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Drittes Kapitel

Eine Weihnachtsbescherung im Hause Lindt. – Warum die Kleine ihre alte Gummipuppe am liebsten hat und Anni ihre Bücher. – Dummerchen verteilt Selbstgestricktes. – Von einer Tanne mit elektrischem Licht und einem winzigen Bäumlein. – Kathi weint, weil es nach daheim riecht. – »Fräulein Gotthelf, warum gibt es Arme und Reiche?« – Warum Heinz beinahe nicht versetzt wird und Anni sich erklären läßt, was Humor ist.

Frau Juanita Lindt, wie sie sich gern nennen ließ, machte Einkäufe. Es war vor Weihnachten, und wenn ihr dieses Fest auch nicht viel sagte, – in ihrer Heimat wurde mehr Neujahr gefeiert – so war's doch immerhin hübsch, und es machte Abwechslung, einkaufen zu dürfen. Da sie aber stets bald ermüdete, auch nicht recht wußte, was sie andern geben sollte, so nahm sie Fräulein Gotthelf mit, die sich als praktisch erwies und die Liste für die zu Beschenkenden führte. Es war ja recht mühsam, daß man die Bediensteten nicht mit Geld allein abspeisen konnte, – irgendein Stück verlangte ja hierzulande ein jeder, aber dieses eine Stück fiel trotz Fräulein Gotthelfs Rat selten nach Wunsch der Betreffenden aus.

Konnte die Köchin gute, feste Handtücher brauchen, so fand Frau Lindt Hemden mit Stickerei viel hübscher. Wünschten sich die Jungfern Wollstoff zu Winterkleidern, so bekamen sie sicher hellseidene Blusen, die keinen Wert für sie hatten. Für die alte Male wählten sie statt eines Flanells einen weißgestickten Unterrock aus, und für Hugo Marzipan und Manschettenknöpfe statt eines warmen wollenen Hemdes. Bei den beiden letzteren setzte Fräulein Gotthelf aber doch das Praktische durch.

Beim Einkaufen für ihre Kinder kannte Frau Lindt keine Grenzen, und ihre Weihnachtsstube war wohl die glänzendste der ganzen großen Stadt. Wenn die reiche, feingekleidete Dame in einen Laden kam, da flogen die Angestellten, und meist waren es die Besitzer selber, die sie bedienten. Leicht war das nicht immer, denn sie sprach tausenderlei Wünsche zugleich aus. Aber dann fragte sie auch nie nach dem Preis, und die Kaufleute konnten sicher sein, die höchsten und kostbarsten Stücke an sie los zu werden. Ihr Gatte legte ihr darin kein Hindernis in den Weg. Frau Juanita besaß eigene große Mittel, die ihr aus ihren Besitzungen in der südlichen Heimat zuflossen, und Herr Lindt war auch ein reichgewordener Mann und konnte sich allen Prunk erlauben. Er selber hatte ja keine Freude daran. Sein Leben war rastlose Arbeit, und seiner ganzen Art widerstrebte das unruhige gesellschaftliche Leben, das seine Frau liebte. Aber am Anfang tat er der aus fernem Lande Verpflanzten allen Willen, und nun war es eben so, und schließlich war er auch stolz, wenn die Leute sein Haus mit all den Kunstschätzen und Genüssen, mit der interessanten Frau und den schönen Kindern lobten und priesen.

Allein das Dummerchen, die kleine Anni, die paßte nicht zum andern. Das sagten die Leute im stillen, und das empfand die eitle Mutter mit Unbehagen. Aber wunderbarerweise war gerade dieses Kind des Vaters Liebling. Als Anni sich so langsam entwickelte, als die Sprache so schwer kam und die Kleine deshalb für unbedeutend und dumm angesehen wurde, da war es der Vater, der aufs bestimmteste immer wieder erklärte: »Die wird! Seht ihr nur in die Augen!« Keines der Kinder hatte er so oft in der Kinderstube besucht als sein Dummerchen, und auch jetzt noch war Anni diejenige, für die er sich manchmal Zeit nahm, und mit der er ein Viertelstündchen verplauderte. Seine Zeit war ja so stark in Anspruch genommen, daß Frau Lindt sogar oft des Abends allein in Gesellschaft oder ins Theater gehen mußte.

»Die dummen Geschäfte!« sagte sie dann schmollend und war ärgerlich über die deutschen Verhältnisse.

Heute, am Weihnachtsabend, hatte sie diese doch recht schön gefunden, obgleich die Feier im Lindtschen Hause keineswegs einem echten deutschen Familienfeste glich. Im großen Saal mit den kostbaren Rokokomöbeln stand der Baum, eine Edeltanne, die vom Boden bis an die Decke reichte, behängen mit allem, was glitzerte und strahlte. Statt der Wachskerzen leuchteten bunte elektrische Lämpchen, und statt des Christkindleins oben in den Zweigen stand unten ein riesiger Weihnachtsmann, dessen Sack reizende Geschenke zu einer Lotterie barg.

Frau Lindt liebte es, auch an diesem Abend so viele Gäste, als eben zu haben waren, einzuladen. »Es lohnt sich ja sonst nicht der Mühe, all das aufzubauen, wenn niemand als wir es sieht!« meinte sie.

Und aufgebaut war, daß man wähnen konnte, in eine Kunstausstellung zu kommen. Kleider und Juwelen, die schönsten, die es gab, erhielt Frau Lindt von ihrem Gatten, den es freute, seine Frau geschmückt zu sehen. Schöne Kleider erhielten auch die Kinder. Und dann diese entzückenden Spielsachen! An den Wänden entlang standen sie: Kaufläden, voll der herrlichsten Dinge, Puppenstuben, ganze Stockwerke übereinander, und für die Kleine gar eine, in der sie selber sitzen und spielen konnte, so groß waren die auch hier in Weiß und Gold gehaltenen Möbel. Anni hatte auf einem blauseidenen Sofa eine ganze Welt von Puppen sitzen, von Badekindern an mit vollständigen Aussteuern bis zu Mohren-, Eskimo-, chinesischen und einheimischen Ballpuppen.

Heinz, der Kadett, war nun auch da. Gar zu gern hätte er sich gleich eingehend mit all den verwickelten Eisenbahn- und Maschinensachen beschäftigt, die auf einem besonderen Tische seiner harrten. Aber er hielt's unter seiner dreizehnjährigen Würde, sich dieses kindliche Interesse merken zu lassen, und nahm gelassen eine neue goldene Uhr, ein Gewehr, kostbare Bilderwerke und ein hochfeines Fahrrad, das an der Wand lehnte, in Empfang.

Die Kleine war, im höchsten Staat, nach kurzem Erscheinen, bei dem sämtliche Anwesende glaubten mit ihr sprechen und scherzen zu müssen, durch all das Ungeahnte verwirrt und weinerlich gemacht, wieder von der Wartfrau in ihr Zimmer zurückgebracht worden. Dort war's ihr erstes, daß sie sich der ihr aufgedrängten und in die Arme gelegten Hanswurste, Eisbären und Sammetaffen entledigte, um wieder nach ihrer geliebten, abgeschnullten alten Gummipuppe zu greifen und diese zärtlich herumzutragen.

In der Küche unten herrschte rege Geschäftigkeit und großer Trubel, dem Festmahl oben gerecht zu werden. Um fünf hatten die Leute im Gesindezimmer ihr Weihnachten erhalten. Frau Lindt war dazu sogar selber herabgekommen. Die Geschenke, die Geldpäckchen und ein Haufen Stollen lagen auf einem weißgedeckten Tisch, und zu jedem, der sich dann bedankte, hatte sie »Glückliche Weihnachten!« gesagt. Das Ganze war rasch vorüber. Was hätte man auch länger dabei tun sollen? Außerdem wartete auf die Leute die Arbeit.

Fräulein Gotthelf und Anni speisten zusammen in ihrem Zimmer, – Anni war noch zu jung für Gesellschaften – während Heinz zum erstenmal zu den Erwachsenen gerechnet wurde. Daß Eva leider, obgleich sie noch nicht sechzehn Jahre alt war, schon länger vollständig als junge Dame behandelt wurde, bekümmerte Fräulein Gotthelf. Aber da ließ sich nichts sagen und machen, weder bei der Mutter noch bei der Tochter, und die alte Erzieherin zog überhaupt Schweigen vor; sie hatte das gelernt in all den vielen Jahren, wo sie ihre Kräfte für andere verbrauchte. Sie war eine vorzügliche Lehrerin und wußte auch Bescheid mit Stotternden, deshalb hatte Herr Lindt sie gewählt. Daß sie etwas gar zu ernst und wortkarg war, wurde von Frau Lindt mißbilligend bemerkt. Sie hätte gern jemand Anregenderen, Lustigeren gehabt, und sie nahm sich vor, baldmöglichst wieder wie früher eine Französin anzustellen.

»Wozu war die Gotthelf in den besten Häusern, wenn sie nichts zu erzählen weiß?« tadelte sie, und Eva stimmte der Mutter bei.

Die beiden oben waren mit dem Essen fertig, und Anni sah nun voll Eifer die wunderschönen neuen Bücher an, die sie bekommen hatte.

»S... sehen Sie nur, Fräulein Gotthelf, ein neuer Ju... Jugendgarten und M... Märchen und eine b... biblische Geschichte mit Bildern! Oh, wer hat mir nur die gegeben?«

Anni reichte das Buch mit den hübschen Stichen über den Tisch.

»Das ist von mir,« sagte Fräulein Gotthelf fast verlegen. »Ich dachte, wenn ein Bild dabei ist, prägen sich dir die Sprüche aus den biblischen Erzählungen leichter ein.«

Das freute Anni sehr, aber sie bedauerte, daß sie selber kein Geschenk für die Lehrerin hatte. Und da fiel ihr plötzlich noch etwas anderes ein. »Fräulein Gotthelf, Fräulein G... G... G... otthelf, ich war ja noch nicht u... u... unten, um meine St... Strupferchen herzugeben!« rief sie in großer Aufregung. In solcher war das Stottern immer schlimmer als sonst, und Fräulein Gotthelf hob dann jedesmal mahnend den Finger. Anni lief zu einer Kommode und holte daraus ein Paket zusammengebundener, von ihr selbst gestrickter Pulswärmer, die sie nach eigenem Einfall für die Dienstboten im Laufe des Jahres gemacht hatte. »Ich will's ihnen jetzt bringen. – Gelt, Sie gehen mit?« Allein in die unteren Räume zu gehen, war Anni verboten.

Fräulein Gotthelf wußte wohl, daß die Leute jetzt wenig Zeit hatten, aber das Hauptessen drüben war ja wohl vorüber, und außerdem rückte für Anni bald die Stunde heran, wo sie zu Bett gehen mußte.

Die Dienstboten waren sehr erstaunt, das junge Fräulein in die Küche kommen zu sehen. Zuerst schien Anni etwas verlegen, dann aber trat sie mutig mit ihrem Körbchen am Arme vor.

»Da!« sagte eine liebe Stimme, und Cilli, die sich eben die Hände wusch, ward etwas Dunkelblaues neben das Handtuch gelegt. Und »da!« und Friedrich und Franz, der Kutscher, erhielten etwas Schwarzes, Berta und Lisette etwas Rotes, die alte Male etwas Graues und Hugo etwas ganz Buntes. Diese letzten Strupferchen, die aus allen Resten zusammen hergestellt worden waren, erschienen Anni als die schönsten, und sie sagte zu dem Burschen: »Weil du immer so rote H ... Hände bekommst!«

»Anni hat diese Pulswärmer alle selbst für euch gestrickt,« erklärte Fräulein Gotthelf ordentlich stolz, und dann gingen die beiden wieder nach oben.

»Wißt ihr, daß mich das am meisten freut, wenn ich auch für gewöhnlich so was nicht trage?« sagte Fräulein Berta, die vornehme Jungfer der gnädigen Frau. »Das erinnert mich an eine alte Dame, bei der ich einmal gedient habe, und die beim Stricken solcher Wollsachen mancherlei mit mir sprach, was bei andern Herrschaften nicht mehr der Fall ist.«

»Ich trag's mit Handkuß,« sagte Cilli. Sie hatte beide Stücke schon über die sauberen Hände gezogen, und sie sahen ganz nett aus zu dem blau und weißen Kleid, das sie anhatte. Friedrich und Franz steckten die ihrigen schmunzelnd ein und meinten, wenn's auch zum Dienerrock nicht gerade passe, so doch des Abends und Morgens daheim und im Stall. Male streichelte beständig die grauen Dinger und sagte: »O die feine, warme Wolle!« während Hugo sich vornahm, so was Schönes nur am Sonntag zu tragen, denn für die schwarzen Kohlenhände an Wochentagen seien sie doch zu schade. Lisette aber, die allzeit kritische, erklärte: »Die Anni ist die einzige im Haus, die unsereins auch als Mensch ansieht.«

Zwei Paare hatte Anni noch in der Hand, als sie zurückkam: schneeweiße, flaumige, die sie der Kinderfrau gab, und ein Paar himmelblaue für Kathi. Wo die nur sein mochte? Fräulein Gotthelf und Anni hatten sie vergeblich überall gesucht. Es lag doch nicht in Kathis Art wegzulaufen! Kopfschüttelnd wollte Fräulein Gotthelf sich eben daran machen, Anni, die müde war, selber zu Bett zu bringen. Sie streifte dem Kind gerade sein feines gesticktes Kleid ab, als es ihr schien, es dringe aus dem kleinen Ablegeraum nebenan ein unterdrücktes Schluchzen. Das Fräulein öffnete die Türe. Da saß Kathi am Fenster an einem Tischchen und hatte den Kopf auf den verschränkten Armen liegen. Vor ihr stand ein winziges Bäumchen mit ein paar verglimmenden Lichtchen. In der einen Hand hielt sie einen Brief, und daneben stand eine geöffnete Schachtel.

»Was haben Sie, Kathi?« Fräulein Gotthelf sagte es viel weicher, als es sonst ihre Art war, aber die Angeredete fuhr trotzdem so erschreckt in die Höhe, als habe man sie über etwas Unrechtem ertappt.

»Ach bitte, verzeihen Sie, – ach bitte, ich wußte ja gar nicht, daß es schon so spät ist!« suchte sie sich zu entschuldigen, als sie Anni erblickte, die ihr Nachtkleid schnell übergeworfen hatte und auch nachgekommen war. Kathi suchte das kleine Bäumchen vor ihr zu verbergen, aber Anni fragte entzückt: »Wo h... hast du denn das her, Kathi? Wie reizend die T... Tannenzäpfchen und die k... kleinen Apfel! Bitte, laß mich's sehen!«

Verlegen trat Kathi beiseite und sagte: »Meine Geschwister haben's gemacht. Sie haben mir's von daheim geschickt,« und wieder klang ein leises Schluchzen durch diese Worte.

Fräulein Gotthelf, so sehr sie sich selber in der Gewalt hatte, kamen die Tränen, denn auch sie mußte ja heute abend so viel an die kranke Mutter denken. Darum sagte sie sehr freundlich: »Sie brauchen sich nicht zu schämen, Kathi! Weihnachten macht Heimweh!«

Nun aber brach es bei dem Mädchen los. »Wenn das Bäumchen nicht gewesen wäre! Aber Mutter meinte, ich müsse eins aus unserm Walde haben, – das roch so nach daheim! Jetzt singen sie alle zusammen ›Stille Nacht!‹ und dann ... und dann ...«

Fräulein Gotthelf trat näher und legte die Hand beruhigend auf Kathis Schulter. »Was dann, Kathi? Wir müssen alle lernen uns überwinden. Sie zeigen mir später Ihre Sachen, jetzt muß Anni zu Bett gebracht werden.«

Fräulein Gotthelf war alt und konnte sich beherrschen, Kathi aber wußte noch nicht, wie das zu machen sei. Es tat ihr aber unendlich wohl, als Anni während des Auskleidens und Haarflechtens ihr ein paarmal mit ganz bekümmertem Gesichtchen die Hand drückte und sagte: »Ist's denn so s... sehr schön in deinem W... W... Wald?«

Kathi war eine Försterstochter und wohnte mitten in einem Walde, das wußte Anni. Und als diese schon lange in ihrem Bett lag, mußte Kathi ihr noch erzählen von den sieben Geschwistern daheim, von denen sie die Älteste war, von Vaters Sorgen für die Großen und von Mutters Mühen um die Kleinen.

»W... warum bist du denn aber dann von a... allen fort?« fragte Anni.

»Damit ich dem Vater Geld schicken kann, daß er den Brüdern Stiefel und den Schwestern Kleider anschafft,« antwortete Kathi. »Sie zerreißen so schrecklich viel!«

»Aber –, und dann ... und d... dann hast du doch vorhin noch gesagt?« Anni fragte immer sehr eindringlich, sie wollte alles wissen.

Kathi wurde verlegen und wieder weich. »Ach, Fräulein Anni, das Heimweh ist nicht das Allerärgste! Das Traurige ist, daß ich eben noch so ungeschickt und unbrauchbar bin, wie Fräulein Eva sagt, und daß man so schrecklich viel Geduld mit mir haben muß!«

»Du b... bist gar nicht ungeschickt, und ich h... hab' dich sehr lieb!« tröstete Anni und streichelte Kathis Hand. Viel sagen konnte sie auf all das andere nicht, denn sie verstand gar nicht alles.

Kathi taten aber die wenigen Worte unsagbar wohl. Fräulein Gotthelf, die drüben noch zu tun hatte, trat ein und sagte: »Jetzt wird aber geschlafen!«

Doch Anni kam noch lange nicht zur Ruhe. »W... warum gibt es arme Leute und r... reiche in der Welt?« fragte sie aufgeregt.

»Weil das immer so war und wir's nicht ändern können,« beschwichtigte Fräulein Gotthelf. Sie hätte gern gesagt: »Damit sie lernen möchten, sich in Liebe gegenseitig zu helfen,« aber sie wollte, daß Anni zur Ruhe kam, und sie selber war auch müde und wünschte am heutigen Abend noch ein bißchen nachzudenken.

»Hat Ihre M... Mutter heute abend auch H... Heimweh?« klang es wieder, als schon alles still schien, aus Annis Bett herüber.

»Ich fürchte, ja,« wollte eben Fräulein Gotthelf erwidern, als eine große Unruhe im Hause entstand, denn die Gäste gingen fort. Gleich darauf kam Eva in ihr Zimmer nebenan und rief nach Kathi. Diese war rasch in die Küche gegangen, um heißes Wasser zu holen, wurde aber mit Vorwürfen empfangen.

»Es ist ja gräßlich heiß in dem Zimmer!« – In Wahrheit hatte Eva die Hitze in sich. – »Wo haben Sie denn gesteckt? Natürlich wieder unten bei den andern, und ich kann sehen, wie ich allein zustande komme!«

Anni hörte drüben ein Paar Schuhe unsanft auf den Boden fliegen, und gleich darauf erscholl ein: »Autsch, jetzt haben Sie mich schon wieder gezupft! Lernen Sie denn nie und nimmer ordentlich kämmen?«

Was Kathi mit ihrer leisen Stimme antwortete, hörte Anni nicht. Als aber Eva gleich nachher sehr heftig rief: »Sie haben natürlich den ganzen Abend sich unterhalten und wieder einmal vergessen, mein Nachthemd auf die Wärmeflasche zu legen!« da hielt es Anni nicht mehr aus, sprang aus dem Bette heraus und lief unter die Türe: »N... nein, Eva, n... nein, s... so darfst du nicht s... sein! K... Kathi hat H... Heimweh und m... mußte so w... weinen, und w... wenn du so b... bist, muß ich es auch tun!«

Annis Stimme endete in Schluchzen. Fräulein Gotthelf rief, sie solle doch kommen, und Kathi klagte erschreckt: »Aber Fräulein Anni erkälten sich ja, und ich hab' die Wärmeflasche ja auch wirklich vergessen!«

Eva aber sagte, halb ärgerlich, halb verlegen: »Mach' doch keine solche Geschichten, Dummerchen! Leg' dich rasch nieder! Ich denke, die Kathi hat sich über ihr Weihnachtsgeschenk nicht zu beklagen.«

Diese hatte wirklich wie die andern eine sehr schöne Summe Geldes bekommen.

Eva fügte nun auch noch gnädig hinzu: »Sie können mein braunes Straßenkleid für sich nehmen; ich habe ein neues bekommen.«

Der Anzug war noch im besten Zustande, und Kathi konnte ihn sehr gut brauchen, aber doch freuten sie die kleinen himmelblauen Strupferchen mit all den lieben, teilnehmenden Stotterworten unsäglich mehr als das schöne, entbehrlich gewordene Kleidungsstück. Und als sie bald darauf in ihrer Kammer oben unter dem Dache lag, da war das Heimweh vergangen. Sie fühlte keine Kälte, trotzdem der Schnee fußhoch auf ihrem Guckfensterchen lag, und im Traume hörte sie das Halleluja der Engel. Einer aber davon hatte klein Annis Züge. –

Am andern Morgen nach dem Frühstück wollte Heinz unten im gekehrten Hof sein Fahrrad versuchen.

»Komm mit hinunter, Eva, daß auch jemand dabei ist,« bat er. Diese aber las gerade eine neue Novelle und hatte keine Lust.

»So lies doch nachher! Es ist so langweilig allein,« bettelte Heinz, aber Eva sagte unliebenswürdig: »Ich mag nicht!«

»Recht freundlich, wenn der Bruder nach Monaten wieder nach Hause kommt!« zürnte Heinz und wollte zur Tür hinaus.

»Darf ich mit dir g... gehen? W... wart nur eine Sekunde, b... bis ich meine Sachen anhabe!« fragte Dummerchen zaghaft, lief aber dann wie ein Pfeil davon, als Heinz kurz genickt hatte. Sofort kam sie in Mantel und Pelzmütze wieder und hüpfte selig neben dem großen Bruder hinab. Oben in der Puppenecke war's sehr hübsch und behaglich gewesen, aber man mußte doch Heinz bewundern, und das tat Anni ja ohnedies, auch ohne Fahrrad. War er doch so lustig und konnte ganze Geschichten in einem Zuge so erzählen, daß alles lachen mußte. Das war einfach herrlich! Und dann, früher, bei den Spielen, durfte sie ihm, wenn er einen Ritter vorstellte, die schwierigen Riemen an der Rüstung zumachen; er benützte Anni mit einem übergeworfenen Tuch als Schaf oder Kamel in der Proviantkolonne, oder sie durfte ihm die Farben reiben und Pinsel auswaschen, wenn er Bilderbogen anmalte. Seit er aber die Uniform trug, war das alles vorüber, und Heinz hielt sich mehr zu Eva und ihren Freundinnen.

Das Dummerchen machte sich so groß und verständig als nur möglich, um die Vorzüge des neuen Fahrzeuges gebührend anzuerkennen. Es hatte erst vorhin selber empfunden, wie wohl es tat, etwas Liebes loben zu hören, als die Kinderfrau ihr gesagt hatte: »Das kleine Zimmer, das Fräulein Anni selber aus Zigarrenkisten zusammengestellt haben, ist sehr nett!«

Zufällig war Anni dabei gewesen, als der Händler dem Vater das schöne Rad übergeben und dessen Vorzüge erklärt hatte. Nun konnte sie von der feinen Vernickelung sprechen, von dem bequemen Sitz, von der ganz besonders geschickten Lenkstange, und nur an dem Wort Pneumatik versagte ihr Können, das verstand sie durchaus nicht, konnte es auch mit aller Mühe nicht aussprechen.

»Dummerchen, du bist ein ganzer Kerl!« sagte Heinz, als er etlichemal die Runde gemacht hatte und nun bei der Schwester an der Freitreppe hielt. Die netten kleinen Bemerkungen sowie die warme Anteilnahme hatten ihn gefreut, und als Friedrich ihm das Rad abnahm und er mit Anni die Treppe wieder hinaufging, würdigte er die drei Jahre jüngere Schwester der Aufforderung, nachher einmal mit ihm auf sein Zimmer zu kommen. Er habe dort in seinem Schrank ein Paar Hefte mit Zeichnungen, die er im Kadettenhaus gemacht, die wolle er ihr zeigen. Die andern würden ja doch nur darüber lachen.

Gleich nachher saß Anni glückselig auf Heinzens Ledersofa, schaute die lustigen Bilder an und hörte mit Wonne, was er dazu erzählte. Der Bruder verstand doch zu hübsch zu zeichnen! Das konnte er schon von klein auf. Am besten gefielen Anni die Zimmer, Säle, der Garten und die Turnstube von dort. Nun konnte sie sich doch alles vorstellen, wie es war. Die Gesichter und Gestalten der Menschen fand sie allerdings etwas eigentümlich.

»Sehen die wirklich so aus?« fragte sie erstaunt. Heinz lachte aber und erklärte ihr, daß die Züge alle übertrieben seien, – das mache ihm und den Kameraden Spaß. Wenn sie niemandem etwas verrate, so wolle er ihr sagen, daß er neulich »dicken Arrest« bekommen habe, weil der Aufsichthabende hinter einige Zeichnungen gekommen sei, die ihn und andere Vorgesetzte nicht eben vorteilhaft darstellten. Heinz zeigte Anni die betreffenden Bilder, die wirklich nicht schmeichelhaft aussahen.

»Du, sag' das ja Eva nicht!« gebot Heinz, als er der Schwester etwas ängstliches Gesicht sah. »Die geht sonst zur Mama, und wenn diese auch nur darüber lachen würde, so erfährt's dann doch Vater, und der ist schon höllisch ärgerlich darüber, daß ich vielleicht nicht versetzt werde.«

»Wirst du d... das denn n... nicht?« Anni saß nun mit weit geöffneten Augen da und ließ das Buch, das sie eben hielt, in den Schoß sinken. Heinz, ihr bewunderter Heinz, der ja nur so spielend lernte, der sollte nicht ohne weiteres vorwärts kommen? »Ich g... glaub' das nicht, – du b... bist ja s... so gescheit!« sagte das Dummerchen ganz verwirrt.

Heinz tat dies Wort sehr wohl, aber nun war es an ihm, verwirrt zu sein. »'s ist ja auch noch nicht sicher, Anni, und du sprichst auch über das nicht, – versprich mir's!« Heinz hielt ihr seine braune Knabenhand hin, und etwas zögernd schlug Anni ein.

»Das Lernen wär's nicht, aber ich hab' ein paar Streiche gemacht, und die Lehrer haben eben einfach keinen Humor!«

Dieses Wort verstand Anni nicht, aber Streiche machen, das wußte sie, das durfte man nicht, und sie fragte mit gesteigerter Angst: »W... was habt ihr denn get... tan?«

»Unsinn, nichts Schlimmeres, als was alle tun: Zigaretten geraucht und Punsch gemacht. Daß ein paar Schwächlinge den nicht vertrugen, dafür kann doch ich nichts, und für die Mordsgeschichte, die nachher daraus entstand, doch auch nicht!«

Heinz sagte das alles sehr leichthin, aber man merkte ihm ein großes Unbehagen an, und so jung und unerfahren Anni war, für so was hatte sie ein feines Empfinden. Nach kurzem Besinnen sagte sie: »Ja, w... warum w... wirst du dann nicht v... versetzt, w... wenn die andern auch s... so waren?«

»Weil ich Geld hatte und die andern keins, und weil ich wollte, daß es auch einmal flott hergehen sollte. Aber so was verstehst du ja nicht, Dummerchen; weiß überhaupt nicht, warum ich dir die ganze Geschichte erzähle!« Heinz wechselte plötzlich den Ton, als er dies sagte, und raffte pfeifend seine Zeichnungen zusammen.

»O d... doch, Heinz, ich ver... verstehe es b... beinahe gut. K... könntest du nicht dort sagen, es t... tue dir leid? V... Vater ist oft sehr ernst!« Anni hielt nach diesem langen Satze aufatmend inne, aber Heinz war auf einmal nicht mehr in der Laune weiterzureden. Er entnahm einem Kistchen eine Zigarette, die er gewandt anzündete, – hier im Hause hatte ja doch niemand etwas dagegen – und indem der junge, dreizehnjährige Herr kunstgerecht ein paar Züge tat, sagte er: »Geh jetzt zu deinen Puppenkindern, Dummerchen! Wenn ich heute abend gut aufgelegt bin, kannst du in der Weihnachtsstube mit mir die neuen Kunstwerke ansehen.«

Anni ging in ihr Zimmer zurück, wo Fräulein Gotthelf sie schon vermißt hatte. Aber statt zu den Puppen setzte sie sich in eine Ecke und nahm ein Buch zur Hand. Doch sie las nicht, sondern versenkte sich mit Aufbietung ihres ganzen kindlichen Verstandes in das hinein, was der Bruder ihr gesagt hatte.

»Was ist H... Humor?« fragte sie plötzlich unvermittelt Fräulein Gotthelf.

»Das ist schwer zu sagen,« erwiderte diese erstaunt. »Wie kommst du darauf? Es mag etwa mit ›augenblicklicher Freudigkeit‹ oder ›gute Laune Erweckendes‹ übersetzt werden.«

»D... danke!« sagte Anni. Nun wußte sie es. Die Vorgesetzten waren schlechter Laune über das, was geschehen war, und das teilnehmende Herz der jungen Schwester verlor deshalb gleichfalls ihre Freudigkeit.

Die nächsten Tage waren auch keine weihnachtlich frohen. Vaters Brief, den er, um Aufklärung bittend, an die Vorgesetzten von Heinz geschrieben hatte, erhielt die Antwort, der Knabe sei wohl nicht schlimm, aber leichtsinnig und ohne Selbstzucht, und man müsse ihm deshalb, schon der andern wegen, einen Denkzettel geben. Da er aber sonst gut begabt sei, so hoffe man das Beste für die Zukunft.

Herr Lindt, der selbst ein Mann der Pflicht war, sich aber vor lauter Arbeit wenig um die Erziehung seiner Kinder bekümmerte, sprach äußerst streng und ernst mit seinem Sohne, während seine Frau, deren Eitelkeit auch gekränkt war, mehr über die übertriebene Peinlichkeit der deutschen Erziehungsanstalten sich ausließ. Heinz selbst hielt sich den Rest seines Urlaubs wieder ganz an Eva, mit der er aufs Eis, in Tanzstunden und ins Theater ging. Dummerchen war vergessen. Nur als Heinz vor seiner Rückreise noch die kleine Schwester zufällig allein im Zimmer traf und sie zögernd, aber mit solch liebem Blick zu ihm sagte: »H... Heinz, ich möchte s... so gerne, daß deine V... V... Vorgesetzten dich jetzt l... liebhaben!« da sagte er weich: »Ich auch, Dummerchen, aber leicht ist das nicht!«


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