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Sechstes Kapitel

Das Krankenlager in der Giebelstube. – »Liebe Fräulein Eva, wollen wir nicht beten?« – »Es tut mir leid!« – »Ist desinfiziert?« – Das Dummerchen wird unheimlich und kocht mit Ruth Apfelbrei. – Die Ziegenbockkutsche im großen Park und die kleinen Gärtchen. – Eine ernste Frage in der Dunkelheit.

Es war nun die sechste Woche nach Evas Erkrankung, und noch lag sie oben in dem Gastzimmer. Die Krankheit hatte sich immer wieder auf einen andern Teil gezogen, bald auf die Mandeln, dann aufs Herz, und einmal mußte sogar Frau Lindt mitten in der Nacht trotz ihrer Angst vor Ansteckung hinaufgeholt werden, denn es stand schlimm, und der Vater und der Arzt verweilten schon stundenlang am Bette der Schwerkranken. Aber nur kurz hielten es der Mutter Nerven aus. Halb ohnmächtig wurde sie bald wieder weggebracht, und dann war ihr Jammer so groß, daß Berta und Fräulein Cécile den Rest der Nacht vollends bei ihr bleiben, ihr Stärkungsmittel geben und ihr fortwährend versichern mußten, es sei gewiß nicht so schlimm, wie es aussehe. Am nächsten Tage aber war die Gefahr vorüber, und dann besuchte Frau Lindt bald wieder das Theater und kleinere Gesellschaften, nachdem sie nach jener Nacht sich selbst und den ganzen unteren Stock gründlich hatte desinfizieren lassen. Sie tröstete sich: »Die liebe, arme Eva hat nichts davon, wenn ich mich daheim um sie verzehre, und sie ist ja auch so herrlich bei Kathi und der Schwester versorgt.«

Abwechselnd kam immer eine Nacht die Pflegerin, die andere war Kathi da. Recht schmal und blaß war diese geworden, denn sie kam nur für kurze Augenblicke aus der Krankenstube. Aber auf ihrem Gesicht lag trotz allem ein freudiger Glanz, der vorher nicht dagewesen war, wenngleich sie unsagbar viel zu leisten hatte. Eva war zu verzogen, war zu wenig gewöhnt, sich irgendwie selbst zu überwinden und auch an andere zu denken, als daß sie nicht die höchsten Anforderungen in der Pflege gemacht hätte. Und in den ganz schlimmen Tagen, da hätte ja auch bei einem selbstlosen Wesen die Rücksichtnahme aufgehört, und Kathi tat schon aus reinem Mitleid ihr möglichstes. Als aber der Tod drohte, da war eine namenlose Angst um ihre junge Herrin über sie gekommen. Kathi hatte schon zwei ihrer Geschwister sterben sehen. Sie waren auch jung gewesen, und das Scheiden kam ihnen hart an. Aber ihr Leben hatte aus Pflicht und Arbeit bestanden, und im Leiden war ihr Sehnen und Hoffen nach oben gerichtet. Die hatten einen Halt an der starken Gotteshand, die sie erfaßt. Aber hier das arme Fräulein, dem bis jetzt alles anstandslos durchgegangen war, das Schönheit und Reichtum und überhaupt alles hatte, was das Herz begehrte, aber keinen Ausblick ins Himmelslicht, wenn's zum Schlimmsten kam, – was konnte man da tun, wie helfen?

Die Schwester, der Kathi ihre Angst mitteilte, sagte: »Wir dürfen unsere Kranke nicht beunruhigen, aber wir dürfen für sie im stillen beten. Glauben Sie mir, Kathi, in Krankheitszeiten spricht der liebe Gott selber mit seinen Kindern, da ist's am geratensten, wir Menschen schweigen.«

Und Kathi tat beides: äußerlich schwieg sie, aber innerlich flehte sie für ihre junge Herrin, die ihrem Herzen immer teurer wurde, je mehr sie ihr zuliebe tat. Aber gerade damals in der Nacht, als die Unruhe beständig zunahm, als Eva sich im Fieber hin und her warf, keinen Umschlag mehr leiden und keine Arznei mehr nehmen wollte und angstvoll stöhnte: »O Kathi, ich glaube, ich muß sterben!« da brach diese ihr Schweigen und sagte: »Liebe, liebe Fräulein Eva, wollen Sie nicht beten? Gott ist so barmherzig!«

»Tun Sie's!« stöhnte Eva. Und die treue Magd sagte langsam und mit Unterbrechungen all die trostgebenden Sprüche und Lieder, die sie wußte, und unter deren Wirkung die Kranke dann auch wirklich ruhiger wurde.

»Dummerchen kann das alles ... ich nicht,« sagte Eva mit schwacher, halb wehmütiger Stimme, ehe sie ein bißchen einschlummerte.

In den folgenden Tagen nach dem schlimmen Anfall gab es in der Pflege nicht mehr so viel zu tun, und Kathi saß viel stille an dem Krankenbett, ein wenig strickend oder lesend oder auch ohne Beschäftigung, – die Ruhe tat ihr so wohl. Meist lag die Kranke teilnahmslos mit geschlossenen Augen.

Einmal gegen Abend wollte Kathi die Lampe anzünden. Sie schob den grünen Lichtschirm auf die Seite. »Noch nicht, ... dunkel lassen!« sagte Eva. Kathi setzte sich wieder und strickte zum Schein. Sie fühlte, daß die auf der Seite Liegende sie beobachtete. Plötzlich schob sich eine heiße Hand zu ihr hin, und eine Stimme, die fast wie ein Hauch klang, sagte: »Verzeihen Sie mir!«

Kathi war tief bewegt und wehrte ab. »Nicht so, Fräulein Eva, nicht jetzt! Ich danke herzlich. Wir sprechen wohl nicht mehr davon, – oder erst später einmal,« fügte sie bescheiden hinzu.

Eva nickte, und damit war es abgetan. Zu weiteren Worten hatte sie auch gar nicht die Kraft.

Als das Fieber endlich gewichen war, die Rückfälle nicht mehr kamen und Eva nur noch die große Schwäche fühlte, da drang der Arzt darauf, recht viel Luft und Sonne hereinzulassen. Der Frühling hatte sich inzwischen eingestellt, und die Giebelzimmer erwiesen sich als herrlichen Ort für die Genesung. Aber nun zeigte sich, daß Evas Augen sehr angegriffen und äußerst schonungsbedürftig waren. Dazu kam die Ungeduld der Genesenden, so daß Kathi oft jetzt noch schwerere Zeiten hatte als während der eigentlichen Krankheit. Noch immer mußte alles abgesperrt bleiben, nur der Vater kam zweimal des Tages auf kurze Zeit unter die Türe. Die Vorsicht war der kleinen Schwester wegen nötig. Frau Lindt war trostlos, daß es so lange dauerte, und schickte massenhaft Zuckerwerk und Blumen und ganze Berge unterhaltende Bücher hinauf, was sich aber alles als verfrüht erwies. Da waren die kleinen, schlichten Geschichten, die Anni sandte, und die sie von ihrer lieben Tante hatte, eine wahre Wohltat. Für Kathi waren sie nicht zu schwer zum Vorlesen, und Eva regten sie nicht auf.

»Es ist nett, von den einfachen Leuten zu hören,« sagte sie öfters. Anni schickte der Schwester auch sonst fast jeden Tag irgendeinen kleinen Gruß, seit man das durfte. Sie und Ruth wurden darin ganz erfinderisch, und die kleinen Zettelchen mit Schulgeschichten, die auf Seide genähten Buchzeichen, die getrockneten ersten Schneeglöckchen oder ein besonders schöner Apfel vom Waldernbergschen einfachen Nachtisch freuten die Kranke ungemein, ja so, daß sie ordentlich auf diese kleinen Zeichen von der Außenwelt harrte.

Die Gräfin hatte ihr gleich im Anfang der Krankheit einen schön gemalten Spruch geschickt. Der hing über Evas Bett, und in all den Wochen war ihr Blick oft darauf gefallen. Er hieß:

Die Sünde meiden,
Freude bereiten,
Keinen beneiden,
Fleißig arbeiten,
Fürs Recht streiten,
Mit Gott leiden
Bringt ein seliges Scheiden.

Sinnend bewegte sie oft den einen oder den andern Vers in ihrem Herzen, trotzdem alles so ernst klang. Es ging ein Frieden von solchen Worten aus, und es mußte schön sein, danach zu leben. Eva wollte daran denken, wenn sie wieder gesund war.

Endlich, nach fast einem Vierteljahr, wurden die Krankenräume gründlich desinfiziert und freigegeben. Fast mit Angst war Frau Lindt das erstemal die Treppen hinaufgestiegen. Wie würde ihr Lieblingskind aussehen? Und als sie Eva abgemagert, mit tiefen Ringen um die Augen im Lehnstuhl gebettet antraf, da brach sie in Tränen aus und tadelte klagend dies und jenes, was man gewiß vergessen habe zu tun. Dann war das nächste, daß sie den Arzt bestürmte, man solle Eva doch möglichst bald aus diesen »gräßlichen Zimmern« hinunter in die gewohnten Räume bringen. Erst als dies geschehen war, konnte Frau Lindt sich wirklich wieder freuen. Nun durften auch die Kleine und Anni einen Besuch machen. Eva war jetzt wieder fast den ganzen Tag auf, und die Teestunden, welche die Familie zum erstenmal wieder vereinigten, waren beglückend für alle Beteiligten. Jeder hatte zu berichten, was inzwischen geschehen war. Für Eva mußte die herbeigerufene Kathi erzählen. Die Kleine hatte einen kleinen Hund bekommen. Ihre länger gewachsenen Locken waren zu einem Schopf auf dem Wirbel zusammengefaßt. Auch aß sie jetzt mit am Tisch beim Frühstück. Der Vater hatte auf Mamas inständiges Bitten einen Kraftwagen angeschafft, in dem schon die ersten Probefahrten »brillant« ausgefallen waren. Berta mußte auch die neuesten Kleider, die inzwischen gemacht worden waren, herbeiholen und dabei ihren Rat geben für ein hübsches, vornehm wirkendes Genesungskleid für Eva, wenn nun die Bekannten sie besuchen kämen. Auch Heinz erschien über einen Sonntag. Der Urlaub reichte gerade, daß er etliche Stunden da sein konnte, und zum erstenmal lachte Eva wieder herzlich über die Witze, die er machte. Es war doch recht, recht gut, wieder gesund und unter Menschen zu sein!

Aber das größte Ereignis in der Familie war doch, als Anni, aufgefordert zu erzählen, wie es ihr denn seither ergangen sei, auf einmal fließend und nett alles berichtete. Wie sehr hatte sie sich darauf gefreut!

»Du kannst, verlaß dich fest darauf!« hatte die Gräfin ihr beim Fortgehen noch eingeschärft. Und sie konnte in der Tat, wie auch jetzt, so schon längere Zeit vorher in der Schule ohne Anstoß sprechen. Etwas feierlich klang es wohl noch, denn sie mußte langsam reden, um die »Überflüssigen« wegzukriegen, aber es gelang. Heinz hatte sie fast aus der Fassung gebracht, als er laut hinausschrie: »Ja, Anni – ja, Dummerchen, du stotterst ja nicht mehr, sprichst ja wie ein Buch, ganz unheimlich!«

Wäre Anni nicht darauf vorbereitet gewesen, die »Überflüssigen« wären in Haufen gekommen. So hielt sie sich fest an der Tante Rat: »Vor allem Ruhe, größte Ruhe und dann das festeste Selbstvertrauen haben – es geht!« Und es ging.

»Ja Mädel! ... Ja Anni ... ja Bobinha!« scholl es in Jubel und Staunen durcheinander, und nach jedem Satz war ein großes Wundern und eine große Freude. Auch äußerlich hatte sich Anni in Haltung, Gesichtsausdruck und Bewegungen vorteilhaft verändert. Alles war freier, und Frau Lindt nahm immer wieder die Lorgnette vor die Augen, um sich zu überzeugen, ob denn dieses junge Mädchen da vor ihr wirklich ihre Boba sei.

In den nächsten Tagen kamen dann auch Evas Freundinnen mit wunderschönen Sträußen und lauten Beteuerungen, wie furchtbar und gräßlich leid ihnen Eva getan habe. Dann kamen auch deren Mütter, und Frau Lindt brachte alle Besuche nach oben, wohin der Fünf-Uhr-Tee verlegt wurde, und Berta hatte für ein wunderschönes Teekleid gesorgt, weiß, weich und faltenreich, in dem die noch blasse Eva mit den dunklen Augen wirklich sehr hübsch aussah. Das sagten ihr auch fast alle, die kamen. Sie erzählten auch von den Vergnügungen, die Eva diesen Winter versäumt, sprachen von neuen, die bevorstanden, von Korsofahrten, Rennen und auch schon von den Sommerplänen.

Noch etwas still hörte Eva dem allem zu, aber es klang doch recht vertraut. Noch sah sie dabei öfter nach ihrem Spruch hinauf und hielt im Innern das alles zusammen, noch wirkte der Segen des Krankenzimmers nach. Aber langsam, langsam zog doch die Weltlust wieder ins Herz, die Freude am Eiteln und Schimmernden. Und wenige Wochen darauf, als Eva ihre Kräfte wieder hatte, als sie ausfuhr und Einladungen bekam, als der Arzt zu Frau Lindts Wonne einen Aufenthalt im Süden verordnete, da war alles wieder, wie es vorher gewesen, nur daß Eva immerhin in einem andern Ton mit Kathi sprach. Sie fühlte, daß sie das mußte, und sie hatte Kathi auch als Belohnung für die Pflege und als Andenken die unglückselige Nadel aufgedrungen. Aber je gesünder Eva wurde, ein desto unbehaglicheres Gefühl bekam sie der stillen, treuen Jungfer gegenüber. Es gibt ja Menschen, welche Dankbarkeit, die sie ausüben sollen, bedrückt.

Anni war noch immer im Waldernbergschen Hause und durfte bleiben, bis Mutter und Schwester vom Süden zurückkamen.

Die Gräfin hatte auch bald Eva besucht, und dann noch etlichemal, aber der Ton im Lindtschen Hause war ihr ungewohnt und wenig angenehm. Mit Sorgen gedachte sie ihres lieben Pfleglings, und daß sie ihn wieder abgeben müsse. Auch Annis Herz war schwer, obgleich Fräulein Cécile ihr versicherte, sie freue sich, bis sie wieder »ihre Schlafkamerad 'abe und nick mehr so allein auf das Etage sei«, und die kleine Schwester ihr bei den Besuchen daheim nicht von der Seite wich. Es war, wie wenn ein helles, strahlendes Licht wieder aufginge, als die Gräfin sagte: »Magst du noch länger bei uns bleiben, dann frag' ich deine Mama.«

Und unendlich gern hatte es diese erlaubt. Einmal schmeichelte es Frau Lindt ungemein, sagen zu können: »Meine Tochter ist für unbestimmte Zeit bei Gräfin Waldernberg geladen. Dann aber sah sie doch auch ein, welchen inneren Gewinn dieser Aufenthalt für ihr Kind hatte, – warum, das konnte sie freilich nicht recht verstehen; sie tat doch auch alles, was nur möglich war, für die Erziehung ihrer Kinder!

Herr Lindt und die Kleine mit der Wartfrau blieben in dem großen Hause. Das Kind war bei seiner Pflegerin wirklich gut versorgt. Viel waren die beiden nun auch in dem großen, parkähnlichen Garten, wo die Bäume jetzt grünten und die Tulpen, Krokusse und Hyazinthen dufteten. An freien Nachmittagen erlaubte die Gräfin, daß Ruth, Fritz und Anni auch dorthin gingen, worüber die Kleine immer glückselig war. Da wurde geschaukelt, gekegelt oder mit den schneeweißen Geißböcken, die unter des Kutschers Aufsicht in einer Nebenabteilung des Stalles standen, auf den mit schönem gelbem Sand bestreuten Wegen herumgefahren. Selbst Ruth hatte noch Platz in dem reizenden wie eine Muschel gebauten kleinen Wagen. Ein Stallknecht, der den Kindern zur Verfügung stand, kutschierte, oder die Mädchen führten auch die Zügel selber.

Der Park war, obgleich er sich mitten in der Stadt befand, sehr groß. Die Baumgruppen, Wasserwerke, wunderhübschen Sitzgelegenheiten, die Spielplätze, Vogelhäuser mit ausländischen Vögeln, alles das war so schön, wie man sich's nur träumen konnte, und die Waldernbergschen Kinder waren entzückt davon. Anni dagegen, die das immer gehabt hatte, fand den winzig kleinen Hausgarten bei Tante Waldernberg viel, viel netter und behaglicher. Da hatte jedes von ihnen sein eigenes Beet mit Kresse oder Schnittlauch, und um dieses herum Immergrün und Jelängerjelieber. Jetzt blühten die ersten davon sowie einige Veilchen und Primeln. Diese ganz kleinen Sträuße waren doch viel, viel hübscher, gar nicht zu vergleichen mit den prachtvollen großen, die der Gärtner dort jedesmal fix und fertig bereit hielt, wenn die jungen Herrschaften kamen.

»Die langweiligen Dinger, von denen man nicht weiß, wie sie gewachsen sind!« sagte Anni.

Das war überhaupt so reizend im Waldernbergschen Hause, daß nicht alles die Dienstboten taten; es gab dort auch nur die Köchin, ein Stubenmädchen und einen jungen Diener. Dieser war Hugo, der bisherige kleine Hausknecht im Lindtschen Haus, der dort neben Friedrich nicht vorwärts kommen konnte und nun von der Gräfin angelernt wurde.

»Hört nur zu und seid dabei, wenn ich dies tue; man trägt an nichts, was man weiß, schwer!« Anni, die großen Sinn für den Haushalt hatte, sah und hörte mit Interesse zu, wie Hugo angewiesen wurde, in erster Linie alles still und ruhig zu tun, dann, wie er Teppiche und Parkettböden zu behandeln habe, wie sorgfältig abzustauben sei, wie er den Tisch zu decken habe, wie aufzutragen und zu melden sei. Daß dies alles nach gewissen Regeln gehe, hatte Anni sich nie klar gemacht. Etwas ganz Neues war ihr überhaupt hier die Dienstbotenbehandlung; das war ihr von Anfang an aufgefallen. Wie merkwürdig, daß Ruth und Fritz bei jeder Dienstleistung, die sich eigentlich von selbst verstand, »Bitte, seien Sie so gut!« oder »Danke schön!« sagten, ebenso die Gräfin. Des Morgens und Abends kamen die Leute zu einer kurzen Andacht ins Eßzimmer. Wie hatte Anni da gestaunt! Aber bald fand sie richtig, was die Tante ihr darüber sagte: »Wenn wir zusammen Gott um seinen Segen gebeten haben, so fällt jedem seine Arbeit leichter, und es gibt weniger Mißverständnisse.« Gräfin Waldernberg kannte auch genau alle Familienverhältnisse ihrer Dienstboten. Wenn deren Verwandte kamen, wurden sie freundlich empfangen und bewirtet. Wer eines Rats bedürftig war, fand ein offenes Herz und kluge Beurteilung. Dasselbe war der Fall mit den Armen, die ins Haus kamen, mit den Handwerksleuten, mit den Fremden, die an die Tür klopften, – ein herzliches, teilnehmendes Wort bekam auch der Geringste. »Bist du immer so freundlich gegen diese gewöhnlichen Menschen?« hatte Anni am Anfang gefragt, aber da lautete die Antwort sehr ernst: »Sprich nie in einem solchen Tone von Leuten, Anni, die genau das Gleiche sind wie du, nur durch ihr Schicksal anders gestellt und deshalb vielleicht deiner Hilfe bedürftig!«

Die ernste Art, in der dies gesagt wurde, und der Inhalt der Worte blieben in Annis Seele fürs Leben haften.

Ruths Einsegnung verlief in der Stille, ohne große Festlichkeit. Aber in den Wochen vorher gab's so manche gute Stunde in Tantes Ecke im Zimmer oder draußen in der blühenden Fliederlaube. Da wurde mit den jungen Menschenkindern nicht nur von dem Schönen oder Ernsten, was dieses Erdenleben bringen kann, gesprochen, sondern auch, wie das Schöne zu genießen, das Schwere zu tragen, und wie dadurch der Weg zum Himmelsland zu finden sei. Anni erinnerte sich wieder der Stunden von Fräulein Gotthelf, aber hier war alles so viel frischer, freier und wohltuender und darum auch noch viel eindringlicher.

In der Woche einmal aß Anni bei den Ihrigen. Vater hatte dann Briefe aus dem Süden mit Berichten von lauter Festlichkeiten, Schiff- und Autofahrten, Blumenkorso und anderen Vergnügungen vorzulesen. Von Evas Gesundheit wurde nie gesprochen, also mußte sie wohl ihre Kräfte wiedergefunden haben. Ihre Heimkehr stand jetzt nahe bevor. Warum nur war Vater jetzt noch so viel ernster als sonst? Darüber machte sich Anni oft Gedanken. Die Kleine mochte so reizend sein und ihre kleinen Geschichten erzählen, es kam kaum ein Lächeln über Herrn Lindts Gesicht, und dieses war dann so wehmütig, daß Anni sich einmal ein Herz faßte und fragte: »Vater, nicht wahr, dir ist doch ganz wohl?«

Da war er so eigentümlich zusammengefahren und hatte gesagt: »Ganz wohl! Warum denn nicht? – Wie kommst du darauf?«

Aber dann, als er Annis trauriges Gesicht sah, sagte er rasch: »Erzähl' mir etwas von dort, Annerl, ich hör's gerne!« Stillschweigend aß er weiter, während Anni ihm von den neuen Eindrücken und dem Walten der Tante berichtete. »Denk', Vater, jetzt dürfen wir auch manchmal etwas kochen. Griessuppe und Apfelmus haben wir schon gemacht, und Fritz tut auch mit. Er schält Kartoffeln und macht den Salat an. Die Tante sagt, ein jeder künftige Soldat müsse ein bißchen kochen können und wir Mädchen erst recht.«

»Ich möchte auch so gerne in die Küche, aber Frau Johanna leidet es nicht,« schmollte die Kleine. Der Vater fuhr aus seinem Sinnen auf, als wollte er eine Bemerkung machen, die er aber doch wieder unterdrückte. Dann, indem er noch rasch die türkische Mundschale benützte und sich mit dem Mundtuch den Bart wischte, sagte er im Aufstehen: »'s ist ein großer Segen, Anni, daß du bei dieser Frau eine Zeitlang sein darfst. Merk' dir fein alles! Was die sagt, ist gescheit und gut.«

Der Vater wartete seit kurzem gar nicht mehr den Kaffee ab, zündete sich auch keine Zigarre an, sondern ging sofort wieder in sein Geschäft, während seine Herren dort sich doch alle Ruhe bis um drei Uhr gönnten. Anni hatte das Gefühl, als müßte sie sich um den Vater sorgen, und vertraute sich der Gräfin an.

Diese machte einen Augenblick ein betroffenes, sehr ernstes Gesicht, dann aber schloß sie das Mädchen in ihre Arme und sagte weich: »Ja, Anni, es wird wohl so sein, daß dein Vater Schweres auf sich liegen hat. Geschäftsleute reden darüber nicht. Aber wenn du wieder daheim bist, zeig' ihm mehr denn je, daß du ihn liebhast, und laß ihn merken, daß sein kleines Mädel nicht mehr so ganz das Dummerchen von früher ist, sondern ein bißchen weiß, was mit dem Leben anzufangen ist!«

»Was mit dem Leben anzufangen ist!«

Lange mußte Anni über diese Worte nachdenken, noch im Bett und vor dem Einschlafen. Ob wohl Mama und Eva sich auch über so etwas Gedanken machten? Anni seufzte.

»Tante,« sagte sie ganz leise, denn sie wußte nicht, ob diese schon schlief.

»Was, Herzenskind?« kam's zurück.

»Muß ein jeder, auch wer reich ist und alles hat, sich fragen, was mit dem Leben anzufangen ist?«

»Ja,« war die Antwort, »jeder! Denn wenn er's nicht von selbst tut, so zwingt ihn gewöhnlich das Schicksal dazu.«

Eine Weile war's still. Dann sagte Anni verlegen, – in kurzen Absätzen: »Sein Leben richtig erfassen, heißt das, jeden Tag tun, was der liebe Gott einem hinlegt, und ... und dabei nicht an sich selbst denken?«

»Ja, das ist's, Liebling, und ich möchte, daß du das festhältst für immer, – dann kann kommen, was will!«


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