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Zehntes Kapitel

Akten! Akten! – Warum Frau Berger ein Loch falsch zuflickt. – Von lieben Gästen, einem blonden Mädchenkopf und einem glücklichen Tag.

Die Kleine plauderte den ganzen Abend und erzählte dem Vater glückselig von da droben, und wie sie wirklich Käfer und Schmetterlinge und »beinahe« ein Eichhorn gesehen, und wie es nach »lauter Christtag« gerochen habe, so daß Vater ganz unruhig in seinem Innern wurde. Seit er hier war, hatte er sich noch keinen Spaziergang erlaubt, und auch an den Sonntagen saß er zu Annis Jammer zu Hause hinter Akten und Büchern. Er müsse sich in das neue Geschäft hineinarbeiten, behauptete er.

»Vielleicht gehe ich doch einmal mit euch!« sagte er zu seinen Kindern und drückte die Nase tief in den Veilchenstrauß, den Mariechen neben sein Glas gestellt hatte.

Unten aber in der Bergerschen Wohnstube war auch lebhaftes Erzählen, und Lydia und Martha versicherten den Eltern und dem großen Bruder, den sie schwärmerisch liebten, es sei »einfach fein« heute gewesen, und »so brav wie die Fräulein Anni gebe es niemand mehr auf der ganzen Welt«.

»Auch mich nicht?« fragte der Bruder scherzend.

Da kamen die zwei ein bißchen in Not. Aber dann rückten sie beide mit ihren Stühlen so nahe als möglich zu ihm hin. Und indem sie seine Arme umfaßten und ihre Köpfe, einen blonden und einen braunen, ganz fest an ihn schmiegten, sagte Lydia: »Du bist auch arg lieb!« und Martha fügte hinzu: »Auch am bravsten, nur wieder ein bißchen anders.«

»Das ist recht tröstlich, daß ich nicht bin wie ein junges Mädchen,« neckte Wilhelm.

Die Töchterlein waren zu Bett gegangen, nachdem die Mutter versprochen hatte, sie wolle mit Fräulein Anni reden, ob ein solcher Spaziergang wie heute nicht bald wieder einmal stattfinden könne. Zurückgekehrt, fand Frau Berger Vater und Sohn, die behaglich auf dem alten Ledersofa beisammensaßen und rauchten, in lebhaftem Gespräch über die Familie oben.

»Es muß schrecklich sein, sich einzuschränken, wenn man alles so großartig gewöhnt war,« sagte die Mutter und setzte sich mit ihrer Flickarbeit dazu.

Der Sohn, der sich die Laufbahn als Architekt erwählt hatte und bei einem Professor, der viele Häuser baute, ausgebildet wurde, sagte: »Ich traf heute zufällig jemand, der aus H. kam und von den Lindts sprach, einen Baumeister, der auf dem einstigen Lindtschen Anwesen arbeitete. Er meinte, die Frau sei an allem schuld, sie und die Töchter hätten einen unerhörten Aufwand getrieben.«

»Das mag ja sein,« sagte Frau Berger und hielt eine schadhafte Stelle gegen das Licht. »Hab' mir die Arme heute so recht daraufhin angesehen und kann mir vorstellen, wie dieses feine, ausländische Geschöpf in all den Reichtum hineingepaßt haben mag. Wer kann da urteilen, wie groß die Schuld war, auch von ihm, daß er nicht fester aufgetreten? Ein Ehrenmann soll er trotz allem geblieben sein. Wie die älteste Tochter ist, weiß ich nicht, aber so was Rührendes wie die Anni, – da sag ich wie meine beiden Kleinen – so was gibt's nicht leicht wieder. So jung und schon Hausmutter sein! Natürlich geht da nicht alles regelrecht. Damit tröst' ich immer die Rosa, wenn sie klagen will. Eingeteilt und gespart wird nicht immer richtig, und ich hab' mir schon erlaubt, da und dort eine Bemerkung zu machen. ›Fräulein Anni,‹ hab' ich gesagt, ›Sie sind noch so jung und ich viel älter. Da darf ich vielleicht mit einem guten Rat kommen,‹ und jedesmal hat sie ihn gleich befolgt.«

Mit Genugtuung klopfte Frau Berger die frisch gemachte Naht mit ihrem Fingerhut auf dem harten Tisch glatt.

»Wie ist denn der Sohn?« fragte Wilhelm. Der junge Mensch, dem er schon manchmal im Hause begegnet war, gefiel ihm nicht so recht.

»Ich weiß nicht,« sagte Frau Berger. »Sprechen tut der ja mit niemandem, kaum daß er flüchtig grüßt. Die Anni sorgt sich um ihn. Er tue so schwer im neuen Beruf, wäre alles andere lieber als Kaufmann, als der er aber doch am raschesten etwas verdient.«

»Der junge Herr wird vielleicht überhaupt nicht arbeiten mögen,« meinte Wilhelm und holte jetzt aus einem Schrank Pläne und Malgeräte, die er sich auf dem Tisch zurechtlegte. Er arbeitete des Abends gern noch ein bißchen für sich.

»Zeichnen soll er am liebsten,« spann Frau Berger das Gespräch fort. »Auf jedes Blatt Papier, sagt Fräulein Anni, mache er geschwind einen Kopf oder eine Landschaft. Aber das ist eben meist eine brotlose Kunst!«

»Nicht immer!« Wilhelm sagte es zerstreut. Er rieb seine Tusche ein und zog dann mit der feinen, kleinen Feder auf dem großen, weißen Karton, der vor ihm lag, sichere, reine Striche, die den Durchschnitt eines Hauses ergaben. Einen Augenblick war's still im Zimmer, das Kätzlein am Ofen schnurrte, und Herr Berger machte ein kleines Vorschläfchen, die andern hingen wohl ihren Gedanken nach.

»Ein schöner, feiner junger Mensch ist's, blaß und mit großen, dunkeln Augen, gerade wie man sich einen Künstler denkt,« fing die Hausfrau nochmals an. Die Familie oben interessierte sie sehr, und sie hatte darüber zwei Teile, die gewendet werden sollten, falsch zusammengesetzt, so daß sie sie wieder trennen mußte.

»Mein Mütterchen sieht doch alles ideal an, und dabei steckt sie mitten in der Prosa und im Arbeitsleben!« Der Sohn hielt etwas inne, nahm die Schreibfeder zwischen die Lippen und streckte ihr die rechte Hand hin. »'s gibt doch, glaub' ich, keinen Menschen, dem du nicht mit Wohlwollen entgegenkommst, wenn's auch nur so ein unreifer Bursche ist wie dieser junge Lindt, von dem mir heute aber der Baumeister sagte, man werde ihn wohl nicht im Geschäft behalten können, er sei zu ungeschickt und unzuverlässig.« Wilhelm hatte die Feder wieder ergriffen, beugte sich von neuem über seine Arbeit und maß und berechnete.

Frau Berger aber ließ erschreckt ihre Arbeit sinken und sagte: »Das wäre ja zu arg für die armen Leute! Was soll denn dann aus ihm werden?«

Wilhelm zuckte die Achseln, denn er konnte gerade nicht sprechen, und so furchtbar interessierte ihn die Sache auch nicht. Neben ihm aber reihte sich Stich an Stich, und bei jedem wurde von einem treuen Mutterherzen erwogen, wie sie einer andern Mutter wohl helfen könnte, daß nicht neues Leid über sie käme. –

Der April verdarb wieder, was der März Schönes hervorgezaubert hatte. Kalte Stürme, Regen- und Schneeschauer wechselten mit Frost ab, und die weit offenen Fenster in Frau Lindts Zimmer mußten wieder geschlossen und zugehalten werden. Die Kranke fror mehr als im Winter. Sie fühlte sich überhaupt noch weniger gut als sonst. Der im ganzen teilnahmslose Zustand war einer beständig nervösen Unruhe gewichen, unter der besonders Anni schwer litt.

Es war, als ob die Erinnerung wieder viel lebhafter würde, die nach der großen Nervenerschütterung damals fast erloschen schien. Und damit kamen Vergleiche, mehr Ansprüche und große Jammerausbrüche.

»Gebt mir doch mehr Raum und mehr Grün! Diese greuliche Tapete kann ich nicht mehr ertragen! ... Laßt mich doch nicht immer liegen, – ich will bei euch sein! ... Nein, ihr seid so laut, – bringt mich wieder zu Bett! ... Gibt es denn noch immer keine Spargel und Artischocken? ... Ach, diese ewigen Orangen, – wie ich mich nach einer Ananas sehne! ... Boba, zieh doch den Vorhang zu, – diese greulichen Dächer blenden mich! ... Ihr laßt mir doch auch nie die Sonne herein, und ich sehne mich so nach ihr! ... Kind, wenn du durchaus im Zimmer nicht ruhig sein kannst, so geh doch in ein anderes, zur Kinderfrau oder in den Garten!« ...

Dann plötzlich fiel ihr ein, daß es das alles nicht mehr gab, und sie weinte und schluchzte herzbrechend, verweigerte alles Essen, sagte, sie sei eine Last für die Ihrigen und möchte am liebsten sterben.

Anni wußte oft nicht mehr, was sie tun sollte, um so mehr, da Mariechen wirklich oft recht wild und unbändig war und Vater, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam, Mutters Zustand kaum ertrug. Da war's ein wahrer Segen, daß Frau Berger ein- für allemal gesagt hatte: »Wenn Sie mit der Kranken nicht zurechtkommen, so holen Sie mich ruhig, Fräulein Anni. Im Laden und in der Küche hab' ich zuverlässige Leute, da rutscht alles von selber, – da kann ich schon ein bißchen abkommen!« Und was Anni mit den Ihrigen sehr selten erreichte, das brachte die Fremde fast immer zustande. Die Kranke hörte auf vernünftigen Zuspruch, folgte und kam dann zur Ruhe.

Anni war so dankbar für diese Hilfe wie auch dafür, daß Mariechen bei Bergers unten in der schönen Stube üben und bei dem Lehrer der beiden Mädchen auch Stunde haben konnte. Die Kleine war musikalisch. Vater brachte ihr dies Opfer. Lindts besaßen kein Klavier mehr. Da hatte Frau Berger es so hingestellt, daß ihre beiden musikalisch nicht sehr begabten Mädchen durch den Eifer der Kleinen nur gewinnen könnten. Aber um noch etwas hatte sie gebeten. Martha und Lydia lernten wohl in der Schule Französisch und Englisch, aber von Sprechen hatten sie keine Ahnung. Nun ging Anni jeden Samstag und Mittwoch nachmittag, auch bei nicht gutem Wetter, mit den drei Kleinen in die Luft, und dabei durfte nie Deutsch gesprochen werden. Frau Berger selber hätte so gern in ihrer Jugend mehr gelernt, und sie freute sich deshalb so herzlich über die bessere Bildung, die sie ihren Kindern geben konnte. Und wie beglückte es Anni, auch etwas geben zu können, und kein Universitätsprofessor war wohl stolzer auf seine Erfolge als sie, als die erste französische Unterhaltung wirklich in Gang kam.

 

Brief von Gräfin Waldernberg an Anni Lindt.

Mein liebes Kind!

Heute nur wenige Worte, die, wie ich hoffe, Dich nicht erschrecken werden. Magst Du mich kommenden Sonntag bei Deiner Einsegnung haben? Und Ruth und Friedrich dazu? Sage aufrichtig, ob das sein kann, und ob wir nachmittags einen Kaffee bei Euch finden. Wir begleiten Friedrich nach Heidelberg, wo er jetzt studieren soll, wollen von Samstag bis Montag früh in Stuttgart sein, besonders um Dich, Du Liebes, zu sehen. Selbstverständlich wohnen wir im Gasthof. Ich komme mit Ruth noch Samstag um sechs Uhr geschwind zu Dir, – ich denke, das wird Dich nicht zerstreuen. In der Kirche werden wir an der heiligen Handlung teilnehmen und dann, wenn's Dir und den Deinen recht ist, den Nachmittag mit Euch verbringen. Ihr erwartet ja, wie Du mir schriebst, keine Gäste, da Deine Schwester leider nicht kommen kann. Ruth kann unser Fortgehen kaum noch erwarten. Wie freuen wir uns, Dein liebes Gesicht wiederzusehen!

Deine treue Pflegetante.

Ob Anni sich freute. Sie wußte gar nicht, was sie vor Glück ansangen sollte, als dieser Brief ankam, und sie mußte ihn sofort der Mutter vorlesen. »Mama, höre, – so freue dich doch mit mir!«

Frau Lindt wollte es tun, aber sie war so müde, und dazu hatte sie von früher her nie ein ganz behagliches Gefühl der Gräfin gegenüber. So sagte sie nur kurz: »Ja, ja, dich wird's beglücken. Aber ich fürchte mich vor der Unruhe!«

Und Unruhe gab es, mehr als man gedacht hatte, beim Herannahen des Festtages, Unruhe mit lauter kleinen Dingen, die bedacht und getan und bezahlt werden mußten, und deren Erledigung Anni oft recht zerstreute, was ihr dann wieder Skrupel machte. Sie nahm es ernst mit dem Versprechen, das sie im Begriff war zu geben, und doch blieb ihr so wenig Zeit zum Nachdenken über sich selber. Dazu kam, daß der Vater durchaus nicht erlauben wollte, daß Anni künftig mit dem Lernen aufhörte, und sie selber hatte jetzt ihre Studien so liebgewonnen, daß sie mit einem freien Herzen sie gern fortgesetzt hätte. Aber daran fehlte es! War sie daheim, so gab's beständig etwas zu tun, und in der Schule quälte sie während des Interessantesten der Gedanke, ob Rosa auch wohl bei Mama die Fenster zumache, ob sie ihr ordentlich Mut zuspreche, wenn das Jammern kam, ob Mariechen auf dem Schulweg auch keinen Schaden nehme, und ob der Kohlenvorrat auch gewiß noch ausreiche. Selbst in den Vorbereitungsstunden verfolgten sie oft solche Gedanken, so daß der Religionslehrer einmal zu dem Klassenlehrer sagte: »Aus dieser Anni Lindt werde ich gar nicht klug. Sie hat so etwas Zerstreutes, als passe sie gar nicht auf. Fragen tut sie nie etwas, ihre Antworten sind auch sehr oft ungenügend. Aber dabei schaut sie einen so ehrlich an, ihr Blick hat so was Tiefes, Verlangendes, und dann wieder bei irgendeinem Ausspruch etwas so Aufleuchtendes wie bei keinem der andern Mädchen.«

Einmal hatte der Geistliche bei Lindts einen Besuch gemacht, wie überall bei den Eltern seiner Konfirmanden, aber es hieß, der Herr sei nicht zu Hause und die Frau krank. Als er aber nachher wie alljährlich einmal bei Frau Berger unten eintrat, da erzählte ihm diese so viel von ihrer geliebten Fräulein Anni und von all dem, was schon auf den jungen Schultern ruhte, daß Anni von da an das innigste Wohlwollen seitens ihrer Lehrer zu spüren bekam. –

Erster Mai. Blühende Bäume und Sträucher überall, Schwalbengezwitscher in den Dachrinnen, Sonnenschein zu allen Fenstern herein auch in den düstersten Höfchen unten, und in jedem Zimmer der Lindtschen Wohnung ein Strauß von Flieder, Narzissen oder Tulpen. Lydia und Martha hatten die gebracht. Zwischen dem Vater und der geliebten mütterlichen Freundin war Anni in der Frühe zur Kirche gegangen, und auf dem Rückweg trug sie im neuen Gesangbuch ihren Denkspruch: »Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat!«

Die Gäste aßen im Gasthof. Rosa hatte nach Vereinbarung nur ein ganz einfaches Mahl gerichtet, aber vor Annis Platz stand ein Primelstöckchen, und daneben lag ein schön genähtes Buchzeichen mit den Worten: »Aus Dankbarkeit«.

Ganz gerührt sagte Anni: »Aber Rosa, warum sagst du mir gerade das? Ich hab' dir doch noch so wenig geben können!«

Diese schüttelte nachdrücklich den Kopf. Sie mußte erst den Kalbsbraten, den sie heute auf eigene Faust mit einem Kränzchen von Petersilie und roten Radieschen geschmückt hatte, auf den Tisch stellen. Dann aber sagte sie mit ihrer etwas rauhen Stimme: »Weil Sie freundlich mit mir sind, und weil ich jetzt gerne da bin, und daran sind Sie schuld.« Draußen war sie, als schäme sie sich des Gesagten. Der Vater aber streckte Anni die Hand hin und drückte sie stillschweigend. Wenn ihn etwas ergriff, war das so seine Art.

Um drei Uhr kamen die Gäste. Hatte der Gräfin und ihren Kindern die Wohnung nebst der fast mangelhaften Einrichtung gestern abend, als sie noch rasch da waren, einen recht düsteren, beengenden Eindruck gemacht, so war das heute alles anders. Die Sonne schien auf den hübsch gedeckten Kaffeetisch, spiegelte sich in den paar alten Silbergeräten, – den einzigen aus früherer Zeit – guckte in lauter fröhliche Gesichter und blieb wie liebkosend auf einem blonden Mädchenkopf mit einfach herumgelegten Zöpfen liegen.

Anni saß natürlich obenan, und es war ihr ganz eigen zumute, heute die Hauptperson zu sein. Für das »Eintunken« und den nachherigen Kuchen hatte Frau Berger gesorgt. »Das müssen Sie mir lassen, Fräulein Anni! Sie beleidigen mich, wenn Sie was dagegen sagen!« hatte sie erklärt, und dann war sie, ehe die Fremden kamen, verschwunden.

Frau Lindt lag heute, in Schals gehüllt, auf dem Liegestuhl. Nach langer Zeit trug sie wieder eines ihrer weißen Gewänder, das die erschreckende Blässe ihres Gesichtes aber noch mehr hervortreten ließ. Am allgemeinen Gespräch konnte und wollte sie nicht teilnehmen. Die »derben Kuchen«, wie sie's nannte, die die andern mit Lust verzehrten, verschmähte sie. Ein bißchen Limonade und Zwieback war alles, was sie nahm, und im übrigen lag sie ruhig und still. Doch die großen, dunkeln Augen gingen von einem zum andern. Es war heute alles zu merkwürdig, um zu jammern ... Boba eingesegnet, – solch eine Einsegnung war doch sonst eine große Sache gewesen ... und das Dummerchen, das aber jetzt vollständig erwachsen war, saß so einfach und schlicht in ihrem schwarzen Kleide da. Doch ihr Gesicht strahlte, es sah fast lieblich aus, wenn sie mit ihrer Gräfin und Vater sprach. Und immer von Zeit zu Zeit kam sie herüber und fragte zärtlich, ob Mama auch nichts brauche, ob sie auch gut liege, und ob sie das laute Sprechen nicht störe.

Heute vergaß Frau Lindt selbst ihre Zigaretten. Mariechen war so hübsch zum Ansehen, endlich einmal wieder weiß, mit bunter Schärpe und offenem Haar, so frisch und so lachend, dabei wacker Kuchen essend. Und Ruth und Fritz Waldernberg scherzten mit ihr und ließen sich erzählen von der Schule hier und den kleinen Mädeln im Haus. Dann redeten alle zusammen. Rosa schenkte Wein ein, für Mama den süßen spanischen, und sie stießen an. Vater sagte etwas von einem guten Kameraden, von treuem Hausmütterchen, rechter Hand und Stütze in der Not, die Gräfin von Pflichttreue und Gotteskind. Alle kamen herüber, mit Mama anzustoßen. Boba weinte, – das sollte sie nicht tun – da mußte Mama ja auch weinen. Aber dann mußte man wieder lachen, weil die Kleine inzwischen rasch ihr zweites Stück Torte und auch das noch, das Heinz liegen gelassen hatte, aufaß.

Was nur Heinz hatte? Nicht nur daß er nichts aß, er sah auch erbärmlich aus. Dabei war ihm in Ruths und Fritzens Gesellschaft auch früher nicht wohl gewesen, und nun vermutete er in jedem freundlichen Wort Mitleid und Herablassung, und dem setzte er ein fast unartiges Wesen entgegen.

Ehe es dunkelte, mußte Anni den Gästen auch noch die andern Räume zeigen, und die Gräfin ließ sich dabei erzählen, wie das Alltagsleben verlief. Da und dort kam ein Rat dazwischen, wie man's noch praktischer machen könne. Rosas Ordnung in der Küche wurde gelobt, und Ruth war voll Bewunderung über das, was ihre Anni leistete. Dann wurde ein Viertelstündchen am Lager der Leidenden verbracht, die nun doch noch mit Klagen herausrückte, und zum Schluß, nach herzlicher Verabschiedung, führte Gräfin Waldernberg auch noch ihren Wunsch aus, die Hausleute von Anni kennenzulernen.

»Wer zu dir freundlich ist, Herzkind, den hab' ich von vornherein in mein Herz eingeschlossen.«

Frau Berger erschrak anfangs etwas über den vornehmen Besuch, und ihr Mann verschwand schnell im Nebenzimmer, um den Hausrock mit seinem Ausgehrock zu vertauschen. Die beiden Mädchen, die für ihre Puppen schneiderten, machten niedliche Knickse und stellten sich nachher verlegen hinter Annis Stuhl. Wilhelm, der junge Architekt, wollte sich, nachdem er vorgestellt worden war, mit einer stummen Verbeugung entfernen, was die Gräfin aber nicht zuließ. »Ich will doch nicht stören, nur die Freunde meiner Anni möchte ich so gerne begrüßen!« Und während die beiden Frauen, auf dem Ledersofa sitzend, sich mit gedämpfter Stimme über ihren beiderseitigen Liebling unterhielten und ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen, ob die Last nicht doch zu groß für Annis Schultern sei, erkundigte sich Herr Berger, wie denn die Frau Mutter den heutigen Tag verbracht, ob dem Mariechen auch das Gebäck geschmeckt habe, und wie der Denkspruch laute.

»Wir waren mit Mutter und Wilhelm in der Kirche und haben Sie gesehen, Fräulein Anni,« sagten Lydia und Martha. Der Genannte lächelte, er freute sich, den »Schwarm« seiner kleinen Schwestern, wie er sich neckend ausdrückte, einmal in der Nähe zu sehen. Zu einem Kennenlernen kam es nicht, da der Besuch sich nun verabschiedete.

»Was ich tun kann und darf, tue ich, darauf können Sie sich verlassen,« versicherte Frau Berger leise noch unter der Tür.

»Das ist eine Frau mit Herz und Verstand. Bin ganz froh, daß du so jemand in deiner Nähe hast!« sagte die Gräfin zu Anni, die noch mit in den Gasthof ging. Und die stille Dämmerstunde, die sie dort mit den lieben alten Freunden verlebte, und die heute besonders weihevoll war, dünkte ihr von allem das Schönste am heutigen Tage zu sein.

»Das eigene Glück finden, indem man beglückt; jeden Tag die Hand des himmlischen Vaters fassen!« das war das Letzte und Wichtigste, worüber gesprochen wurde, und danach wollte Anni trachten.


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