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Achtes Kapitel

Nach drei Himmelsrichtungen. – »Wo bringt ihr mich hin?« – Von einem Möbelwagen in einer engen Gasse, und warum es besser ist zu sagen »Helfen dürfen« als »Dienen müssen«. – Wie Mariechen Gemüse essen lernt und Anni sich wieder als Dummerchen fühlt. – Kein Weihnachten!

Nun waren sie alle an dem Ort angekommen, wo sie ein neues Leben zu beginnen hatten. Evas Endziel lag westlich, auf einem großen Landedelsitz in der Nähe des Meeres. Die andern hatten zwölf Stunden gen Süden zu fahren gehabt bis in die große, zwischen Hügeln liegende Hauptstadt Stuttgart. Weite Strecken trennten nun die, die bisher gemeinsam gelebt, und das Heim in der Mitte hatten Fremde übernommen Die rissen schon nach wenigen Monaten die seidenen Tapeten von den Wänden herunter, machten aus dem Wintergarten eine Teestube, setzten ein Stockwerk auf das Ganze, und die Villa Lindt, das Märchenschloß, wie es die Leute so oft genannt, wurde ein Gasthof. Etliche Bäume dahinter blieben stehen, und unter sie wurden Tische und Stühle gestellt. Den Park mit den alten Kastanienbäumen aber kaufte einer für Fabriken. Schon lagen die mächtigen Stämme am Boden, die Säge teilte sie schön regelmäßig in Stücke. Wo der Sammetrasen und die Blumenbeete gewesen waren, wurde gegraben, und aus dem Tennisplatz wurden Steine behauen.

Ein Glück war's, daß den seitherigen Bewohnern dieser Anblick erspart blieb: das Heimweh nach dem, was gewesen, wäre bei allen noch bitterer geworden. Und schwer daran litt ja ein jedes der Lindtschen Familie, wenn auch keines davon sprach, weder in Wort noch im Brief. Es war einmal so und mußte getragen werden. Wie verschieden aber waren die Schultern, auf denen solche Last lag, wie so anders die Tragfähigkeit und -willigkeit!

Es war ein Herbstabend voll Nebel und feinen Regengeriesels gewesen, als die Droschke mit der Lindtschen Familie vor der neuen Wohnung in der Nähe des Marktplatzes hielt. Herr Fischer, der Geschäftsfreund, hatte diese Lage wegen der Nähe der Bank, an der Herr Lindt künftig arbeiten sollte, gewählt, außerdem waren hier die Preise nicht so hoch wie da, wo die Häuser weiter auseinander und lichter standen.

Mit einem tiefen Seufzer sah Herr Lindt, der zuerst ausgestiegen war, an dem düstern Gebäude empor. »In welchem Stockwerk ist es?« fragte er gepreßt.

»Im dritten. Ihre Frau Gemahlin muß ja doch wohl meist liegen, wie Sie schreiben, da dachte ich, die Luft oben sei besser.«

Vor dem Hause stand schon der Möbelwagen. Kathi war einen halben Tag früher gereist, um wenigstens das Nötigste zu stellen. Sie und ein Packer trugen die in Mäntel, Tücher und Decken gehüllte Kranke die Treppen hinauf. Ein dichter Schleier schützte ihr Gesicht vor Erkältung, so daß sie nicht sah, wie in jedem Stock Türspalten sich öffneten und neugierige Köpfe herausschauten.

»Wo bringt ihr mich hin?« fragte sie klagend, als es noch einmal hinaufging. Aber dann wurde sie gleich in ihr künftiges Schlafzimmer getragen, das schon ziemlich in Ordnung und von einer Lampe beleuchtet war, und Kathi und Anni beeilten sich, die von der langen Fahrt halb Ohnmächtige zu Bett zu bringen. Es war allen angst vor dem ersten Eindruck gewesen, aber Frau Lindt war zu müde zum Sprechen. Gleichgültig nahm sie die gewärmte mitgebrachte Fleischbrühe, gleichgültig ließ sie sich auskleiden. Alles geschah wie daheim. Aber zu dunkel war es ihr, und Kathi sah, wie sie mit den schlanken, blutleeren Fingern etwas an der Wand suchte.

»Das elektrische Licht,« befahl sie matt.

Ach, nun fing es an mit dem, was es nicht mehr gab, und wie viele solcher Entdeckungen würden nachfolgen! Anni und Kathi hatten denselben Gedanken, als sie, auf später vertröstend, die Lampe etwas höher schraubten und noch ein zufällig vorhandenes Licht anzündeten.

»Heller!« begehrte die Leidende noch einmal, aber dann fielen ihr von den überstandenen Anstrengungen des Tages die Augen zu, und die beiden konnten sich zu den andern begeben. Es war nötig, denn Mariechen hatte seine Milch, für die Kathi gesorgt, ausgetrunken und war »schrecklich schläfrig«. Herr Lindt aber durchmaß immer wieder die zwei noch gänzlich unwirtlichen Stuben mit den großmächtigen Tapetenmustern an den Wänden, den schlechtgestrichenen Böden und den Türen, die auf einen mit Kisten und durcheinanderstehenden Möbeln gefüllten frostigen Vorplatz führten, und sein Gesicht sah dabei so kummervoll aus, daß Anni ihn bei der Hand nahm und sagte: »Vater, wenn die Sonne morgen scheint, wird das alles anders aussehen.«

»Ja, gnädiger Herr, gewiß, ganz anders,« bestätigte Kathi. Aber der Vater konnte heute abend an keinen Trost und keinen Sonnenschein glauben, denn sorgenvoll, düster und kahl lag die Zukunft für sie alle vor ihm. Keinerlei Behagen wollte aufkommen, weder am folgenden Morgen noch überhaupt in den nächsten Tagen, wo noch die ganze Unordnung und Unregelmäßigkeit eines Umzuges herrschte.

»Das ist überall so,« tröstete Kathi, die übermenschliches leistete mit Putzen und Ordnen, mit Vorhangaufmachen und Einrichten der Schränke und der Küche. Keinen Friedrich, kein Zimmermädchen, keine Male, keinen Tapezier hatte man ja mehr zum Helfen.

»Wir müssen auf den Pfennig sehen,« hatte Herr Lindt tieftraurig gesagt, und danach mußte gehandelt werden. Welches Glück, Kathi noch zu haben! Und trotzdem fehlte es überall, selbst als alles eingerichtet war.

Vor allem fühlte sich die Kranke tief unglücklich und beständig vernachlässigt. Ihr Klingeln wurde sehr oft nicht gehört, oder man kam nicht sofort, weil man die Arbeit draußen nicht liegen lassen konnte. Das so viel einfachere Essen mundete nicht, eine Masse von Dingen wurde vermißt, die man einfach nicht mehr beschaffen konnte, und niemand hatte längere Zeit, sich an das Bett zu setzen, außer der kleinen Maria, und die fand es draußen in dem Durcheinander viel unterhaltender als bei der seufzenden, jammernden Mama. Außerdem wollte sie auch helfen.

»Du hilfst uns am meisten, wenn du Mama unterhältst,« versicherte Anni unzähligemal, aber ebensooft kam die kleine Unruhe wieder heraus, wie sie hineingeschickt wurde.

»Sie wird es lernen und wird dann Fräulein Anni überhaupt bald in vielem beistehen können,« tröstete Kathi. Wie hatte sie selber einst mit nahezu sechs Jahren – so alt war die Kleine jetzt – schon überall angreifen müssen! Aber hier war's eben etwas ganz anderes, hier mußte bei alt und jung vorher so viel erst verlernt werden, ehe wieder gelernt werden konnte. Wenn sie doch hätte bleiben dürfen, wenigstens irgendwo in der Nähe, um noch zum Rechten zu sehen! Aber das ging ja jetzt auch nicht mehr, denn bei ihrem letzten Besuche daheim hatte der Besitzer einer Mühle um ihre Hand geworben, und sie hatte ihm versprochen, sich seiner drei mutterlosen Kinder anzunehmen. Fast wollte es sie reuen, denn was sollte hier werden ohne eine feste, arbeitsgeübte Hand, und ohne daß man die Gewohnheiten der Herrschaft kannte? War es da richtig, an sein eigenes Glück zu denken? Ihr Bräutigam meinte ja, jedermann müsse sein Schicksal eben selber auf sich nehmen, und da hatte er wohl recht. So wollte sie nun eben die Sache noch in Gang bringen, damit Rosa, die nächste Woche eintrat, einen geordneten Haushalt vorfände. Ein paar Tage konnte sie noch hierbleiben, um ihr alles zu sagen, dann aber mußte Fräulein Anni die Leitung übernehmen. Zum Glück waren noch Herbstferien. Nachher sollte Mariechen auch in die Schule kommen. –

Rosa war da, und Kathi hatte sie angelernt, wobei Anni mit schwerem Herzen auch zuhörte. Ach, wie viel, wie viel gab's in einem Haushalt zu denken, zu tun, einzuteilen, und sie sollte künftig anordnen, wo sie selber sich doch noch so ganz unsicher und unerfahren fühlte! Und dazu war Rosa so ganz anders als Kathi. Die vielen Sorgen daheim und dann ein paar Stellen, in denen sie's nicht gut gehabt, hatten sie ernst und einsilbig gemacht. Von Haus aus brav und ehrlich, tat sie, was man sie hieß, aber ohne alle Freudigkeit, und wenn dies getan war, dachte sie nicht weiter.

Kathi nahm sie auch in diesem Punkt noch gründlich vor.

»Weißt, Rosel, das geht nicht so! Du mußt freundlicher sein und auch freudiger schaffen, sonst hat die Herrschaft noch eine Sorge weiter durch dich, und auf Fräulein Anni ruht ohnedies schon soviel.«

»Ich hab' eben ein schweres Gemüt,« sagte Rosa, »da kann man nichts machen.«

»Doch, man kann,« mahnte die Schwester eifrig. »Ich weiß noch gut, wie mir's auch so war, und Dienen ist hart, wenn man's noch als Muß ansieht. Aber paß' auf, ich weiß ein Geheimnis! Wenn man für Dienenmüssen das Wort Helfendürfen setzt, dann hat alles auf einmal ein anderes Gesicht. Und wie mir das klar wurde, trug ich an nichts mehr so schwer. Helfen dürfen, daß eine Wohnung behaglich und gesund ist, statt unordentlich und schmutzig; helfen dürfen, daß die Leute bekömmliches Essen kriegen, statt unverdauliches; beitragen dürfen, daß die Kranken sich stärken und die Kinder rote Backen bekommen; helfen dürfen, daß die Sachen erhalten, statt verschlampt werden, daß es gut warm und gut luftig in den Stuben ist, daß es keinen Unfrieden gibt, indem man schweigen lernt, und« – Kathis Stimme wurde leiser und fast feierlich – »helfen dürfen, weißt, Rosel, ein ganz klein bißchen für Gottes Reich dadurch, daß die Leute merken, das ist eine, die betet, – da hilft der liebe Gott!«

Rosel meinte: »Beten tu' ich auch, und du hast jetzt gut reden, du hast eine schöne Zukunft vor dir!« aber sie tauchte dabei doch den Lappen, den sie beim Fensterputzen schon beiseite gelegt, nochmals in die Schüssel und wusch die Scheiben ganz klar. Vielleicht half sie damit, daß zu der Frau etwas mehr Helle hereinkam. Es war ja nicht zum Ansehen, wie die so trostlos dalag, und Kathis Worte machten doch einen großen Eindruck auf sie. –

»Väterchen, es tut mir so schrecklich leid, daß dein Schnitzel nicht weich ist und du jetzt nichts Ordentliches zu essen hast!« klagte Anni ein paar Tage später beim Mittagessen. Es war das Erste, was Rosa allein gekocht hatte, und nun war es gleich nichts gewesen. Sie selber mit ihren jungen, festen Zähnen fand es ganz genießbar, aber Herr Lindt hatte das Stück Fleisch beiseite geschoben und nahm sich Gemüse. Recht wenig schmackhaft war auch dieser Kohl, und er hätte am liebsten auch auf ihn verzichtet, aber Annis bekümmertem Gesicht gegenüber zwang er sich dazu.

»Die Rosa wird's schon besser lernen,« sagte er gutmütig. »Die Hauptsache ist, daß Mama ihre Sache genießbar bekommt.«

Anni nahm einen frischen Teller, zerschnitt eines der Schnitzel in möglichst kleine Stückchen und gab Gemüse dazu. Die Brühe hatte Rosa vergessen. Anni trug den Teller ins Nebenzimmer, band der Mama ein Mundtuch um, hob den Krankentisch über das Bett und stellte den Teller mit ängstlichem »Guten Appetit!« zurecht.

»Dacht' ich's doch, Kohl!« klagte die Kranke. »Den ganzen Morgen schon hab' ich den Geruch in der Nase gehabt. Könnt ihr das nicht ändern?«

»Nein, die Küche ist zu nahe,« wollte Anni eben antworten, aber sie schwieg lieber, Mutter hatte ja noch keinen Begriff davon, wie eng die Wohnung war.

»Ich kann das wirklich nicht essen, Anni; das Mädchen soll mir Eingemachtes bringen.«

Ach, daran hatte niemand gedacht, und Anni wußte doch, daß das nie fehlen durfte!

»Verzeih nur, liebe Mama, du sollst gewiß heute abend welches bekommen. Ich werde dir rasch eine Orange schälen.« Anni lief, sie zu holen.

»Laß das! In den leeren Magen taugt das nicht! Gib mir ein Biskuit, – sonst brauche ich nichts!« Frau Lindt sagte das gekränkt und legte sich dann gegen die Wand.

Anni war's schrecklich. Sie wollte Tee und Kakao machen, aber immer hieß es: »Nein, nicht!« und unglücklich kehrte sie zum Vater zurück.

Der war nun auch nicht guter Laune. Mariechen mochte das Gemüse nicht und weinte, weil der Vater ihr eine Rede gehalten hatte, daß sie künftig mit solchen Gerichten zufrieden sein müsse. Sie blickte flehend von ihrem vollen Teller auf Anni, die sich nun rasch setzte, Kartoffeln schälte und ihren Teller mit dem des Schwesterchens tauschte. Der Vater ließ es geschehen, sah aber recht unglücklich darein.

»Muß das jetzt immer sein, daß du beim Essen wegläufst, Anni? Gemütlich ist das nicht!«

Ach nein, gemütlich war das nicht, aber vielleicht ließ sich's ändern. Mit Macht zwang sich Anni zu einem fröhlichen Tone. »Weißt du, Väterchen, heut und morgen ist alles nur Versuch, weil wir's eben noch nicht so recht verstehen. Gelt, du hast Geduld und ißt mir zuliebe noch ein bißchen Kartoffel mit Butter?« Sie legte ihm etliche geschälte auf den Teller. Und dann kam ihr noch ein Ausweg. Sie schickte Rosa schnell zu dem Zuckerbäcker an der Ecke, ließ Apfeltorte mit Schlagrahm kommen, wovon auch die Mutter gnädig etwas nahm, und der Schluß des Essens war befriedigender als der Anfang.

Die folgenden Tage ging's mit dem Essen entschieden besser. Rosa war's unangenehm gewesen, als alles wieder zurückkam, und sie meinte: »Nur wissen muß man's, dann kann ich auch weicher kochen.« Braten konnte sie machen, das hatte sie in ihrer letzten Stelle gelernt, und Pfannkuchen und Nudeln auch, und zum Nachtisch gab's beim Zuckerbäcker ja eine reiche Auswahl, – an etwas Süßes waren alle gewöhnt. Anni gab der Mutter jetzt immer vorher ihr Essen, und so ging's entschieden besser, und für Eingemachtes wurde auch immer gesorgt. Rosa hatte unter solchem anfangs gedörrte Apfelschnitze und Zwetschgen verstanden. Wie gut war's da, daß Anni damals mit Ruth so manchmal Apfelbrei und feine Obstspeisen gekocht hatte! Nun konnte sie angeben, wie man's machte. Auch noch anderes kam ihr jetzt recht zunutze. Wie litt Vater sichtlich darunter, wenn der Tisch unregelmäßig und nachlässig gedeckt war! Rosa hatte dafür kein Auge, und wenn sie mit der nassen, blauen Küchenschürze das Essen auftrug, es auf den Tisch stellte, wo gerade Platz war, und beim Abräumen die Teller zu einem Berg aufeinander türmte, so konnte einem angst und bange werden.

Da fiel Anni ein, wie die Gräfin damals den jungen Hugo angelernt hatte zu decken und aufzutragen. Waren die Geräte auf dem Lindtschen Tische jetzt auch nur die allereinfachsten, so ließen sie sich doch nach einer gewissen Regel aufstellen. Rosa mußte sich zum Umbinden einer weißen Schürze bequemen und zu ordnungsmäßigem Wechseln der Teller und Bestecke. Freilich behauptete sie nachher, einen solchen Haufen von Geschirr zu spülen sei eine Unmöglichkeit neben aller andern Arbeit, und Anni sah ein, daß man die Schälchen, die Obstmesserchen, die Mundtassen usw. eben weglassen müsse. Für Mutters eigenen Gebrauch freilich wurde alles beibehalten, sie verlangte es einfach.

Anni hatte noch vier Wochen vor sich, ehe die Schule begann, und das war ein Segen. So konnte sie sich noch ein bißchen in all das Neue einleben. Wie furchtbar schwer das hielt, das hatte sie sich doch nicht vorgestellt. Jegliche Erfahrung fehlte ihr noch, und niemand war da, den sie hätte um Rat fragen können.

»Augen aufmachen, – immer zuerst das Nächste tun!« Nach dieser Anweisung ihrer mütterlichen Freundin zu handeln, war Anni redlich bemüht. War sie doch Vaters einzige Stütze, seine kleine Hausfrau, wie er sie nannte. »Mach' alles so, wie du's für richtig hältst, Annerl! Mußt eben versuchen, mit dem Gelde auszukommen, das ich dir alle Monate geben kann, – wenig genug ist's,« sagte er wehmütig.

Anni kam die Summe, die sie erhielt, anfangs recht groß vor, aber es war schrecklich, wie bald sie zusammenschmolz. Nie hätte sie gedacht, wie viel Holz und Koks, Licht und Nahrungsmittel kosteten, und dazu kam noch so manches andere.

Kathi war noch mit Anni in die umliegenden Läden gegangen, wo sie ihr manches erklärte und zeigte. Aber das Kind hatte ja noch nie selbständig eingekauft, und als es allein kam, wählte es ungeschickt, und man hängte ihm auch Minderwertiges auf. Ob teuer oder nicht, dafür fehlte ihr jeder Begriff, und gleich nach der ersten Woche saß Anni verzweifelt über dem Haushaltungsbuch, das die Gräfin ihr noch gekauft hatte. Wohl stand alles in schönster Ordnung auf dem Papier, – rechnen hatte Anni stets gut gekonnt, aber nicht berechnen, und sie sah mit Entsetzen, daß nach ein paar Tagen schon der halbe Betrag des Geldes verbraucht war. Das schrecklichste dabei für Anni war Vaters trauriges Gesicht, mit dem er sagte: »Gib mir weniger Fleisch, Kind! Gemüse und Obst bekommen mir auch besser.«

Aber Gemüse und Obst kosteten auch so schrecklich viel, und noch mehr die Backwaren. Vielleicht konnte man da sparen? Aber es war doch kein Essen ohne süße Speise! Jedenfalls brauchten Mutter und Mariechen eine solche. –

 

Brief von Anni Lindt an Gräfin Waldernberg.

Geliebte Tante!

Schon wieder schreibe ich, obgleich es noch nicht lange her ist, daß ich Dir unsern Einzug und die ersten Tage hier geschildert habe. Damals glaubte ich, wenn die ersten Wochen hier vorbei wären, so müßte alles in Ordnung gehen. Aber es ist gar nichts in Ordnung, und ich merke, daß ich nichts weiß und nichts kann. Tante, Du magst so lieb urteilen, wie Du willst, ich bin und bleibe eben doch das Dummerchen! Ich möchte so gern alles recht machen, was ich soll. Aber bleibe ich bei Mama, der das Alleinsein so schwer fällt, und die so viel weint, so wird Rosa in der Küche nicht fertig. Und helfe ich in der Küche, so langweilt sich Mariechen und möchte gerne fort. Sie jammert beständig um den Garten, und zum Spazierengehen kommen wir nie. In der letzten Woche war auf einmal keine Wäsche mehr sauber, – ich hatte versäumt, danach zu sehen. Da mußte ich schleunigst alles fortgeben, worüber Rosa brummte und sagte, das hätte man selber besorgen können. Sie brummt überhaupt viel und ist gar nicht wie Kathi. Es sei kein Anhalt im Hause, sagt sie, und ich helfe ihr doch, soviel ich kann. Gräßlich ist mir, wenn Vater nach Hause kommt und sein Ofen brennt nicht, oder das Essen ist noch nicht fertig. Er muß ja gleich um zwei Uhr wieder im Geschäft sein, und ich merke ihm an, die neue Arbeit fällt ihm herzlich schwer. Da war es mir nun ganz entsetzlich, als ich ihm gestern, wo er gerade recht müde heimkam, gestehen mußte, daß mein Haushaltungsgeld alle sei, noch lange ehe der Monat zu Ende war. Er sagte nichts und gab mir wieder einen Schein. Aber heute wies er seinen Nachmittagskaffee zurück und schloß seine Zigarren in einen Schrank. »Was nicht notwendig ist, wollen wir bleiben lassen, Annerl!« Das Rauchen ist ihm aber notwendig, Tante, denn er vergißt, wie er so oft früher sagte, seine Gedanken darüber. Tante, was soll ich tun? Wo soll ich sparen, und wie soll's gehen, wenn ich in vierzehn Tagen in die Schule muß? Dann hat ja die Rosa noch weniger Anhalt! Ich wollte, es wäre schon Mai, und ich wäre eingesegnet und könnte dann immer zu Hause sein und überall nachsehen und mithelfen. Kuchen und Früchte esse ich selber natürlich wenig, aber den andern schmeckt es. Neulich hat mir die Geflügelfrau eine ganz alte Ente verkauft, und die Fische vom Markt haben für Mama zu viel Gräten. Sie möchte immer Salm, der aber ist so teuer. Wenn Mariechen in die Schule geht, wird's auch besser sein. Sie ist lieb, aber für Mama zu wild. Und dann habe ich meine liebe Not mit ihr, weil sie beständig auf die Treppe und mit den Kindern im Hause spielen will. Das kann ich doch nicht leiden, obgleich ein paar von ihnen, die dem Bäcker unten gehören, sehr ordentlich aussehen. Aber diese Kinder sprechen in der Mundart und tummeln sich auf der Straße ... Nun muß ich schließen, obgleich ich noch so viel auf dem Herzen habe. Das ärgste von allem ist mir, wenn Vater sagt: »Du bist eben noch zu jung für solch eine Last!« Dabei sieht er so kummervoll aus, und ich kann mich doch nicht älter machen. Wenn man nur darum beten könnte, daß das ein bißchen geschwinder geht! Ruth hat's gut, die ist schon siebzehn, ich erst fünfzehn Jahre alt! – Und, liebe Tante, fröhlich kann ich wirklich nicht sein, obgleich Du mir das so ans Herz gelegt hast. Eben kommt wieder eine Rechnung vom Delikatessenhändler über Butter und Eingemachtes, und die alte Rechnung ist noch nicht bezahlt. Tante, ich hätte nie gedacht, wie schwer es ist, einen Haushalt zu führen und arm zu sein.

Mit sehnsuchtsvollen Grüßen
Euer
getreues, bedrücktes Dummerchen.

N.S. Von Eva haben wir erst eine Karte, daß sie gut angekommen ist. Heinz schreibt immer noch ganz verzweifelt, daß es anders mit uns geworden, und daß er keine Pferde, kein Fahrrad und keinen Kraftwagen mehr findet. Er wird vieles andere auch nicht mehr finden, wenn er Weihnachten in Urlaub kommt!

 

Brief der Gräfin Waldernberg an Anni Lindt.

Meine liebe Anni!

Vor allem andern will ich Deine Unterschrift »Dummerchen« nicht mehr lesen, denn Du bist klar und zielbewußt und sollst an Dein Können fest glauben. Das hab' ich Dir schon hundertmal gesagt! Daß Deine Lage gegenwärtig ganz ausnahmsweise schwierig ist, das wissen wir alle. Aber wir wissen auch, daß Gott denen hilft, die ihn ernstlich darum bitten. – Zu beten, daß Du älter wirst, ist unnötig. Das kommt von selbst, und außerdem bist Du durch Deine Lebensführung älter als andere in Deinen Jahren, sonst wäre die Aufgabe, die Dir zugefallen ist, allerdings zu groß. So fehlt Dir nur die Erfahrung, und da möchte ich Dir ein paar Ratschläge geben. Erstens weise von Dir, daß Ihr arm seid, und bemitleide Euch nicht. Ihr habt so viel, daß die meisten Menschen mit einer solchen Einnahme reichen müssen. Das Schwere für Euch ist nur das, zu vergessen, wie's gewesen ist. Eure Mutter war zu verwöhnt und ist krank, deshalb gib ihr immerhin, wo's möglich ist, von den guten Dingen, die sie gewöhnt war. Für Euch aber hast Du noch zu hohe Begriffe. Ich lege Dir eine Reihe Speisezettel und Rezepte bei. Auch süße Speisen sind darunter, die Rosa leicht kochen kann, und die billig und nahrhaft sind. – Den Zuckerbäcker und Delikatessenhändler aber streiche vollständig, denn Geflügel, Fische und Süßigkeiten sind unnötig. Eingemachtes und Butter könnt Ihr auch ersparen, – es ist kein Unglück, trockenes Brot zu essen, und im nächsten Herbst kann Rosa dann Äpfel und Zwetschgen einkochen, wenn sie billig sind. Rosa ist nicht ungeschickt, das hat mir Kathi gesagt, als sie mich auf dem Rückweg besuchte. Kathi meint, sie werde recht werden, tüchtiges Schaffen und Einteilen sei sie gewöhnt, – Fräulein Anni könnte sie darin ruhig schalten und walten lassen. Das rate ich Dir nun auch, liebes Kind. Wir verfallen oft in den Fehler, daß wir unsere Dienstboten unselbständig erhalten, indem wir meinen, ihnen bei allem helfen zu müssen. Laß sie das allein tun, womit sie fertig wird, und sie wird befriedigt und froh sein. Ein Dienstmädchen hat auch seinen Ehrgeiz. Küche und Haushalt sind nicht viel Arbeit für sie, und nur wenn sie wäscht, hilf und nimm ihr etwas ab. So bleibt Dir die nötige Zeit fürs andere. Deine Mutter besorge künftig, ehe Du zur Schule gehst. Früh aufstehen ist Gewohnheitssache, und auch Deine Kranke wird sich in diese Ordnung fügen wie auch an das zeitweise Alleinsein. Bis neun Uhr, wo Mariechen in die Schule muß, soll diese bei ihr bleiben; dann muß Rosa sich daran gewöhnen, zwischen der Arbeit immer wieder nach Mutter zu sehen. Wer weiß, ob dieser die Ruhe, die sie bis jetzt so wenig kannte, nicht gut tut, Deinem Vater, Anni, – das verlange ich von Dir – mußt Du immer, und besonders bei den Mahlzeiten, ein freundliches Gesicht zeigen, ob Dir's so ums Herz ist oder nicht. Er hat's nicht leicht, und Väter müssen sich im Familienkreis Frische und Mut zur Arbeit holen können. Und frisch und freundlich mußt Du auch mit Mariechen sein, schon wegen des Beispiels. Gern möchte ich haben, daß Ihr täglich ein bis zwei Stunden zusammen in die Luft geht. Tu es, wenn Du kannst, marschiert aber dann auch tüchtig. In Stuttgart gibt es die schönen Berg- und Waldwege. Das mit den Bäckerskindern und dem Spiel auf der Straße hab' ich mir lange überlegt und kann es nicht ganz verwerfen. Sind die Kinder folgsam und einfach erzogen, so wird Mariechen nur von ihnen lernen können. Die stille Straße, in der Ihr wohnt, mag ihr immerhin ein kleiner Ersatz für den verlorenen Garten sein, und was die feinere Sprache anbelangt, so wird sie die beibehalten, solange zu Hause nicht in der Mundart gesprochen wird. Im übrigen müssen wir uns auch hier sagen, daß das Kind eben auch kein Prinzeßchen mehr ist, will's Gott aber doch ein innerlich feines, brauchbares Menschenkind werden soll.

Und nun, mein Annichen, sei wacker wie bisher, selbstlos und klug! Ruth und Fritz schreiben Dir selber. Ich küsse Dich und befehle Dich dem Schutze Gottes.

Deine mütterliche Freundin
Luise von Waldernberg.

 

Brief von Eva Lindt an ihre Eltern.

Meine Karten, liebe Eltern, habt Ihr erhalten und ich die netten kleinen Berichte von unserer Anni, woraus ich ersah, daß Ihr alle wohl seid bis auf die arme Mama, an die ich so oft mit leidenschaftlicher Liebe und innigem Mitleiden denke. Aber was nützt das alles, – geschehen ist geschehen, und ein jeder von uns muß sehen, wie er mit dem elenden Rest, der uns vom Leben geblieben ist, zurechtkommt. Hier ist es sehr schön und vornehm, vielleicht in manchem noch schöner, als es bei uns war. Ich musiziere, wie ausgemacht, mit den zwei Töchtern, die etwas jünger sind als ich. Die Baronin Schlippen ist rasend hochmütig auf ihr Schloß und ihre Ahnen und ihre Verwandtschaft, und ich weiß nicht, auf was alles noch. Ich aber bin's auch und wahre mir aufs nachdrücklichste alle meine Rechte, wenn sie mir Dinge zumuten wollen, die ich nicht zu tun habe. Im übrigen weht eine ästhetische Lust hier, ohne die ich einfach nicht leben könnte, und die zwei Mädchen haben ein gutes Benehmen und verstehen sich zu kleiden. Das bißchen von oben herab, das sie mir gegenüber haben, werde ich Ihnen auch noch abgewöhnen. Über Weihnachten soll viel Geselligkeit hier und auf den Nachbargütern herrschen, was immerhin eine angenehme Abwechslung sein wird.

Nun weiß ich nichts mehr als tausend Umarmungen für Mama. Hat sie ihre Palmen im Zimmer, und läßt Bobinha ihr sonst nichts abgehen? Hat Vater außer seinem Geschäft anregende Gesellschaft, und bekommt die Kleine auch die richtige Körperpflege? Wie wunderbar hat die Kinderfrau das verstanden! Anni, die Glückliche, wird in ihrem Element sein, Hausmütterchen zu spielen. Sie soll mir auch öfter schreiben, Zeit und Lust dazu hat ja jeder Backfisch. An Weihnachten mag ich nicht denken, wie überhaupt an das meiste nicht. Strich! Lebt Wohl!

Eva.

Dieser Brief, der recht ersehnt worden war, wirkte nicht gerade sehr erwärmend auf die Empfänger. Der Vater schob ihn seufzend zurück, die Mutter, die sich ihn zweimal vorlesen ließ, hatte auch geseufzt, und Annis Sorge, ob es Eva wohl gut gehe, war durch die mangelhafte Schilderung nicht gehoben. Und doch konnte dieses Schreiben nicht ganz das stille Behagen zerstören, das heute, wie nun schon manchmal des Abends, in dem einfachen Wohnzimmer der Familie Lindt herrschte. Vater trug neuerdings, wenn er nach Hause kam, Mutter auf den Diwan im Wohnzimmer, und während Rosa dann das Schlafzimmer lüftete und für die Nacht richtete, tat die veränderte Lage und Umgebung der Halbgelähmten wohl. Sie spürte auch eher Appetit in der Gesellschaft der andern. Daß sie selber Feines und Besseres erhielt, fiel ihr weiter nicht auf, wie sie auch über Wohnung und Kleidung der Kinder selten mehr eine Bemerkung machte. Es war wie ein wohltuender Schleier, der sich über ihr Erinnern gebreitet hatte, und der sich nur zeitweise lüftete in Klagen um Eva oder Fragen nach dem Sohn. Heute hatte sich Frau Lindt trotz der augenblicklichen Aufregung über den Brief bald wieder vergessen. Einen großen Fächer von fremdländischen Federn leise hin und her bewegend und sich mit ihm vor dem Lichte schützend, übersah sie dabei den Tisch und die Ihrigen.

Hatte sie je früher ihren Mann so ruhig seine Zeitung lesend dasitzen sehen? War er nicht immer gleich wieder aufgestanden und fortgegangen? Was lernte Anni wohl so fleißig aus dem großen, schwarzen Buch, das vor ihr lag? Ihre Lippen wiederholten, was sie gelesen, und ihre grauen, verständigen Augen schauten dabei in die Ferne, als erblickten sie etwas Wunderbares. Hatte Anni denn immer eine so klare, hohe Stirn gehabt, hinter der sich zwei dicke blonde Zöpfe um den Kopf legten? Die Kleine aber schnitt mit einer Schere wunderliche Dinge aus: Schafe und Engel, Menschen und ein Haus. Und von Zeit zu Zeit wiederholte sie mit ihrer hellen Kinderstimme das, was Anni aus dem großen Buch heraus vorsagte, von Licht und von Freude, von Frieden und von Glück.

»Boba, – eine Zigarette!«

Auch während ihrer jetzigen Krankheit gehörte eine solche zum wirklichen Behagen der Leidenden. Und während Anni den kleinen papierenen Tröster anzündete, die Kranke ihn dann zwischen die dünnen, blutleeren Finger der gesund gebliebenen Hand nahm und den blauen, duftenden Rauch, der sich entwickelte, mit den Blicken verfolgte, hatte der Vater seine Zeitung sinken lassen und sah liebreich hinüber.

»Fällt's dir nicht schwer, Väterchen?« fragte Anni, als sie zum Tische zurückkehrte. Um der Mutter willen versagte dieser sich das eigene Rauchen.

»Leicht ist's gerade nicht, aber es geht.« Ein klein bißchen gepreßt klang die Antwort.

»Könnten wir denn nicht ganz billige Zigaretten für Mama kaufen und für das ersparte Geld ein paar Zigarren für dich, Väterchen?« Anni war's schrecklich, daß dieser etwas entbehrte.

»Unter keinen Umständen! Mama soll haben, was sie gewöhnt ist. Sie muß ohnedies so viel entbehren.«

»Aber du, Vater?«

»Mir ist's, glaube ich, ganz gesund, nicht zu rauchen, habe weniger Kopfweh als früher. Und leichter ist's, ich laß es gleich ganz bleiben, denn wenige Zigarren schmecken nach mehr.« Herr Lindt sagte dies halb lachend, halb ernsthaft, und Anni gab sich zufrieden.

Mit dem Haushalt ging es seit ein paar Wochen entschieden besser: die Ratschläge der Tante Waldernberg erwiesen sich als sehr praktisch. Rosa kochte sorgfältiger und mit mehr Lust, weil man sie allein machen ließ, die einfache Speisenfolge wurde genießbar und mundete. Putzen und Waschen war ohnedies ihr Element; an große Reinlichkeit war sie schon von Haus aus gewöhnt. Und wenn sie das Gefühl hatte, selbständig etwas zu leisten, wurde ihr Wesen auch etwas freier und weniger gedrückt. Eine Ehre war es für sie auch, daß sie sich des Abends, wenn draußen gespült war, noch für eine Stunde zu den übrigen ins Zimmer hereinsetzen durfte. Schüchtern hatte Anni den Vater um diese Erlaubnis gebeten, denn draußen in der Küche war es kalt. Selbstverständlich hatte er nichts dagegen, und wenn Rosa hereinkam – in diesem Falle aus eigenem Antrieb stets mit einer saubern Schürze – und bescheiden strickend in der Ofenecke saß, so erinnerte ihn das an die fernen Zeiten daheim, wo es ähnlich gewesen war.

»Glaubst du, daß du diesen Monat vollends reichst?« Herr Lindt sagte es über die Zeitung hinüber zu Anni, die inzwischen ihr Buch zugemacht und beim Rechnen am Schreibtisch saß.

»Ich hoffe, ja, Väterchen!« Sie schrieb eifrig weiter.

»Ist die Kohlenrechnung bezahlt?«

»Ja, – ich bezahle jetzt alles gleich.« Ordentlich stolz sagte das Anni.

»Metzger und Kaufmann sind auch in Ordnung?«

»Keinem bleibe ich etwas schuldig, da kann ich alles viel besser übersehen,« rühmte Anni und zählte den Rest des Haushaltungsgeldes in ihrer kleinen Kasse.

»Aber was tun wir mit Weihnachten, Herzenskind?« fragte der Vater, plötzlich wieder ernst geworden. Mariechen hatte vorhin glückselig einen Teil ihrer Krippe zum Stehen gebracht und dabei erzählt, daß Bäckers Christian, der Lehrjunge unten, schon Christbäume auf einem Wege gesehen habe. Nun wurde sie von Rosa zu Bett gebracht.

»Was tun wir mit Weihnachten?« Vater sagte es noch einmal, weniger als Frage, sondern wie in plötzlichem Kummer. Er faltete die Zeitungsblätter zusammen.

»Mir gibst du jedenfalls nichts,« sagte Anni aufs bestimmteste. Das Zusammenrechnen hatte ihr gezeigt, daß rein nichts zu erübrigen war, und dazu kam Heinz über die Feiertage mit seinem erschreckenden Appetit. Nun standen nach dem schönen, friedlichen Abend schon wieder die Sorgen da, und gar nichts zum Christtag zu bekommen, war doch sehr hart, – noch härter, gar nichts schenken zu können. Einen Augenblick kämpfte Anni wirklich mit den Tränen, sie war doch selber noch so jung. Aber dann wurden sie wacker hinuntergeschluckt, denn Vaters Auge ruhte so traurig auf ihr, und sie sagte möglichst frisch: »Jetzt geben wir uns alle untereinander eben einmal nichts, das ist noch lange kein Unglück, und Weihnachtsfest ist trotzdem, – das mit dem hellen Licht und der großen Freude, die allen Menschen verkündigt wird,« setzte sie leise hinzu. Sie war inzwischen aufgestanden und hatte sich ganz nahe zum Vater gesetzt.

»Weißt du, Väterchen,« – sie streichelte seine Hand, denn er war sehr ernst geworden – »weißt du, wir drei Großen wissen genau, daß das heuer eben einmal so ist. Mama,« – ein rascher Blick zeigte ihr, daß die Mutter schlummerte, – »Mama wird gar nicht merken, daß Festzeit ist; auch legte sie ja nie großen Wert auf die deutschen Weihnachten. So bleibt nur noch Rosa und die Kleine, für die wir zu sorgen haben. Das freilich kostet!«

Und Hausmütterchen rechnete ernsthaft dem Vater vor, was etwa ein Kleiderstoff und Hausschuhe, die Rosa sich wünschte, kosten werden, sowie ein ganz kleines Bäumchen und etliche Süßigkeiten für Mariechen. Herr Lindt gab Anni sogleich das Geld dafür und noch einige Mark darüber. Aber diese Unterredung hatte ihm die ganze »Armseligkeit« seiner jetzigen Lage wieder vor Augen geführt und das Gefühl der Ruhe von ihm genommen, die ihn in letzter Zeit manchmal nach den entsetzlichen Stürmen, die er durchgemacht, umfangen hatte. Früher als sonst zog er sich zurück, und Anni weinte nun doch lange leise vor sich hin. Solch ein ödes, leeres Weihnachtsfest konnte sie sich wirklich nicht vorstellen, und erst Mamas klagende Stimme: »Wo seid ihr denn alle? Bringt mich denn heute gar niemand zu Bett? Habt ihr denn meine Limonade vergessen?« brachte sie wieder zur Erfüllung ihrer Pflichten.


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