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Fünftes Kapitel

Wie Cilli behauptet, daß Fräulein Eva eine bittere Zunge habe, und Friedrich das nicht glauben will. – Von einer goldenen Nadel, und warum Kathi packt. – Der Koffer bleibt da, und es werden kalte Umschläge gemacht. – »Dummerchen, du hast Glück!« – Wie Fritz sich das Leben beschaut und Anni das Stottern verlernt. – »Herr, erbarme dich dieses Schäfleins!«

Diesen Winter folgte Gesellschaft auf Gesellschaft, Ball auf Ball, und Kathi hatte beständig neue Kleider herzurichten, beim Ankleiden zu helfen und wieder aufzuräumen. Sie war nun nicht mehr die ungeschickte Anfängerin von einst. Flink und gewandt bediente sie ihre junge Dame, und wo sie konnte, suchte sie sich noch immer zu vervollkommnen und zu lernen. Sie wußte, welcher Schmuck und welche Blumen zu jedem Anzuge gehörten, sie steckte mit Geschmack die Haare auf, und auch ihre jugendliche Vergeßlichkeit hatte sie ziemlich überwunden. Ausgehalten hatte sie, so schwer es oft gewesen. Aber einmal lag es nicht in ihrer Art zu wechseln, und dann war ja doch auch so manches im Hause, an das man anhänglich sein durfte, besonders an das liebe Fräulein Anni, darüber war eine Stimme auch im Gesindezimmer, dann an die herzige kleine Maria und an den gnädigen Herrn, der allerdings recht wenig mit einem sprach, jedoch so hohen Lohn zahlte.

Aber auch an die gnädige Frau gewöhnte man sich, die eben von »da hinten unten war«, wie einst Lisette gesagt hatte, und nahm sie, wie sie war. So was Überzartes, Müdes und doch Bewegliches, mit Kopfweh und Nerven Behaftetes und vor allem so namenlos Verwöhntes konnte ja selber unmöglich glücklich sein, – da dauerte die Dame einen. Und wirklich unfreundlich war sie eigentlich nie, das konnte keiner sagen, nur fehlte jegliche Schätzung der Arbeit.

Das war leider auch bei Fräulein Eva der Fall, und von jemand so Jungem ungerecht behandelt zu werden, das war schwer zu ertragen.

»Kein Herz hat s', Kathi, da mögen S' sagen was S' wollen!« behauptete Cilli, die noch immer der Küche vorstand, und der Eva heute zweimal die gerösteten Brotschnitten zum Tee als »einfach ungenießbar« wieder in die Küche geschickt hatte. »Kein Herz hat s', sonst könnt s' net mir, die bei einem Erzherzog gelernt und seit zwanzig Jahren bei vornehmen Herrschaften gedient hat, das antun, daß sie vor fremden Leuten behaupt't, i mach' mei Sach net recht! Im Gegenteil, ganz b'sonders rösch und delikat san s' heut g'wesen, meine Schnitten, und nur die Fräulein Eva ist's, die a bittere Zung'n hab'n wird von weg'n all ihre Visit'n, die s' durchmacht!«

»Eine bittre Zung' mag sie vielleicht nicht haben, aber eine böse,« sagte Friedrich, der eben das Silber putzte. »Ich sag' nicht gern was gegen die Herrschaft, das wißt ihr, aber wenn man so einem alten Mann wie mir, der treu und redlich dient, vor der Nase alles abschließt und man hören muß, daß sie zu einem Besuch sagt: ›Den Dienstboten ist in nichts zu trauen,‹ das tut weh.«

»Ich glaube, daß das gnädige Fräulein über so etwas gar nicht nachdenkt,« begütigte Kathi. Daß es ihr selber jedesmal einen Stich ins Herz gab, wenn ihre junge Dame bei jedem Ausgang abschloß, was abzuschließen war, das sagte sie nicht.

Male aber meinte: »Ich weiß ein Mädel, das brav war. Als man aber alles vor ihr verschloß, da dachte es: ›Hält man mich doch für unehrlich, so werd' ich's auch,‹ und es hat's Stehlen angefangen! Unsereins ehrt's halt auch, wenn man einem Zutrauen zeigt.«

Ach ja, das ehrte und das hob einen! Kathi dachte es seufzend, als sie die Treppe hinaufging. Wie manchmal hatte das gnädige Fräulein schon etwas verlegt, und dann, wenn es sich nicht sofort fand, lag ein Mißtrauen in ihren Fragen, das tief schmerzte. Heute gerade wurde ein kleines Schmuckstück vermißt, von dem Kathi ganz sicher wußte, daß sie es nach dem Gebrauch an seinen Platz gelegt hatte.

»Haben Sie meine Nadel gefunden?« fragte Eva, die am Schreibtisch saß, nicht eben freundlich.

»Nein, gnädig Fräulein, ich habe alles ausgesucht, aber sie ist nirgends,« antwortete Kathi auch beunruhigt.

»Das wäre doch!« rief Eva und drehte sich mit einem Ruck auf dem Stuhle herum. »Gleich suchen Sie noch einmal, bis Sie finden! Hätten Sie ordentlich aufgeräumt, so müßte sie ja da sein!«

»Entschuldigen, gnädig Fräulein, aber ich weiß, daß ich das Schmuckstück in sein Behältnis gelegt habe,« sagte Kathi bescheiden. »Wäre es nicht möglich, daß gnädig Fräulein selber es nochmals angesteckt und dann am Ende verloren hätte?«

Eva sprang zornig auf. »Natürlich, ich soll die Schuld haben! Und wenn ich je den Schmuck allein gewechselt hätte, so wär's gewesen, weil Sie nicht zum Helfen da waren und wieder einmal bei den Kindern drüben steckten. Aber ich hab' ihn nicht gewechselt, das weiß ich sicher!«

Kathi schluckte. Sie war solche Art gewöhnt.

»'s wär' jammerschade um das schöne Stück mit den hübschen blauen Steinen,« sagte sie dann bedauernd.

Eva war selber an den Schrank getreten und warf suchend und in schlechtester Laune alles durcheinander. Kathi räumte stillschweigend hinterher wieder auf. Nur einmal sagte sie ganz harmlos: »Gerade diese Nadel hat mir immer am allerbesten gefallen!«

Ein rascher, mißtrauischer Blick flog zu dem Mädchen. Eben hatte Eva das letzte Behältnis und den letzten Winkel des Schrankes vergeblich durchsucht, und in ihrer Aufregung rief sie nun, vielleicht ohne die ganze Tragweite ihres Wortes zu bedenken: »Dieses Stück war allerdings besonders schön, und ich werde in Zukunft die Dinge, die jedermann so gut gefallen, besser zu verwahren suchen.«

Eva kehrte an den Schreibtisch zurück, ihr Zorn war verraucht. Aber Kathi stand noch an derselben Stelle und hielt krampfhaft die Lehne eines Sessels umfaßt, denn es war ihr ordentlich schwarz vor den Augen geworden. Doch sie faßte sich. »Gnädiges Fräulein wissen wohl nicht, was Sie sagen?« Kathis Stimme bebte bei diesen Worten.

»Wieso?«

»Weil ... weil ich mir das nicht gefallen lassen kann!« Zitternd kamen diese Worte heraus. Eva erschrak. So hatte sie's nicht gemeint. Wie empfindlich auch gleich solche Leute sind! Und – man konnte ja doch auch wirklich nicht wissen ...

Kathi stand noch immer aufrecht da, als erwarte sie etwas.

»Seien Sie doch nicht gleich so übelnehmerisch!« sagte Eva etwas unsicher, und da sie sich wieder an den Tisch gesetzt und, um dem Peinlichen zu entgehen, eifrig zu schreiben begonnen hatte, ging Kathi hinaus.

Eine Stunde nachher traf die Kinderfrau das Mädchen, wie es in seiner Kammer oben seine Sachen zusammenpackte. »Was ist denn das, Kathi, Sie werden doch nicht fortgehen wollen?«

Kathi nickte nur traurig. Als aber die Kinderfrau, mit der sie sich immer gut verstanden, ganz entsetzt die Hände aufhob und sagte: »Aber, Liebe, was ist denn geschehen? Was soll denn aus Fräulein Anni und allen werden, wenn Sie fortlaufen?«

Da ließ Kathi den Rock, den sie eben zusammenlegen wollte, fallen, sank auf einen Stuhl und fing an, bitterlich weinend ihr Herz auszuschütten. Als sie alles erzählt hatte, da konnte die Kinderfrau auch nicht mehr viel sagen, als daß es sehr traurig und schlimm sei, wenn man nach vier Jahre langem, treuem Dienst so was zu hören bekomme.

»Nun, ich kann auch nicht mehr zureden zu bleiben, obgleich ich auch jetzt noch glaube, daß Fräulein Eva nicht weiß, was sie Böses gesagt hat.«

Die Wartfrau hatte einigermaßen recht. Eva war's nicht gut zumute, denn sie fühlte doch, daß ihr Zorn sie zu weit fortgerissen und sie kein Recht hatte, der braven Kathi so etwas zu sagen. Aber die Nadel war doch verschwunden! Unmutig warf sie nach kurzer Zeit die Feder wieder hin und fing zum drittenmal an, den Schrank durchzustöbern. Hätte sie sich ein wenig besonnen, so wäre ihr eingefallen, daß sie an dem betreffenden Abend wohl das Schmuckstück abgelegt, nachher aber noch eine Sendung Halsbinden anprobiert und dazu etliche Nadeln ihren Behältnissen entnommen und angesteckt hatte, um die gegenseitige Wirkung zu sehen. Einige der Halsbinden hatte Eva behalten. An der einen aber, die dem Kaufmann zurückgeschickt wurde, war die vermißte Nadel steckengeblieben.

Mitten in Evas unruhevollem Treiben ging die Türe auf, und Frau Lindt trat herein, um sich sofort in einem der kleinen seidenen Lehnstühle niederzulassen. In ihrem stets etwas klagenden Tone, der jetzt aber erregt klang, sagte sie: »Ja aber, mein Gott, Eva, was fällt denn dir ein, die Kathi gehen zu lassen? Soeben war sie bei mir, um zu sagen, daß sie um ihre sofortige Entlassung bitte, die ihr übrigens gesetzlich gar nicht zusteht.«

Eva erschrak sehr, denn Kathi, die alles so gut wußte, zu verlieren, wäre höchst peinlich gewesen. Etwas verworren erzählte sie der Mama den Vorgang, und ihr Trotz regte sich wieder, als diese sagte: »Du hast dich gehen lassen, Eva, aber was sind auch diese deutschen Leute gleich empfindlich! Drüben« – mit diesem Worte meinte Frau Lindt immer ihre einstige Heimat – »drüben bei uns gibt man in solchem Falle, wenn man heftig gewesen, eine Handvoll Geld oder ein buntes Tuch, und es wird einem dafür noch der Rocksaum geküßt. Übrigens, Eva,« – der Ton der Mutter wurde nun doch etwas ernster – »ich wünsche wirklich nicht, daß die Kathi geht. Sie ist brauchbar, sorgt für Boba, und du wirst ihr schon einige gute Worte geben müssen. Es ist so gräßlich mühsam, sich an etwas Neues zu gewöhnen. Im übrigen siehst du heute schlecht aus, – ist dir etwa nicht wohl?«

Eva hätte sagen können, daß sie seit gestern abend sich wirklich unwohl fühle. Sie hatte Hals- und Kopfschmerzen. Aber heute abend war eine Hauptvorstellung im Zirkus, die wollte sie doch nicht versäumen! Deshalb sagte sie leichthin: »Ich habe über nichts zu klagen,« und Frau Lindt begab sich wieder nach unten in ihre Räume.

Währenddessen war in Annis Zimmer große Aufregung und großer Jammer. »Und ich sag' dir, K... K... Kathi, du darfst nicht g... gehen! Das ist a... alles ein M... Mißverständnis, und m... meine Schwester wird dich um V... Verzeihung bitten,« stieß Anni unter Schluchzen hervor.

»Das wird das gnädige Fräulein nie tun,« sagte Kathi bitter und legte Annis Bücher und Kleider zurecht. Es war ja wohl das letzte Mal, daß sie das durfte.

»D... das will ich doch s... sehen, ob sie es nicht t... tut!« rief Anni außer sich und eilte aus dem Zimmer, obgleich Kathi flehentlich bat, sich doch nicht so aufzuregen.

Als Anni nicht eben sanft die Tür bei Eva aufriß, saß diese auf einem Stuhl, und ein ausgewickeltes Paketchen lag auf ihrem Schoß. Es enthielt in einer kleinen Schachtel die vermißte Nadel, und in einem Brief, den Eva eben erhalten hatte, stand der Sachverhalt, und daß die Firma Groß & Comp. sich beeile, die an der nicht gewünschten Halsbinde befindliche Nadel hiermit zurückzuschicken. Anni erfuhr kurz diesen Sachverhalt und sagte, nun etwas ruhiger geworden: »W... wie gut! Nun w... will ich die K... Kathi gleich herüberschicken, d... daß du sie um V... Verzeihung bitten kannst!«

Das Kind eilte erleichtert davon, aber in Eva wogten die widerstreitendsten Gefühle. Um Verzeihung bitten, – ein Dienstmädchen! – nein, das konnte sie doch nicht, das wollte sie nicht. Aber etwas, das fühlte sie, mußte geschehen. Als sie Kathis Schritte hörte, eilte sie schnell an den Schreibtisch, schloß auf und entnahm ihm ein Geldstück. Es klopfte, und nur sehr zögernd trat Kathi ein. »Gnädiges Fräulein befehlen?«

Etwas verlegen sagte Eva: »Ich befehle nichts, aber meine Schwester wird Ihnen gesagt haben, daß die Nadel wieder da ist. Ich habe mich sehr geärgert, und ... da ... machen Sie sich eine Freude,« sagte Eva sichtlich erleichtert, daß nun alles vorbei sei, und schob Kathi das Geldstück zu.

Fühlte aber diese vorher sich schon tief gekränkt, so war sie's jetzt noch viel mehr. Totenblaß schob sie das Gebotene zurück, auch als Eva rasch noch hinzufügte: »Es wäre mir recht, wenn Sie blieben!«

»Nein, gnädiges Fräulein, mit Geld läßt sich so etwas nicht gutmachen, und bleiben, so gerne ich es um der andern willen, weiß Gott, täte, kann ich nun erst recht nicht.«

»Warum?« Eva war sehr erregt.

»Weil ich nicht diene, wo man mir nicht vertraut,« sagte Kathi tief ernst und ging zur Türe hinaus, hinauf auf den Boden, um ihre Kiste und ihren Koffer vollends fertig zu machen. Dann wollte sie unten noch alles zur Nacht richten, und um acht Uhr ging der Zug, der sie gegen Morgen nach Hause brachte. Nach Hause! Die Eltern, ach, die Eltern, was würden die sagen, wenn ihre Älteste so plötzlich eintraf! Erst kürzlich war ein Brief gekommen, daß die Buben so schrecklich viel kosteten, und daß Rosa, die zweite Schwester, krankheitshalber ihre Stelle aufgeben mußte.

Koffer und Kiste waren mit Stricken umschnürt, und Kathi stand unten in der Küche, um weinend Abschied zu nehmen.

»Recht haben S',« sagte eben Cilli, und die andern stimmten mehr oder weniger feinfühlend bei, als vom oberen Stock schrill und mehrmals hintereinander die Klingel ertönte und die Kinderfrau herabrief: »Die Kathi soll doch schnell noch einmal heraufkommen!«

Und Kathi ging – ungern. Aber zur Aufregung aller in der Gesindestube kam sie nicht mehr herab, und die Koffer blieben stehen, ja sie wurden später sogar in Kathis eben verlassene Kammer wieder hinaufgetragen. Eva war von einer Ohnmacht befallen worden, und der Hausarzt, der zufällig gerade im Nebenhause gewesen war, hatte, nachdem die Erkrankte wieder zum Bewußtsein gekommen war, angeordnet, daß man rasch ein Krankenzimmer abseits von den andern richte.

»Man kann nicht wissen,« meinte er, »ob nicht etwas Ansteckendes im Anzuge ist.«

Da wußte nun im Augenblick niemand im Hause Bescheid, und die Kinderfrau sagte: »Ich kenne Kathi, das wird sie uns noch besorgen!«

Und so war's. Kathi dachte nicht mehr an sich, legte rasch Hut und Mantel ab, nahm wieder die schon abgegebenen Schlüssel an sich, ordnete und erwärmte die zwei Gastzimmer oben in dem sonnigen Dachstock, richtete ein bequemes Lager und sorgte mit Umsicht für alles zu einer etwaigen Krankenpflege Nötige. Und als Eva ein paar Stunden nachher wohl eingebettet oben lag, da gab sich's ganz von selber, ohne daß weiter ein Wort gewechselt worden wäre, daß Kathi sich nebenan legte, bereit, das zu tun, was die Nacht erforderte. Morgen, bei Tag zu reisen, war vielleicht auch besser.

Aber es kam nicht zur Abreise, weder an diesem Tag noch an den folgenden. Eva hatte eine heftige Halsentzündung, und dann brach Scharlach aus, und da niemand im Hause diese Krankheit gehabt hatte, so war strengste Absonderung nötig.

Frau Lindt, die sich sehr fürchtete, hatte durch die Türspalte hindurch Kathi gebeten, die »dumme Geschichte« doch zu vergessen und zu bleiben.

Vergessen konnte diese die Kränkung ja nicht, aber jetzt in der Not die Herrschaft im Stiche zu lassen, das wäre ihr unrecht erschienen, und sie blieb. Male, die Putzfrau, vermittelte, was man von unten brauchte, und besorgte die gröbere Arbeit. Sie war alt und fürchtete sich nicht vor Ansteckung. Das, was zur Pflege gehörte, tat Kathi vorerst Tag und Nacht allein.

»So gar arg gut tät' ich's der nicht machen,« meinte Male manchmal, wenn das Mädchen so sorgsam alles tat, was der Arzt wollte. Sie machte Umschläge und kochte Tee. Sie maß die Körperwärme und schrieb sie auf. Sie sah auf die Uhr und gab ein. Sie mischte Kühlendes und wärmte, was gegessen werden sollte.

Anfangs fühlte Eva innerlich noch ein großes Unbehagen und Kathi desgleichen, als sie beide so ganz aufeinander angewiesen waren. Dann, als das Fieber stieg, dachte man nicht mehr daran; Eva war zu krank, und die für sie sorgte, hatte keine Zeit zum Denken.

Herr Lindt, der alle Morgen, ehe er ins Geschäft ging, Kathi auf den Vorplatz herauskommen und sich berichten ließ, wollte durchaus noch eine Pflegerin haben, und jede zweite Nacht kam nun auch eine, aber Eva rief immer nach Kathi; das tat dieser wohl. Als die Nächte sehr unruhig wurden und die Kranke gar oft keine Ruhe fand, da saß Kathi stundenlang an dem Bett und deckte immer wieder zu, denn die Gefahr des Erkältens war groß. Stillschweigend hüllte sie die Füße ein, wenn sie kalt wurden, und legte kühle Umschläge auf den Kopf.

Für Anni war es am Anfang eine schwere Zeit. Fräulein Cécile war so aufgeregt und jammerte beständig über die Ansteckungsgefahr im Hause. Aus eben diesem Grunde durfte Anni nicht in die Schule, und es bedrückte sie, in der Klasse zurückzukommen. Die Mama war jetzt notgedrungen viel zu Hause und Fräulein Cécile deshalb auch viel bei ihr, denn Frau Lindt konnte so schwer allein sein. Da ging Anni oft mit und setzte sich mit einer Arbeit in irgendeine Ecke. Aber entweder sprachen die beiden oder lasen ein Buch, das Anni nicht verstand, oder Mama fing an zu tadeln, daß Bobas Haare wieder schlecht gekämmt, ihre Schleifen ungleich gebunden, ihr Aussehen überhaupt heute so unvorteilhaft sei. Dieses »heute« hätte Mama sich sparen können, denn Anni war nun in einem Alter, wo sie schmerzhaft selber empfand, daß sie gar sehr von den schönen Geschwistern abstach. Sie fühlte, daß die Mama darunter litt, und Anni hatte selber ausgeprägten Schönheitssinn. Noch mehr aber bedrückte sie das Gefühl, dumm zu sein, überall drängte sich das ihr auf: in der Schule, unter Fremden und zu Hause. Das Lernen fiel ihr noch immer schwer, das Sprechen desgleichen, und manchmal, wenn sie auch gerne irgend etwas gesagt hätte, schwieg sie lieber still, denn sie wußte, es kam nie so heraus, wie sie es meinte. Bei einem Menschen fühlte Anni sich merkwürdig frei, das war bei der lieben Gräfin Waldernberg. Die wußte schon, wenn man bei ihr war, die Stühle so zu stellen, daß ein jeder sich behaglich fühlte. Die sah einen schon so freundlich und ermutigend an, wenn sie eine Frage stellte, und die Fragen klangen immer so, als würde die Antwort sie von Herzen interessieren. Anni hatte dort auch nie das Gefühl, daß alles nur ganz knapp und rasch gesagt werden müsse, und darum konnte sie auch nirgends sich so gut und mit wenig Stottern ausdrücken wie dort. Auch Ruth hatte dieselbe ruhige, teilnehmende Art wie ihre Mutter, und Fritzens lustige Jungenspäße gefielen ihr. Sie gaben der sonstigen Eintracht noch mehr Abwechslung und Frische.

Da war es nun für Anni ein glückseliges Ereignis, als eines Morgens die Mama selber zu ihr heraufgestiegen kam mit einem Briefchen in der Hand.

»Boba, du hast Glück! Die Gräfin fragt bei mir an, ob ich dich ihr für den Rest von Evas Krankheit anvertrauen würde. Die Waldernbergs hatten ja schon alle diese unselige Krankheit und fürchten sich deshalb nicht. Sie läßt dich fragen, ob du heute noch übersiedeln wolltest, und wenn ja, solltest du nichts vergessen, was für die Schule nötig sei.«

Frau Lindt las den Brief mit sichtlichem Vergnügen vor, – das Anerbieten schmeichelte ihr. Anni aber, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, jubelte laut auf und wäre am liebsten vor Tisch schon fort, aber die Mama sagte: »Nein, erst gegen Abend. Berta, die ich dir heraufschicken werde, soll erst dein Äußeres in Ordnung bringen. Du siehst ja ganz vernachlässigt aus, seit Kathi nicht für dich sorgt!«

»Ach, die sehen nicht aufs Äußere!« hätte Anni gern gesagt, aber es war richtig, ein vorheriges Ordnen ihrer Sachen konnte nichts schaden. Anni hatte nie selber aufgeräumt, und Fräulein Cécile erst recht nicht. Berta, die vornehme Kammerjungfer der Mama, die Anni immer ein bißchen fürchtete, kam nun und packte zusammen, kritisch und kopfschüttelnd, denn Annis Kleider bestanden nicht vor ihrem Urteil, und sie machte Frau Lindt gegenüber eine Bemerkung, als ob doch ein gewaltiger Unterschied zwischen Fräulein Evas und diesen Anzügen bestände. Anni hörte nur halb die Antwort der Mama, daß es sich vorderhand wirklich lohne, die arme Bobinha zu putzen, vielleicht, daß sie sich später doch noch einmal vorteilhafter entwickle. Ein anderes Mal hätte Anni dieses Wort geschmerzt, heute aber nicht. Es war ja auch im Grunde recht betrübend für die Mama, solch eine kleine, unschöne, unbedeutende Tochter zu haben! – Der Papa kam heute früher vom Geschäft zurück. Die Mama hatte ihm telephoniert, und er wollte Anni noch sehen.

»Was freu' ich mich für dich, Mädel, daß dir was Nettes bevorsteht!«

Er küßte Anni und setzte sich dann einen Augenblick in einen Schaukelstuhl. Die Mama hatte jetzt unten ihre Teestunde, – sie waren allein. Er zog sein Kind an sich, und in der weichen Stimmung, die ihn in letzter Zeit manchmal überkam, sagte er: »Dummerchen,« (von Vaters Lippen klang dieses Wort nie kränkend) »Dummerchen, mach' deine Augen recht auf und lerne von den Menschen, bei denen du sein wirst, – es ist eine gute Art!«

Anni wußte das ja schon längst, aber daß Vater eine Ermahnung gab, war so selten, und dabei sah er so merkwürdig ernst aus, daß Anni ihn zärtlich umschlang.

»Wirst du mich einmal dort besuchen?« fragte sie, aber der Vater schüttelte den Kopf. Er war bei Waldernbergs nicht bekannt.

»Dann besuch' ich dich!« sagte Anni. Sie wußte nicht, warum sie auf einmal das Gefühl hatte, als brauche sie der Vater.

Aber dieser stand rasch auf und sagte: »Unsinn, bin froh, wenn du einmal aus der Ansteckungsgefahr hier heraus und gut aufgehoben bist. Behüt' dich Gott!«

Und gut aufgehoben war Anni für die nächste Zeit und so glücklich, daß sie sich oft Vorwürfe darüber machte, weil Evas Kranksein sich recht in die Länge zog.

Die Gräfin, früh Witwe geworden, war nicht reich. Ihre Wohnung, sehr hübsch und gut gelegen, war nicht sehr groß, und darum hatte sie in ihrem eigenen Schlafzimmer auf einem Sofa für Anni eine Lagerstätte zurechtmachen lassen. In Ruths Zimmer wäre dazu kein Raum gewesen, und das anvertraute Kind allein ins Gastzimmer legen wollte sie nicht.

»Wir zwei werden schon zusammen auskommen, Annichen, nicht wahr?« sagte sie liebevoll, indem sie die spanische Wand, die die Ecke in eine kleine Stube umgestaltete, zurückzog und Anni ihr behagliches Nest zeigte. Zuerst war diese ein bißchen befangen, aber schon in der zweiten Nacht war es ihr bei Tante, wie sie sagen durfte, ganz behaglich. Fräulein Cécile las des Nachts oft noch so lange im Bett, und Anni konnte nicht einschlafen. Hier war es schön dunkel, und Tante Waldernberg plauderte auch ganz gerne noch ein bißchen, wenn Anni dazu Lust hatte. Geplaudert wurde aber auch den Tag über von allem, was die drei Kinder taten, und was sie beschäftigte. Wie lustig waren die Mahlzeiten, wo ein jeder das erzählte, was er erlebt hatte! Und »erleben tut man immer etwas, man muß nur den Sinn dafür haben!« sagte die Gräfin. Fritz wußte immer ganze Geschichten, besonders aus der Straßenbahn, die er benutzen durfte, denn sein Gymnasium lag ziemlich entfernt. Einmal war einer der Schaffner – Fritz kannte sie alle – so »mockig« gewesen, dann aber, auf Fritzens Frage hin, hatte er ihm anvertraut, daß seine Frau allein krank daheim liege. Da konnte die Gräfin ihr eine Wärterin verschaffen. Ein andermal war vom Zirkus ein Mohr – ein leibhaftiger – mitgefahren und hatte die Buben ein paar Worte aus der Mohrensprache gelehrt. Dann waren – Fritz sagte es ganz entrüstet – »Lümmel, viel älter als wir, Mutti, die fürchterlich fein taten, sitzengeblieben, als eine alte Dame hereinkam und keinen Platz fand!« Gestern konnte Fritz einer Näherin, die ins Geschäft mußte und ihr Geld vergessen hatte, mit zwanzig Pfennig aushelfen, und heute hatte er das Glück, draußen auf der Plattform neben einem von ihm und den Kameraden vielbewunderten Offizier zu stehen, und der hatte sich mit ihm, mit Fritz unterhalten.

Des Morgens begleitete die Gräfin die beiden Mädchen selber bis zur Schule; nach Hause ging eine jede für sich, je nachdem die Stunden aus waren. Die Gräfin war nicht ängstlich, wenn Ruth auch manchmal allein ging; sie fand, daß es ganz gut sei, wenn ein junges Mädchen selbständig würde, und Ruth machte, auch wenn die Mutter nicht dabei war, ihrer guten Erziehung Ehre. Ein langes Plaudern mit den Mädchen vor der Schule und an den Straßenecken, ein Herumschauen dabei, ein Stehenbleiben an den Läden und ein Arm-in-Arm-Gehen mit solchen, die denselben Weg hatten, gab es nicht, wohl aber ein fröhliches Reden während des Gehens, ein freundliches Eingehen auf der andern Interesse, ein Besprechen gemeinsamer Bestrebungen und Ideale.

Ruth hatte gegenwärtig dabei manches zu überwinden. Viele Mädchen ihrer Klasse sprachen diesen Winter hauptsächlich von Tanzstunden, die sie mit Brüdern und deren Freunden hatten, oder schwärmten vom Theater und den einzelnen Darstellern dort. Fast alle hatten es schon besucht, und daß die Gräfin fest dabei blieb, ihre Kinder erst nach der Einsegnung dahin zu lassen, das war für Ruth eine schwere Sache.

Anni war ganz erstaunt, davon zu hören. Sie, die von klein auf mit den Geschwistern, der Mutter und den Erzieherinnen in allen Stücken gewesen, hatte Ruth auch manches davon erzählt, und es dünkte ihr ganz merkwürdig, daß die Gräfin Mamas Anerbieten, die Lindtsche Loge doch die Krankheitszeit über zu benutzen, bestimmt dankend abwies.

»Warum denn, T... Tante? Ist das Theater denn nichts G... Gutes? Und es gibt doch auch so viele K... Kinderstücke, in die schon die g... ganz Kleinen gehen,« fragte Anni ordentlich betrübt.

»Gerade deshalb, Anni, weil ein Theaterbesuch etwas sehr Gutes, Herrliches ist, möchte ich nicht, daß ihr euern Geschmack vorher mit minder Gutem, wie diese Kinderstücke meist sind, verderbt, sondern immer die Frische behaltet, euch später so recht zu begeistern und zu genießen. In die Schulzeit paßt das auch noch nicht herein, und die schönsten Stücke muß man überhaupt vorher gelesen haben, ehe man sie sieht.«

»H... Heinz war schon mit vier Jahren in ›Aschenbrödel‹, aber er h... hat nach Hause wollen und h... hat geweint, weil es s... so ganz anders war als im M... Märchenbuch, und er wurde dann sch... schrecklich ausgelacht.« Anni erzählte das mit großem Eifer.

»Aber Mutti, du hast doch schon ›Tell‹ und ›Wallenstein‹ mit uns gelesen! Fritz und ich würden so schrecklich gerne die Aufführung sehen, und jetzt hätten wir in der großen Loge alle so herrlich Platz!« klagte Ruth, aber die Gräfin schüttelte den Kopf. Sie mochte nicht sagen, daß sie nicht gerne die Lindtschen Plätze benütze, und außerdem wurde Ruth ja bald eingesegnet.

»Nächsten Winter verspreche ich euch, daß wir zusammen uns all die Stücke ansehen, die wir bis dahin noch lesen werden,« tröstete sie, und Anni fragte schüchtern: »D... darf ich dann auch d... dabei sein?«

»Gewiß, du Liebes! Bist zwar auch da noch sehr jung, aber wenn's deine Eltern erlauben ... Heute abend übrigens wollen wir einmal ein Schillersches Stück mit verteilten Rollen zusammen lesen.«

Der Gräfin lag Annis Stottern recht am Herzen. Sie wollte so gerne in der Zeit, wo das Kind bei ihr war, versuchen, ob sich dieser Fehler nicht bessern ließe, und besprach sich mit einem Arzte darüber. Der meinte, große Mühe und Geduld habe in solchen Fällen schon viel zustande gebracht. Gerade daran habe es wohl im Hause Lindt gefehlt. Er gab verschiedene gute Ratschläge.

»Annichen, wollen wir jeden Tag ein besonderes Plauderstündchen zusammen haben – aber vor dem Tee – weißt du, so recht gemütlich in meinem Zimmer?« Anni war glücklich über diese Frage am andern Tag. Nur beunruhigte sie ein bißchen der Nachsatz: »Aber weißt du, jemandem, dem verbieten wir da nachdrücklich den Eintritt, – das ist deinem Stottern!«

»W... wenn ich k... kann!« sagte Anni ängstlich.

Und es schien, als könnte sie nicht. Die beiden saßen, an Armenhäubchen strickend, recht behaglich am nächsten Tag beisammen, aber der Stotterer hatte sich halt auch mit hereingedrängt und sich recht breit gemacht, und halb lachte, halb weinte Anni darüber.

»Du,« – der Gräfin fiel plötzlich etwas ein, so daß sie einen Augenblick ihre Arbeit sinken ließ, – »du, Annichen, mir kommt etwas Lustiges! Daß wir den aufdringlichen Kerl auf einmal herauskriegen, glaube ich nicht, aber wir nehmen ihm ganz heimlich ein Stückchen seiner Macht nach dem andern, – willst du?«

»A... aber n... natürlich!« Anni stotterte es erregt.

»So, jetzt haben wir gleich zwei solcher unnützen Bengel, die wir nicht bei uns leiden wollen,« sage die Gräfin eifrig, »das ist das doppelte A und das N. Aber nur ganz langsam und zart, damit sie's nicht merken!«

Und zart und langsam, mit manch erneutem Versuch und Schub gelang's wirklich, die beiden aus den Wörtern »Aber natürlich« hinauszubringen und noch aus verschiedenen andern. Es war so ruhig und still, da brauchte man nicht so zu zappeln, wie wenn andere zuhörten. Anni war von nun an glückselig über diese Stunden und fühlte ordentlich, wie diese dummen Zungennerven nach und nach ordentlich gehorchen lernten. Aber, o Jammer, kaum war Anni wieder draußen bei den Dienstboten oder gar in der Schule, so war das Elend wieder da. Haufenweise stellten all die »hinausgeworfenen Schlingel von Buchstaben« sich wieder vor die Wörter, überpurzelten sich und legten sich in den Weg und machten Anni so ängstlich und verlegen, daß die meisten sie dann für dumm hielten.

»Ich bin's aber auch, Tante, ich bin es ganz gewiß, und ich fürchte mich deshalb vor dem Leben!« klagte an einem Abend Anni ihr Leid. Sie hatte ein bißchen im Bette geschluchzt, weil es ihr an dem Tage besonders schlecht gegangen war, und die Tante, die noch wachte, hatte es gemerkt. Nun, das fühlte diese, mußte einmal im Ernst mit dem Mädchen gesprochen werden.

»Jetzt paß auf, Anni, ich werde dir etwas sagen, was dich nicht eitel machen soll, was du aber endlich wissen und erfahren sollst! Du bist nicht nur nicht dumm, Herzenskind, wie man dir von klein auf weisgemacht, sondern im Gegenteil, du bist ein ganz kluges, viel nachdenkendes und darum gescheites Mädchen, und deshalb – ich verlange das von dir – sollst du auch mehr Selbstvertrauen haben. Du dankst dem lieben Gott täglich für viel Gutes, was er dir gibt, danke ihm in Zukunft auch dafür, daß er dir einen sehr hellen Blick fürs Leben gab, und bitte ihn dabei um mehr Tatkraft und Mut. Das ist's allein, was dir noch fehlt!«

Anni hatte sich erstaunt horchend in ihrem Bett aufgesetzt, und bei den Worten der Tante überkam sie ein unsagbares Glücksgefühl.

»Ich bin nicht d... dumm, – sag' Tante, o sag', ist das wirklich und wahrhaftig so? D... darf ich's glauben?« Anni fragte immer wieder, und ebenso oft wurde ihr versichert, sie dürfe und müsse diesen Glauben an sich in aller Demut und Bescheidenheit haben, und dann werde alles gut.

»Alles, Tante, auch d... d... daheim, wo kein solcher F... Friede ist?« Anni sprach leise und sehr stotternd, – sie hatte noch nie etwas über zu Hause gesagt. Warum sie plötzlich weinen mußte, wußte sie selbst nicht. Die mütterliche Freundin aber lag noch lange, nachdem sich das erregte Kind beruhigt hatte und trotz den Tränen beglückt eingeschlafen war, mit gefalteten Händen in ihrem Bett.

»Herr, erbarme du dich dieses Schäfleins, das so einsam seinen Weg gehen muß! Gib ihm Kraft und Mut für sein Leben, es mag kommen, was da wolle, damit es sich nicht mehr zu fürchten braucht. Amen!«


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