »Alles Kämpfen war vergeblich, Annerl, – ich habe nichts mehr! Verlust und Unglück, hier und auf Mutters Gütern! ... Heute noch der Krach einer Bank! – Alles verloren! ... Und deiner Mutter, was sag' ich deiner Mutter? ... Sie und Eva ertragen es nicht!«

Stückweise kamen diese Sätze hervor, und dann sank der Kopf wieder auf den Tisch.

Obgleich Anni an allen Gliedern zitterte, war sie doch fast erleichtert, daß es nur dies war. Die Tragweite dieser Verluste verstand sie ja im Augenblick nicht.

»Vaterchen, gottlob, ach gottlob, daß du gesund bist!« konnte sie nur immer wieder, ihn liebreich streichelnd, sagen. Hatte sie doch gefürchtet, es sei etwas noch viel Schrecklicheres geschehen.

Aus dem Parke tönten Walzerklänge, vermischt mit fernem Donnerrollen; dann wurde ein Marsch geblasen, und die Paare gingen zu Tisch, Eva geführt von dem Haupttänzer. Eben ergriff dieser das Sektglas und eine rote Rose, die vor ihm auf dem Tisch lag. Da wurde ihm von einem fremden Diener eine Karte mit dem Vermerk »dringend« übergeben. Er las und wurde blaß. Die Rose blieb liegen, das Sektglas stieß nur schwach unter einer höflichen Verbeugung an das von Eva. Das erwartete Wort blieb unausgesprochen.

Die Tafel konnte überhaupt nicht ganz zu Ende geführt werden, denn ein plötzlicher Wirbelwind hob die Tücher, nahm jäh fort, was nicht fest war, zerriß die Lampen und löschte die Lichter, und schwere Tropfen zwangen die Gäste zum Flüchten. Die Wagen fuhren vor, die Stimmung war vorüber, und der Aufforderung der Hausfrau, sich doch noch in den glänzend beleuchteten Wohnräumen behaglich zusammenzufinden, wurde keine Folge mehr geleistet. Ein seltsames Raunen, heimlich und leise, aber doch alle andern Geräusche übertönend, ging von Mund zu Mund, und ehe noch das Gewitter in voller Macht ausgebrochen war, hatten die letzten Geladenen in gedrücktester Stimmung das Lindtsche Haus verlassen.

Der Sturm aber, der diese Nacht innerhalb des Hauses tobte, war so stark und heftig, daß er eine schwache, haltlose Frau vollständig zu Boden warf, daß ein junges Mädchen, laut aufweinend vor Verzweiflung, den Kopf in die Kissen bohrte, um das vernichtende Tosen nicht zu hören, daß die Dienstboten sich scheu in die untersten Räume verkrochen, und daß die festgefügten Quader des stolzen Baues wankten und beinahe brachen.

Nur ein junges Kind behielt seine Fassung, und seine betenden Lippen, seine schwachen Hände und seine tröstende Liebe bewahrten einen Verzweifelten vor dem Abgrund ...

Wenn ein Sturm ausgetobt hat, besichtigt man den Schaden. Wochen vergingen, ehe man alles so ganz übersehen konnte, und wieder Wochen, bis die Betroffenen einigermaßen ins Auge fassen konnten, was nun zu tun war.

Das Schwerste war der Zustand der Mutter, die man um nichts befragen konnte. Völlig teilnahmlos lag sie seit der fürchterlichen Nachricht da, kaum fähig, sich zu bewegen, auf alles nur die eine Antwort erteilend: »Es ist ja doch mit uns aus! Tut, was ihr wollt!« Noch mußte der Vater jeden Tag ins Geschäft zu den schweren, demütigenden Auseinandersetzungen. Seine Schuld war der riesige Aufwand, den er in seiner großen Schwäche den Seinen gegenüber gestattet hatte. Sonst konnte ihm niemand einen Vorwurf machen. Er hatte wirklich Unglück gehabt. Sein einziges Bestreben war, daß niemand durch ihn Schaden litt. Lieber die äußersten Opfer als dies!

Noch schien alles im alten Gefüge, aber nun kamen die Veränderungen. Zuerst wurden die Pferde und Wagen verkauft, der Kraftwagen und auch die Ziegenböcke und Heinzens Fahrrad. Dann hieß es das Haus räumen, das dem Verkaufe ausgesetzt wurde. Ein Freund von Herrn Lindt, ein Rechtsanwalt, nahm das alles in die Hand und gab Eva und Anni die schwere Weisung, alles das, was nicht unumgänglich notwendig war für den künftigen ganz kleinen Haushalt, zum Verkaufe bereit zu stellen. Dazu kamen zuerst sämtliche feine Möbel, die Ölbilder, die Kunstgegenstände und Aufstellsachen, die Bücherei, das Silber, Teller, Tassen, Bestecke usw., dann aber auch alle kostbaren Kleidungsstücke, Pelze und vor allem Mutters und Evas Schmuck.

Diese war wie die Mutter im ersten Augenblick starr und fast gleichgültig. Die zerstörten Hoffnungen waren entsetzlich hart zu begraben. Mit großer Bitterkeit sagte auch sie: »Mir ist's gleichgültig, was noch geschieht!«

Als aber ein Stück nach dem andern von ihren schönen Sachen für überflüssig erklärt wurde, als man ihren entzückenden Empiresalon räumte und sie Schränke und Schubladen zur Untersuchung öffnen mußte, da machte die Bitterkeit einem verzweifelnden Jammer Platz. »Lieber sterben, als künftig so elend leben!«

»Sprich nicht so, Eva, bitte, sprich nicht so!« flehte Anni, die trotz ihrer großen Jugend in diesen Tagen die einzige war, die Auskunft erteilte und mit Hilfe von Kathi tat, was nötig war. »Sprich nicht so, denn es steht ja doch nicht so furchtbar schlimm, wie Vater anfangs geglaubt hat! An all diesen Sachen hängt doch nicht unser Glück, und wart' nur, wie nett und behaglich wir uns auch einmal in einer kleinen Wohnung werden einrichten können! Wer weiß, vielleicht viel behaglicher als jetzt!« Anni tröstete, so gut sie vermochte.

»Du hast von jeher keinen Sinn für all das Schöne gehabt,« sagte Eva fast vorwurfsvoll. »Hier bleiben und all die mitleidigen oder boshaften Blicke der Menschen aushalten zu müssen, ertrage ich nicht.«

»Herr Rechtsanwalt Stein erhofft für Vater eine Stelle in irgendeiner andern Stadt, – es liegt auf ihm kein Makel,« sagte Anni stolz, aber nun ihrerseits mit den Tränen kämpfend. Auch sie liebte ja die Heimat, und dann von ihrer lieben Gräfin und Ruth scheiden zu müssen, war für sie das Schwerste vom Schweren. Nie hätte Anni je das leisten können in ihrer Jugend und Unerfahrenheit, was ihr in letzter Zeit Tag um Tag gelang, ohne die treuen, praktischen Ratschläge der Freunde und ohne Kathis Fleiß und warme Hingabe. –

Alles Entbehrliche war nun verkauft worden. Leer und öde sahen die mit Seide bezogenen Wände des Salons aus, geleert waren Wintergarten, Ställe und Schuppen. Nur im Untergeschoß stand noch das verpackt, was die von hier scheidende Familie behielt. Auch in Küche und Gesindezimmer war's anders geworden als einst. Berta und Cilli hatten schon vor Wochen ihre Koffer geschnürt, bitter ungern, denn solch eine Stelle, wo man so herrlich sein Schäfchen ins Trockene bringen konnte, fand sich nicht leicht wieder, wenngleich, wie Cilli sagte, »die Gnädige unsereins nie so als richtigen Christenmenschen behandelt hat, sondern mehr wie so einen schwarzen Sklaven von da drunten, wo s' herstammt.« Fräulein Cécile war gleich nach einigen Tagen unter vielen Beteuerungen, wie so furchtbar traurig sie über dieses schreckliche Unglück sei, zu einer andern Familie, die gerade eine Erzieherin suchte, übergegangen.

Am schwersten unter dem Abschied litten Kathi und Friedrich.

Es war an einem der letzten Tage, ehe alles auseinanderging, daß die beiden an dem nun so leer gewordenen Gesindetisch mit der alten Male, die, so gut sie's verstand, diese Zeit über gekocht hatte, beisammensaßen. Friedrich schob seinen Teller halb geleert von sich.

»Wenn man denkt, daß man fünfundzwanzig Jahre in einem Hause war, wo es so nobel und fein wie in keinem andern zuging, und nun fort muß, ohne die versprochene Pension! Ich, der immer die vornehmste Dienstkleidung getragen, soll nun in dem schäbigen Rock eines Geschäftsdieners herumlaufen und noch froh sein, daß ich dieses Unterkommen finde!«

»Was für ein gutes Essen hat's immer hier gegeben!« sagte Male. »Unter der Cilli hab' ich mir stets die Töpfe für daheim füllen dürfen. Die Gnädige hat nicht danach gefragt. Jetzt komm' ich in ein Haus, wo die Frau für sich selber das Gemüse dreimal wieder aufwärmen läßt.«

Kathi weinte still vor sich hin. Heute hatte sich's entschieden, daß auch sie sich eine andere Stelle suchen mußte, und sie wäre so gerne, ach, so gerne bei der nun so unglücklichen Familie geblieben, auch um den halben Lohn, der jetzt nur noch gegeben werden konnte. Eine Buchhalterstelle an einer Bank in der fernen Stadt Stuttgart hatte Herr Lindt angenommen. Eine Wohnung von fünf Zimmern war ihm von einem Bekannten besorgt worden, und mit einem einzigen Dienstmädchen sollten die Damen nun fortan hausen. Wie das gehen sollte, ging Kathi Tag und Nacht im Kopfe herum, und sie wurde erst ein klein bißchen ruhiger, als ihr der Gedanke kam, sie könnte sich ja auch nach Stuttgart verdingen. Eine gänzliche Trennung wäre ihr entsetzlich gewesen, abgesehen von ihrer geliebten Fräulein Anni schon auch wegen der kleinen Maria, die in letzter Zeit, nachdem die Kinderfrau auch fortgegangen war, sich ganz unter ihrer Obhut befand.

»Ach, wer wird unser herziges Kleines künftig baden und seine weißen Kleidchen waschen und bügeln, und wer wird Fräulein Anni die Haare waschen und kämmen?« machte Kathi ihrem Kummer Luft.

»Gebadet wird's halt nimmer werden,« tröstete Male gutmütig. »Ist auch nicht mehr nötig, wenn ein Kind über vier Wochen alt ist. Wenn die weißen Kleider, deren Gewasche kein Ende nahm, aufhören, ist's auch kein Unglück. Und das mit der Kopfwascherei hab' ich nie verstanden. Auf meinen Kopf ist sein Lebtag kein Tröpfchen Wasser gekommen, und die Haare, mit Schmalz gefettet, glänzen doch am allerschönsten.«

Friedrich und Kathi fanden diese Bemerkung keiner Antwort wert. Ersterer sagte: »Mir ist's um den jungen Herrn. Was war das für ein Umtrieb in Haus und Stall, wenn er in Urlaub kam! Und wo soll er denn jetzt reiten, wo der Stall geleert ist?« Friedrich mühte sich umsonst mit seinen nicht mehr jungen Zähnen an Males zähem Rindfleisch. »Und wie soll Fräulein Eva, die gewöhnt ist, in allem bedient zu werden, nun selber Dienste leisten? Ist's denn wirklich wahr, Kathi, daß sie durchaus nicht daheim bleiben, sondern Gesellschafterin werden will?« Friedrich konnte wirklich den harten Fleischbrocken nicht schlucken, legte ihn weg und griff nach einer Kartoffel. Etwas anderes hatte es nach der Suppe schon lange nicht mehr gegeben.

»Ach ja, ach ja!« seufzte Kathi und stand auf; es war ja noch so viel zu tun. Gottlob, daß man sie wenigstens noch über den Umzug behielt! Die gnädige Frau hatte doch so sehr Pflege nötig. Und wenn dann dort alles eingerichtet und im Gange war, dann sollten die Herrschaften es einmal mit ihrer jüngeren Schwester, der Rosa, versuchen. Fleißig war die und brav auch, und einfache Speisen konnte sie kochen. Besser als eine ganz Fremde war's ja so, das meinte auch die Frau Gräfin, die in all der Zeit riet und beistand, während die vielen andern, die im Hause so viel Gutes genossen hatten, sich nicht mehr sehen ließen.

Oben angekommen, sah Kathi rasch nach Mariechen, das eifrig in dem herumliegenden Packstroh für ihre Lieblingspuppe ein Nest gemacht hatte und sich herrlich dabei unterhielt. Daneben packte Anni unter der Leitung von Gräfin Waldernberg ihre letzten Sachen in einen Koffer, und dazwischen wurde noch manch kurzes, gutes Wort gesprochen: »Also die Kisten sind beziffert, damit du sie in der richtigen Reihenfolge ausräumen kannst! ... Das sonnigste, beste Zimmer gibst du der Mama, selbstverständlich ... Vergiß nicht, ihr die Blumenstöcke und die Palmen, die hoffentlich gut ankommen, so hinzustellen, daß sie vom Bett und dem Liegesofa aus darauf sehen kann! ... Ins Wohnzimmer stellst du ans Fenster deinen Arbeitstisch und in die Ecke Vaters Schreibtisch. In einer andern mach's ihm behaglich mit seinem Lehnstuhl und einem Rauchtischchen. Am großen Tisch kann Maria spielen und bald lernen. Lüfte immer gehörig nach dem Essen! ... In Vaters Schlafzimmer stelle den Diwan, damit Heinz dort ein Unterkommen findet, wenn er in Urlaub ist. Auch dort sorge stets für frische Luft. Wenn's nötig ist, machst du die Türe ins Wohnzimmer auf, damit es Vater nicht kalt hat. Mariechens Bett und das deinige sowie den Waschtisch umgib mit der spanischen Wand, dann sieht man nicht, daß der Raum zugleich Ankleideraum und Rumpelkammer ist. Aber Anni, nicht nur vorne, sondern auch hinten immer Ordnung halten! ... Die Küche ist klein, da hat das Mädchen nicht so viel Arbeit. Anfangs mußt du ihr helfen, wenn sie aber heimisch ist, laß sie allein arbeiten; es macht sie glücklicher, und du darfst dein Lernen nicht versäumen. – Für deine Mutter tu, was du kannst, Anni! Sie ist die Ärmste von euch, denn sie vermag nicht zu arbeiten ... Daß du Vater erheiterst, soviel du kannst, das weißt du selber.«

Anni legte zuletzt ihre Bücher in eine kleine Kiste. Sie seufzte tief auf: »Warum ich aber selbst nicht heiter bin? Tante, o du weißt, daß ich sehr oft es nicht bin, besonders wenn du mich nicht mehr ermutigst.«

»Wer von uns kann jetzt noch heiter sein!« sagte Eva, die gerade eingetreten war, mit hartem Ton. Sie lief ruhelos von Raum zu Raum, ließ Kathi schalten und war sich nur des Einen bewußt: »Alles ist vorüber, alles ist aus!«

Die Arme blieb einen Augenblick da, legte ihre Stirn an die Scheibe und blickte trostlos in den in herrlichster Sommerblüte prangenden Garten hinunter. Voll Mitleid sah die Gräfin auf das schöne, ihrer glänzenden Zukunft beraubte Mädchen. »Gott kann Frieden schenken auch im größten Leid, liebe Eva,« sagte sie innig, »Frieden und Freude, aber nur, wenn wir lernen, uns selbst hintanzusetzen!« Und indem sie den Arm um die nun heftig Schluchzende legte, erzählte sie ihr mit leiser Stimme, wie auch sie einst als junge Witwe geglaubt habe, daß es nie mehr hell werden könne, daß beinahe jeder Mensch solche Prüfungszeiten durchzumachen habe, und daß arm sein noch nicht das allerschwerste sei.

»Aber Armgewordensein!«

Eva stieß dies mit rauher Stimme hervor. Aber dann wurde sie doch etwas ruhiger, und als die Koffer geschlossen und verschnürt waren, hörte sie auch etwas weniger bitter zu, wie die Gräfin ihr noch einige Verhaltungsratschläge gab für ihre künftige Stellung als Gesellschafterin bei den Töchtern einer den Waldernbergs bekannten Familie von Schlippen, wohin Eva morgen früh unmittelbar reisen sollte.


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