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Erstes Kapitel

Ein Kinder-Hofstaat. – Eine Gesindestube, und warum Kathi eine dumme Gans gescholten wird. – Wie Hugo zu drei Koteletten kommt. – Vom einstigen Lindenhof, einer unterbrochenen Lektüre und einer Bluse, die bei Nacht gerichtet werden muß.

»Fertig!« sagte die behäbige Köchin, die eben den Nachtisch, bestehend in feinsten Früchten und lecker aussehenden kleinen Kuchen, auf das Brett des Speiseaufzugs gestellt hatte, und oben stand Friedrich, der Diener, und nahm das lautlos Angekommene in Empfang, um es sofort den Herrschaften drinnen im Speisezimmer als Schluß des Essens aufzutragen.

Heute waren keine Gäste da, nur die Familie des Herrn Großkaufmanns Lindt, und es gab einige Gänge weniger. Aber Silber- und Tafelzeug, Kristall- und Blumenschmuck blieben in ihrer Feinheit sich gleich, ob Fremde um den Tisch saßen oder nur die Eigenen. Auch der Anzug wurde allabendlich gewechselt. So wollte es die Mutter, die das von ihrer Heimat her gewöhnt war. Sie sah noch sehr jung und hübsch aus, die zarte Frau, die, als einzige Tochter erzogen, ihr Leben lang der Gegenstand von Liebe und Verwöhnung gewesen war, zuerst von den Eltern, die aber früh starben, dann von dem Gatten. Selbst als die Kinder gekommen waren, – Eva, die nun Fünfzehnjährige, dann Heinz, der seit einem Jahr im Kadettenkorps weilte, und Anni, die bei Fräulein Gotthelf, der älteren Dame, die neben ihr saß, zu lernen anfing, – selbst dann war die schöne, stets fein gekleidete Mama der Mittelpunkt des Hauses geblieben. Das machten auch ihre Nerven, die fortwährende Rücksicht erforderten, und die durchaus nichts Unangenehmes, selbst keinen Kindertrubel, ertrugen. Deshalb waren auch die Kinderzimmer in ein anderes Stockwerk verlegt, was sich besonders seit einem Jahre als nützlich erwies, als nochmals ein kleines Mädelchen namens Maria erschienen war, von den Geschwistern Kindchen oder die Kleine genannt. Eben wurde es hereingebracht, nachdem der Diener noch die durchsichtigen Mokkatäßchen auf einen kleinen Tisch im Nebenzimmer gestellt und das Spiritusflämmchen unter der mattsilbernen Kaffeemaschine angezündet hatte.

Die Tafel war aufgehoben, Eva und Anni küßten den Eltern die Hand, Fräulein Gotthelf bereitete den Kaffee, und die Kleine wurde nun mit Jubel bewundert und gehätschelt. Es sah auch wirklich gar zu niedlich aus, das kleine Ding, wie es von der Kinderfrau, die ganz in Weiß gekleidet war und ein Mullhäubchen auf dem schwarzen Scheitel trug, auf den Teppich gestellt wurde und dort zappelnd die ersten Gehversuche machte. Der Vater hatte sich eine Zigarre angezündet, und die Mutter lag auf dem Ruhesofa, mit einem indischen Schal zugedeckt, denn sie fror leicht. Eva saß in einem feinen Empirestuhl, Anni kauerte am Boden, wobei ihre blonden Haare in schwerer Fülle vornüber fielen, und alle Anwesenden schäkerten mit dem kleinen Kind, das in einem Gewirr von Batist, Spitzen und Schleifen dasaß, aus dem ein dunkler Lockenkopf mit einem schelmischen Gesichtchen hervorsah und rosige Arme sich ausstreckten.

»Wie groß ist Kindchen?«

»Kleine, schau mich an!«

»Nein, mich – da ist ein Zwieback!«

»Wo ist Mama? Gib Kußhändchen!«

»Nein, da ist Papa! Blas Lichtchen aus, Liebling!«

Das Kleinchen saß ganz aufrecht da, tat gerade das nicht, was es sollte, lächelte aber gnädig dahin und dorthin, griff mit den dicken Patschchen in Evas goldene Kette und Annis lange Locken. Als aber Vater nach unzähligen angezündeten Wachshölzchen seine Zigarre wieder ergriffen und Mama sich müde in die seidenen Kissen zurückgelegt hatte, da machte der kleine Mund plötzlich von selber: »Pff, pff!« und wollte Lichtchen ausblasen, Mama bekam Kußhand, und die Kinderarme zeigten »So groß!«, aber alles von selber, – die Kleine ließ sich nicht zwingen. Jedermann lachte darüber, nur Fräulein Gotthelf blieb ernst wie meistens und schenkte gewissenhaft den gewissenhaft bereiteten Kaffee ein.

Unten im Gesindezimmer neben der Küche wurde jetzt auch gespeist. Cilli, die Wiener Köchin, hatte auch vorher sich gerichtet, indem sie die Kochschürze ablegte und sich eine rosa Schleife umband. Sie wußte, was sich in einem Herrschaftshause gehörte. Sie saß obenan und legte vor. Fräulein Berta, die Jungfer, und der Diener Friedrich saßen neben ihr. Dann kam ein leerer Platz. Unten am Tisch saß Hugo, der kleine vierzehnjährige Hausknecht und Pudel von allen. Neben ihm löffelte die alte Male, die ständige Putzfrau, mit aufgestützten Ellbogen ihre Suppe aus, – sie war zahnlos und hielt sich deshalb an diese – und dann schloß die Tafelrunde die blitzblank aussehende Lisette, das Stubenmädchen.

»Wo bleibt denn wieder die Kathi?« fragte die Köchin ungnädig. »D' Supp'n ist kalt und die Bratensoße g'stand'n. I kann das Unpünktliche einmal net leid'n!«

»Die Kathi ist die Ordnung selber,« sagte Lisette, »das mögt ihr mir glauben. Aber wie schwer sie's hat als Jungfer von den jungen Damen, besonders von Fräulein Eva, davon macht man sich gar keinen Begriff.«

Lisette setzte einen Augenblick aus, denn sie aß Fisch und mochte nicht gern Gräten schlucken. »Ihr könnt's euch ja gar nicht vorstellen, wie's da nachher im Ankleidezimmer aussieht, wenn die Kleider gewechselt werden!« fuhr sie fort. »Nichts kann Fräulein Eva ordentlich herausnehmen. Taschentücher und Schleifen und Schmuck reißt sie nur so hinten vor, und Unterröcke und Kleider bleiben am Boden liegen. Von Fräulein Anni will ich nichts sagen, die war doch so lange nicht wohl, und da bedient man sie gerne, aber ...«

»Ja, schon deshalb, weil sie mit jedem von uns freundlich ist, wenigstens mit dem Anschauen, wenn's auch mit dem Sprechen immer noch hapert,« schaltete Male ein und schob zum drittenmal ihren Suppenteller hinauf.

»Das nennt man nicht hapern, Male, das nennt man stottern, und so was verliert sich mit der Zeit,« verbesserte Friedrich würdevoll. Er mochte nicht, daß man seiner Herrschaft etwas anhängte, denn er hielt viel auf die Ehre des Hauses und damit auf seine eigene.

»Da kommt die Kathi,« sagte Fräulein Berta und rückte ein wenig seitwärts, nicht zuviel, denn sie war schon eine ältere Person, während Kathi erst anfing zu dienen. Diese schob sich, schmal und dünn wie sie war, nach einem schüchternen »Ich bitt' um Entschuldigung!« gegen Cilli hin zwischen die andern.

»Essen S' jetzt nur tapfer drauf los, damit S' ein bisserl eine Farb' krieg'n,« sagte diese gutmütig und schob ihr einen bis zum Rand mit Suppe gefüllten Teller zu.

Kathi mußte sich wirklich tapfer bezwingen, als sie den Inhalt zu vertilgen suchte, denn ein dicker Pfropf steckte ihr im Halse, und sie vermochte kaum zu schlucken.

»Ich weiß, warum Kathi so verweint ist,« sagte Hugo leise zu Male. »Eine dumme Gans hat sie Fräulein Eva gescholten. Ich hab's gehört, weil ich nach dem Ofen sehen mußte. Und wie sie ihr nicht flink genug die Haare aufsteckte, da gab das gnädige Fräulein Eva einer Schale mit vielen Nadeln nur so einen Schubs, daß alles hinausflog, und da hat's die Kathi jetzt unter allen Möbeln hervorklauben müssen.« Hugo sagte letzteres mit seiner hellen, entrüsteten Knabenstimme, die so laut klang, daß die andern es auch hörten und nun darüber sich ereiferten. Kathi stürzten die mühsam zurückgedrängten Tränen hervor, und sie schob den halb ausgegessenen Teller zurück.

»Dürft' ich vielleicht drum bitten?« fragte Male und machte sich sofort über den vierten Teller mit der gleichen Wonne wie beim ersten her.

»Ich bin eben auch noch arg ungeschickt!« schluchzte Kathi.

»Ja, das sind Sie; Sie müssen noch viel lernen!« sagte in etwas strengem Ton Fräulein Berta und erhob sich als erste zum Fortgehen. Es war ihr immer etwas peinlich, mit den andern essen zu müssen.

»Jetzt schlucken Sie halt, Kathi, und lernen Sie noch!« sagte wohlwollend Friedrich, indem er stehend noch sein Glas Rotwein austrank. »So geht's am Anfang einem jeden, – auch dir, du Schlingel da drunten!« Er meinte damit Hugo, der das Schlucken wörtlich auch für sich genommen hatte und eben noch rasch einen großen Brocken Fleisch hinunterwürgte.

»Ich glaub' gar, der Kerl hat drei Kotelettbeine auf seinem Teller liegen! Wart', ich will dir so gefräßig und unbescheiden sein! Cilli, morgen wird er auf kalte Erbsen und Schwarzbrot gesetzt.«

Friedrich beutelte den Jungen ein bißchen an seinem blonden Schopf, konnte aber auch nicht ernst bleiben, als Hugo, unter der fest zufassenden Hand sich windend, schleunigst entwischte, nicht ohne das dritte Bein, an dem noch etwas Fleisch hing, und das Stück Brot auf dem Tisch rasch an sich zu nehmen.

Alle lachten und gingen dann auseinander, ein jeder seiner Arbeit nach. Nur Kathi mühte sich, den Rest ihrer Mahlzeit hinunterzubringen, und Lisette setzte sich noch einen Augenblick zu ihr.

»Natürlich, Kathi, hast wieder geschwiegen und gar nichts darauf erwidert – auf die Behandlung,« sagte sie und stützte beide Arme auf den Tisch. »Das hätt' mir vorkommen sollen! Ich hätt' schon einen Satz bereit gehabt, daß so was nicht wieder geschieht! Aber natürlich, du duckst und duckst dich, und ich seh' dich vor mir, wie du am Boden herumkrochst und die vielen Stecknadeln zusammenklaubtest.«

»Ich konnt' sie doch nicht liegen lassen!« erwiderte Kathi mit einem schwachen Lächeln. »Das Bücken und Arbeiten tu' ich ja alles ganz gern, aber daß ich dem gnädigen Fräulein so gar nichts recht machen kann, das ist's, was mich drückt!«

»An mir tadelt sie auch immerfort herum und ist doch viel jünger als unsereins und versteht gar nichts. Aber ich mach' mir einfach nichts draus, und wenn mir's zu bunt wird, so kündige ich.«

In diesem Augenblick ertönte von oben die elektrische Klingel, der Knopf für die Jungfer sprang auf, und Kathi ließ erschreckt das, was sie noch auf dem Teller hatte, liegen und lief zur Treppe.

»Langsam, langsam, 's eilt nicht so arg,« wehrte Lisette gleichmütig, aber Kathi war schon oben und trat, noch ganz atemlos, in das Zimmer von Fräulein Eva.

Diese saß an ihrem feinen kleinen Schreibtisch und schien schlechter Laune zu sein. Ihre schriftliche Arbeit für morgen – sie hatte noch einige Stunden – war ihr nicht so gelungen, wie sie gewollt hatte, und die letzte Seite war durch Streichen und Radieren verdorben.

»Was wünschen gnädig Fräulein?«

»Zuerst wünsche ich, daß Sie nicht unangeklopft hereinkommen. Wie oft hab' ich Ihnen das schon gesagt!«

Das war richtig. Kathi hatte es in der Eile wieder vergessen. Vergeßlichkeit war ja etwas, mit dem sie leider sehr zu kämpfen hatte.

»Und dann, – bleiben Sie doch nicht so langweilig an der Türe stehen!« – (Kathi trat näher.) »Da, sehen Sie, ist die Tinte schon wieder trocken geworden, ohne daß Sie neue eingegossen hätten. Nun hat es abscheuliche Striche und Kleckse gegeben, und Sie allein sind schuld daran.«

Kathi hätte sagen können, daß Fräulein Eva selber daran schuld sei, weil sie nie den Deckel am Tintenfaß zumache, und stammelte, sie habe erst vorgestern aufgefüllt.

Aber die junge Dame wurde schon wieder hitzig. »Reden Sie doch nicht so lange, und bringen Sie lieber die Tintenflasche!«

Kathi war noch nicht draußen, als ein kurzer, scharfer Ruf sie wieder zurückhielt.

»Kathi, Sie haben in unserm Schlafzimmer das Fenster offen gelassen. Ich hab' es selber schließen müssen, man erfriert ja!« Kathi wollte bescheiden erwidern, daß sie die Weisung habe, das Schlafzimmer kühl zu halten, aber sie hatte keine Zeit dazu. »Holen Sie mir doch geschwind den Atlas von dort oben herunter, – so, – staubig ist der auch einmal wieder!« Kathi wischte flink das bißchen Staub ab. »Jetzt bringen Sie mir noch rasch einige von den Reinetten im Speisezimmer. Ich muß was Erfrischendes haben. Und dann – halt, nur nicht so hastig! – vergessen Sie nicht, daß ich bis morgen meine Kreppbluse wieder hergerichtet haben muß. Der Riß im Ärmel von vorgestern ist natürlich noch nicht geflickt?«

Kathi verneinte und sagte schüchtern, es müsse leider ein neuer Unterärmel gemacht und auch der Spitzenbesatz erneuert werden, da gnädig Fräulein doch gewaltig hängen geblieben sei.

Aber diese wollte nichts davon hören, sondern erwiderte kurz: »Was da zu machen ist, weiß ich nicht, aber zum Frühstück um zwölf Uhr sind wir geladen, da muß es eben fertig sein.«

Kathi wurde es heiß zumute. In der Frühe, das wußte sie, kam sie nie zum Nähen, also mußte die Arbeit noch heute nacht geschehen, und sie hatte so dummes Kopfweh.

»Könntest du nicht eine andere B... B... B... Bluse anziehen?« fragte eine ungelenke Kinderstimme aus einer Ecke des großen Sofas, das in der schönen, geräumigen Lernstube stand. Es war Anni, die dort kauerte und ein Bilderwerk besah, das sie sich auf die Seitenlehne gelegt hatte. Wieder fiel die Fülle von prachtvollen blonden Locken vornüber und bedeckte das Gesicht. Als sich dieses aber erhob, da wäre jeder wohl enttäuscht gewesen, denn statt eines Engelgesichtchens, das man wohl vermutete, waren es unregelmäßige, fast unschöne Züge, in die man sah. Wie wenig ähnelte doch die jüngere Schwester der älteren, hervorragend schönen! Nur ein Paar liebe, graue Augen versöhnten mit dem fast ältlichen Aussehen der kaum Zehnjährigen, in der Familie das Dummerchen genannt, weil Anni sich infolge jahrelanger Krankheit nur ganz langsam entwickelt hatte und infolge eines leichten Sprachfehlers, der ihr anhaftete, noch immer nicht Herr der Sprache war. Das Dummerchen war aber eigentlich nichts weniger als dumm, sonst hätte man ihr diese Bezeichnung, die nun manchmal zum Kosenamen geworden war, wohl nicht gelassen. Klein Anni hatte von früh an mehr beobachtet als die Geschwister, die in der Schule und auch gesellschaftlich viel mit andern zusammenkamen. Sie hatte die Art des Vaters, der, aus einer oberbayrischen Bauernfamilie stammend, auch mehr dachte als redete, mehr arbeitete als genoß, mehr innerlich fein war, als er aussah.

Eva und Heinz waren die Ebenbilder der Mutter.

Der Vater hatte sich seine Frau einst von einer Reise nach Südamerika mitgebracht. Obgleich ihre Voreltern deutsche Eingewanderte gewesen, war sie doch vollständig in Wesen und Gewohnheiten Südländerin, und bei ihrer zarten Gesundheit mochte und konnte sie sich wohl auch nicht der Lebensführung und Art einer Deutschgewordenen anpassen. Das war für die alten Schwiegereltern im Bayrischen ein Schmerz gewesen, und schweren Herzens und sorgenvoll waren sie von den wenigen, immer seltener und kürzer werdenden Besuchen im Hause des Sohnes wieder in ihr schlichtes Heim zurückgekehrt. Die Geburt des jüngsten Kindes hatten sie nicht mehr erlebt, aber das Dummerchen mit seinen damals krummen Beinen und seiner ungeschickten Art hatte ihnen seit ihrem letzten Besuch viel Kummer gemacht und war ihnen wohl gerade deshalb sehr ans Herz gewachsen.

Großmutter hätte es am liebsten auf den Lindenhof mit sich genommen und es heraufgepflegt, aber sie wußte ja vorher, daß es die Frau Schwiegertochter nie erlaubt hätte, schon von wegen der Feinheit. Einmal war die ganze Familie vom Norden gekommen, – Herr Lindt hatte es durchgesetzt, seiner Frau und den Kindern seine Heimat zu zeigen, – aber obgleich die Schwiegertochter wie immer ganz lieb und leutselig war, wohnten sie doch nicht auf dem Hof, sondern im Gasthaus, und nach ein paar Tagen schon zogen sie wieder an den See, wo die vornehmen Gasthöfe und die vielen geputzten Fremden waren. Das Dummerchen hatten sie, weil es gar so sehr weinte, als es fort sollte, mit seiner Wärterin noch ein paar Tage länger dagelassen. Die Großmutter hätte es wohl selber versorgen können, – es war damals vier Jahre alt – aber sie war schon froh, daß die Frau Schwiegertochter überhaupt nachgab, diesmal auf ein ganz nachdrückliches Drängen des sonst etwas schwachen Mannes.

Für Dummerchen waren diese Tage auf dem Lindenhof in strahlendster Erinnerung geblieben, und so klein es noch gewesen, hatte sich doch alles fest in sein Herz eingegraben: der Großvater mit dem weißen Schnurrbart und dem grünen Hut mit der Feder darauf, wie er sie so sicher auf dem Arme gehalten hatte, wenn er sie zu den Bienen hineinsehen ließ; die Großmutter mit dem schwarzseidenen Tuch um den Kopf, wie sie die Hühner fütterte, dem Kind Geißen und Kälbchen zeigte, oder wie sie in der kleinen, dunkeln Küche den Schmarren kochte, der so köstlich schmeckte wie gar nichts nachher mehr; die Stube mit dem Heilandsbild in der Ecke, mit dem breiten Gesimse an den kleinen Fensterlein, durch die man so herrlich von der ringsherum laufenden Bank hinaussehen konnte in den Garten mit Johannisbeeren, Salatbüschen und Bohnenblüten, und dann von der vorderen Seite des Hauses die alten, alten Linden, darunter ein Tisch mit Bänken, wo man des Abends die köstliche saure Milch mit Kartoffeln und Schwarzbrot aß. Die Wärterin wehrte sich zwar, daß Anni davon bekam, aber der Großvater kehrte sich nicht daran und sagte: »Dummes Zeug, – Schwarzbrot macht Wangen rot!« Das Dummerchen hatte wahrhaftig auch nach dieser Woche auf dem Lindenhof einen Anflug von rosigen Bäcklein mitgebracht, wenn auch Frau Lindt fand, daß es nach Stall rieche und entschieden an ein kleines Bauernmädchen erinnern würde, wenn man es noch länger dort gelassen hätte.

Nun waren die Großeltern längst tot, den Hof hatte ein entfernter Vetter übernommen, aber in Annis Träumen spielte Vaters alte Heimat noch immer eine große Rolle, und in den wenigen Stunden, wo sie ihn einmal allein hatte, leuchtete auch sein Auge, wenn das Kind ihn dazu brachte von einst zu erzählen. Niemand sonst fragte ihn nach dort, und die rastlose Arbeit und Geselligkeit ließen ja auch keine Zeit zu derartigem. –

Eva schrieb, und Anni hatte das Buch mit den schönen Bildern durchgesehen; sie gähnte ein bißchen. Da kam Fräulein Gotthelf, die nur ungern die zwei Mädchen allein gelassen, aber sie hatte mit Frau Lindt Halma spielen müssen, weil diese sich sonst gelangweilt hätte.

»Ihr Aufsatz ist wohl fertig, Eva, und wir können noch ein halb Stündchen zusammen lesen? Ich glaube, mein Annichen hat sich schon im voraus die Bilder von unserer Reisebeschreibung ein bißchen angesehen, was?«

Anni nickte, rutschte im Nu mit den Beinen vom Sofa herunter, legte das Buch unter die Lampe an Fräulein Gotthelfs Platz und holte dann rasch aus einem Schrank drei Arbeitskörbchen, die sie herumstellte.

»Wunderbar schön wird's werden, nach den B ... Bildern,« sagte sie dann und fing, auf ihrem Stuhl sitzend, sofort an, eifrig an blauen Pulswärmern zu stricken. Auch Fräulein Gotthelf setzte sich zurecht. »Kommen Sie, Eva?« fragte sie freundlich.

Aber diese antwortete nur mit einem kurzen »Nein!« denn sie hatte den Schluß der Arbeit noch einmal abgeschrieben; ihr Ehrgeiz verlangte, daß die Aufgaben tadellos abgegeben wurden.

»Schade,« sagte Fräulein Gotthelf, mehr zu sich und Anni, »nun können wir nicht vorlesen!«

»Ich bin ja fertig, jammern Sie doch nicht gleich! Was kann ich dafür, daß die faule Kathi nicht für ordentliche Tinte sorgte!« sagte Eva ärgerlich. Erst nachdem sie sorgsam das Geschriebene mit dem Löschblatt getrocknet, umständlich ihre Hefte und Bücher eingeschlossen und Kathi geklingelt hatte, daß sie den Teller mit Apfelschalen wegnehmen und ihr noch ein Glas Selterswasser bringen solle, hatte sie sich endlich auch an den Tisch gesetzt und ihre Arbeit, eine feine Stickerei, entfaltet.

Fräulein Gotthelf, die sich mit Anni wirklich freute, die Schicksale des berühmten Reisenden, von dem das Buch handelte, weiter zu verfolgen, fing an zu lesen. Aber es war kein Weiterkommen in der Sache. Zweimal wurde sie zu der gnädigen Frau befohlen, die bei den Patiencen, die sie nun legte, nicht recht weiter wußte. Dann hatte Eva falsche Stiche an ihrer Arbeit gemacht, und als man endlich im Zuge war, da stand diese plötzlich gähnend und sich streckend auf und sagte: »Ich kann euch nicht helfen, lest morgen weiter, aber ich bin gräßlich müde und schläfrig heute, – ich will zu Bett!«

»Bitte, liebe Eva, hätten Sie's nicht noch eine halbe Stunde aushalten können, wo wir ohnedies alle zur Ruhe gegangen wären?« sagte Fräulein Gotthelf etwas vorwurfsvoll. Aber Eva erwiderte kurz, sie sei nun einmal müde, auch falle ihr ein, daß sie heute abend noch ihre Haare waschen lassen müsse wegen der Einladung.

»Aber Eva, die K... K... Kathi soll doch heute nacht deine B... Bluse flicken!« rief ihr Anni so rasch, als sie vermochte, nach, aber Eva gab keine Antwort mehr.

Fräulein Gotthelf legte das Buch beiseite. Allein mochten die zwei mitten heraus nicht weiterlesen. Sie schwieg und sann. Dummerchen schwieg auch und strickte noch ein bißchen. Dann gingen die beiden, die in einem Zimmer schliefen, gleichfalls zu Bett.

Drüben aber, in Evas Ankleidezimmer, gab es noch lange keine Ruhe. Kathi mußte aus der Küche heißes Wasser, Ei und Kamillentee holen, und die umständliche Kopfwäsche der langen, dichten Haare nahm gewiß eine Stunde in Anspruch. Sie mußten doch auch wieder gründlich abgespült, getrocknet und eingeflochten werden.

Kathi hatte schüchtern an die Bluse erinnert, aber da war Eva sehr ungnädig geworden. Sie meinte, ob es denn ein Unglück sei, einmal ein bißchen länger als sonst aufzubleiben. »Wie oft tue ich das, wenn ich im Theater oder in Gesellschaft bin!«

Daß Kathi es dann jedesmal selbstverständlich auch tun mußte, ohne das Vergnügen dabei gehabt zu haben, und daß sie stets zwei Stunden vor Eva aufzustehen hatte, das bedachte diese nicht.

Nachdem Kathi ihr beim Auskleiden geholfen, die Ampel mit dem rosa Glas niedergeschraubt und die Zimmerwärme noch mit einem Thermometer gemessen hatte, war Eva, das kleine, spitzenbesetzte Kissen unter das Ohr schiebend, sofort eingeschlafen. Kathi machte sich nun aber endlich über ihre Arbeit, die bei künstlichem Licht anstrengend und schwierig war. Lisette, die ihr anfangs Gesellschaft geleistet und gehörig geschimpft hatte, war dann auch schläfrig weggegangen, was Kathi ihrer Kopfschmerzen wegen fast lieb war.

Erst gegen Morgen, als das Feuer im Ofen längst erloschen war, legte sich das Mädchen fröstelnd und übermüdet zu Bett, um nach drei Stunden unruhigen Schlafes wieder aufzustehen. Hätte Eva das gewußt, es hätte ihr sicher leid getan, denn mit Absicht plagen wollte sie ja niemand. Aber es gibt Menschen, die zwar offene, schöne und gesunde Augen besitzen, aber trotzdem blind sind, denn sie haben noch keinen Blick für andere, sondern nur für sich selber.


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