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Viertes Kapitel

Warum Fräulein Gotthelf kein Geld nimmt und Fräulein Perrotin einzieht. – »Boba, mein Dummerchen!« – Von langen Beinen und Kinderstühlen. – Warum sich Eva nicht bloßstellen lassen will.

Zwei Jahre später und noch ein halbes.

Eva ist nun eine junge Dame und geht auf wirkliche Bälle. Heinz ist fünfzehn, Anni zwölf und die Kleine, die eigentlich Juanita Maria hieß, vier Jahre alt; von allen wird sie noch Kindchen genannt. In dem Hause Lindt hat sich manches geändert. Frau Juanita leidet noch öfter als früher an Kopfweh und Erkältungen, und in der Zeit zwischen den Bällen und Gesellschaften, die sie doch mit Eva besuchen muß, ist sie genötigt, noch mehr als sonst zu liegen. Heinz ist im Mai im Kadettenhaus eingesegnet worden. Die Zeugnisse über seinen Fleiß und sein Betragen lauteten wechselnd, trotzdem aber ist er die beiden letzten Male glücklich »hinübergekommen«. Die Kleine ist noch unter der Obhut der Kinderfrau und ist ein kleines, wildes Mädel geworden. Noch ist sie der Liebling der Mutter, aber sie greift sie an, und nach den kurzen Viertelstunden, die die Kleine bei Mama spielen darf, wird sie wieder ins Kinderzimmer zurückgeschickt, meist beladen mit allerlei Schleckereien. Das Kind selber sehnt gewöhnlich diesen Augenblick herbei, denn es ist eigentlich unsagbar langweilig bei Mama, wo man entweder ruhig spielen oder stillsitzen muß.

Viel Veränderungen haben diese Jahre für Anni gebracht, äußerliche und innere. Sie ist gewachsen und erstarkt. Die offenen Haare sind nun in zwei Zöpfe geflochten, die zu einem Knoten aufgesteckt sind. Ihr heller Blick hat sich vertieft wie bei jemand, der viel nachdenkt. Recht ernst ist der ganze Ausdruck, ein bißchen alt; nur wenn Anni lächelt, treten an den Wangen zwei Grübchen hervor, die ihr gut stehen. Aber sonst sind die Züge nicht schöner geworden, und Frau Juanita seufzt oft darüber und sagt: »Wie kann man nur so ungleiche Kinder haben! Anni ist halt ein kleines Landmädchen. Sie hübsch anzuziehen, ist durchaus kein Vergnügen. Für sie würden am besten Rock und Mieder passen.«

Und da Anni selber sehr wenig Wert auf schöne Kleider legte, so wählte Fräulein Gotthelf gute, aber einfache Sachen. Ihr war ja die Erziehung dieses Kindes ganz überlassen, und sie liebte es in ihrer pflichttreuen, allerdings ein bißchen trockenen Art. Konnte Fräulein Gotthelf ihre Gefühle nicht mit Worten zeigen, so tat sie's in Ausübung ihrer Obliegenheiten, und sie war eine vorzügliche Lehrerin. Anni, die viel später angefangen, hatte ihre Altersgenossen nun beinahe eingeholt. Was aber Fräulein Gotthelf am besten gelang, das war die Besserung von Annis Sprache. Mit Absicht hatte sie nicht gleich damit angefangen; die Kleine mußte erst unbefangener werden. Dann aber machten die beiden zuerst spielend, später sehr nachdrücklich zusammen Sprechübungen. Anni freute sich über ihre Fortschritte, aber gerade mitten drin wurde der Sache ein jähes Ende gemacht.

Eva war »die alte, vertrocknete Person«, wie sie Fräulein Gotthelf nannte, schon lange zuwider. In den reichen Häusern, in denen sie verkehrte, waren überall unterhaltende, gefällige Erzieherinnen oder Gesellschafterinnen, die mit den jungen Damen Klavier spielten und sangen, die Französisch und Englisch sprachen, und mit denen man sich auch sehen lassen konnte.

»Eure Gotthelf, nimm mir's nicht übel, sieht wie ein alter lederner Handschuh aus,« hatte Dora Dunker, Evas Freundin, gesagt. Und von so etwas mußte man sich auf der Straße begleiten lassen! Als aber bald darauf Hildegard Chelius, die Tochter des vielfachen Millionärs, mit der gut zu stehen Evas größter Ehrgeiz war, nach dem Reiten im Reithaus bemerkte: »Dieses ewig braune Kleid von deiner – was ist sie nur? – Begleiterin oder was? würde mich an deiner Stelle geradezu nervös machen,« da war es um Evas Geduld geschehen. Sie vergaß, was Fräulein Gotthelf für Anni war, sie vergaß auch, wie aufopfernd sie ihr erst kürzlich bei einem übertretenen Fuß Umschläge gemacht, und sie mochte nicht daran denken, daß gerade jetzt Fräulein Gotthelfs Mutter wieder eine Operation durchzumachen hatte, die Sorgen und viel Geld kostete. Eva wollte nun eben durchaus eine Änderung haben, und Frau Lindt hatte nicht viel dagegen einzuwenden.

»Wenn du willst, mir ist's einerlei! Erst kürzlich sprach mir Frau Chelius von einer Französin, die so sehr schick und unterhaltend sei. Natürlich müßte sie auch nett zu Anni sein, das versteht sich von selbst. Ich bin sehr dafür, daß Boba (Frau Lindt gebrauchte gern diesen portugiesischen Ausdruck für »Dummerchen«) jetzt auch in die Schule geht und aus sich herauskommt. Mit deinem Vater wird's zwar einen kleinen Kampf geben, – er liebt unbegreiflicherweise diese Gotthelf – aber er muß einsehen, daß auch ich gar nichts von ihr habe.« Frau Juanita bewegte ihren großen, schwarzen Fächer, der immer neben ihr lag, langsam hin und her und überlegte dabei, wie die Änderung wohl am raschesten und ohne viel Aufregung vor sich gehen könnte. Nur keine Aufregungen, nur nicht Unangenehmes! –

»Bezahle ihr den doppelten Lohn, dann kann sie doch wirklich zufrieden sein,« schloß sie eine Stunde später die Unterredung mit ihrem Gatten über diesen Gegenstand. »Eva vergißt ja vollständig ihr Französisch, für Anni wird der Umgang mit andern Kindern durchaus notwendig, und – ich will von mir nicht sprechen, aber eine etwas anregendere Persönlichkeit täte mir wahrlich auch gut, wenn ich stundenlang auf dem Ruhesofa stilliegen muß.«

Herr Lindt hatte sich gegen diesen Wechsel aufs äußerste gestemmt, aber schließlich sah er doch einige der Gegengründe ein. Dann gab er eben nach, wie er so oft nachgegeben, um Ruhe und Frieden daheim zu haben, denn es war so namenlos viel im Geschäft, was all sein Denken in Anspruch nahm. –

Fräulein Gotthelfs Verabschiedung war zu Evas und der Mutter Beruhigung außerordentlich still vor sich gegangen. Ohne einen Laut von sich zu geben, hatte sie Herrn Lindts unendlich bedauernden Aufsagebrief gelesen. Nur setzen mußte sie sich, da sie gerade gestanden hatte. Mit wenig Worten hatte sie dann Anni gesagt, daß sie fort müsse, – schonend für die Eltern, ermutigend für das Kind. Still und ruhig packte sie einige Wochen später ihre wenigen Sachen zusammen, und sachlich gab sie der inzwischen eingetretenen Fräulein Perrotin Auskunft darüber, wie Anni seither geleitet worden war, besonders mit dem Sprechen.

»O das wird sick serr gut mit ein andre Spracke geben,« sagte die junge Dame leichthin, und Fräulein Gotthelf schwieg. Was ließ sich denn da noch machen? Sie preßte die Lippen zusammen, als Anni ihr um den Hals fiel und bitterlich weinte. Und als Kathi auch einmal mit Tränen meinte: »Jetzt hab' ich gar niemand mehr, der mich ein wenig versteht und mir Mut macht!« da sagte sie bloß: »Nicht so, Kathi! Wenden Sie sich an unsern Herrgott!«

»Jetzt ist's wirklich beinahe nicht mehr zum Aushalten, so wortkarg ist sie geworden,« sagte in diesen Tagen Eva zu ihrer Mutter. Aber einmal noch sollten sie alle Fräulein Gotthelf in ungeahnter Erregung sehen. Das war, als Herr Lindt ihr mit sehr warmen und anerkennenden Worten den doppelten Gehalt einhändigte. Mit einer heftigen Bewegung schob sie den geöffneten Umschlag mit dem Gelde weit von sich.

»Sie können finden, daß ich nichts tauge, Herr Lindt, und die Damen können meine Entfernung wünschen, – gut, ich werde gehen. Daß Sie mir aber dafür ein Almosen geben wollen, das ist eine Beleidigung, die ich nicht verdient habe.«

»Wie töricht!« sagte Frau Lindt, als die Gekränkte draußen war. »Ich hatte geglaubt, sie könne es brauchen für ihre Mutter.«

Eva aber empfand zum erstenmal, daß hinter der ledernen Person doch eine gewisse Würde, beinahe etwas Vornehmes, stecke, aber trotzdem war sie doch recht froh, als Fräulein Gotthelf fort war. Ein kleines Andenken, etwa die Photographie vom Hause oder ihre eigene, die Eva in einer raschen Aufwallung ihr noch gerne gegeben hätte, behielt sie im letzten Augenblick doch lieber in der Tasche. Das Abschiedswort: »Gott möge es Ihnen immer gut gehen lassen, Fräulein Eva!« klang gar so hölzern, und wer weiß, die Fortgehende hätte die Gabe am Ende auch zurückgewiesen.

»Du siehst, Max, daß Bobinha gar nicht unter des Fräulein Gotthelfs Entfernung leidet, was du so befürchtet hast,« sagte Frau Lindt etwa ein halbes Jahr später. »Nicht ein einziges Mal hat sie ein Bedauern geäußert, und in der Schule geht es ja recht nett voran, wie ihr Lehrer sich neulich äußerte. Fräulein Cécilie sagte mir, sie habe sich nun auch schon ganz gut darein gefunden, ihre Aufgaben allein zu machen. Dieses ewige Helfen von Fräulein Gotthelf taugte gewiß nichts. Es ist gut, wenn Kinder selbständig werden, besonders in einem Lande wie Deutschland ... Und daß Fräulein Cécile mehr Zeit hat, sich mir zu widmen, ist mir lieb. Ihre Stimme ist angenehm beim Vorlesen, und sie besitzt eine vorzügliche französische Aussprache.«

»Meinst du nicht, Anni stotterte wieder mehr, seit keine Übungen mit ihr gemacht werden?« fragte Herr Lindt besorgt, aber Frau Juanita fand es nicht.

»Ich bemerke es nicht, und Fräulein Cécile meint, es sei in solchen Fällen ganz gut, eine fremde Sprache zu sprechen. Außerdem soll Anni sich nur allein weiter üben, dazu ist sie jetzt alt genug!«

Anni hatte nie ausgesprochen, was sie bei Fräulein Gotthelfs Entfernung empfand; wem hätte sie das auch sagen sollen? Und so sehr traurig war sie anfangs auch nicht gewesen. Fräulein Gotthelfs Art war wirklich ein bißchen trocken und die von Fräulein Cécile frisch und unterhaltend. Nur großes Mitleid hatte sie mit ihrer alten Lehrerin gehabt, die vorerst in ein Heim mußte, bis sie wieder eine Stelle fand. Nach und nach merkte aber das Kind, daß der Wechsel nicht zu seinem Vorteil gewesen. Bei der alten, festgefügten Tageseinteilung fühlte man sich so geborgen. Jetzt gab es wohl die festgesetzten Schulstunden, aber dann sollte Anni selber über sich bestimmen, und das war oft recht schwer. Ihre Aufgaben wollte sie redlich allein machen, aber es gab dabei doch viel zu fragen, und Fräulein Cécile sagte, sie verstehe das Deutsche nicht, aber Anni fand bald, daß die Französin auch die Aufgaben selber nicht verstand. Und Eva hatte ja nie und nimmer Zeit für die Schwester. Wie manchen Abend saß Anni allein in ihrem Zimmer und dachte traurig daran, wie gut es war, als Fräulein Gotthelf bestimmt sagte: »So, jetzt wird gelesen! – So, jetzt wird zu Bett gegangen!«

Wenn die Eltern mit Eva in Gesellschaft gingen, was fast alle Abend der Fall war, so durfte Fräulein Cécile den Theaterplatz benützen, was sie schrecklich gern tat. Öfter wurde Anni der Einfachheit halber mitgenommen, aber sie verstand die Stücke für Erwachsene nicht. Oder sie aß im Kinderzimmer mit der Kleinen und der Wartfrau und spielte mit der kleinen Schwester, bis diese zu Bett ging. Nachher aber, in ihrem eigenen Zimmer, fühlte sich Anni oft sehr einsam. Sie las Geschichten oder was ihr gerade unter die Hand kam. Das lange Lesen nach dem Aufgabenmachen verursachte ihr aber leicht Kopfweh.

Da riet Kathi, die manchmal aus Mitleid ein bißchen hereinkam, kleine Sachen für arme Kinder zu nähen.

»Daneben kann man so gut sein Auswendiggelerntes wiederholen, Fräulein Annichen, und wenn ich darf, komm' ich nachher wieder und überhör's.«

Anni dachte an das, was Fräulein Gotthelf über die Lieder und Sprüche gesagt hatte, und legte Gesang- und Spruchbuch neben sich hin. Sie stichelte und lernte, säumte Tücher und Röckchen, las dazwischen ein wenig und ging meist bald zu Bett. Was sie aber nie mehr vornahm, das waren die Sprechübungen gegen das Stottern. So was konnte man nicht allein, das hatte sie bald aufgegeben, da mußte jemand einen anleiten und mittun. Und doch wäre gerade dies das Nötigste gewesen. Seit Anni in der Schule unter andern war, empfand sie tief den Mangel an ihrer Sprache. Wenn sie sich recht Mühe gab, gerade dann war's vor lauter Aufregung gar nichts, und sehr oft mußten die andern Kinder lachen. Sie taten's nicht aus Unart, aber es hörte sich eben so komisch an, wie Anni sprach. Da redete diese auch in den Pausen eben nur das Allernötigste, und die Mitschülerinnen fanden sie wohl ganz gefällig und lieb, aber eigentlich doch recht langweilig.

Und langweilig, uninteressant, das empfand das Kind mit Weh im Herzen nun immer mehr, war es auch für Schwester und Mutter, und doch liebte Anni hauptsächlich letztere mit der ganzen Inbrunst ihres tiefen Gemütes. Je seltener die Stunden waren, wo Anni unten sein, neben dem Liegesofa sitzen oder irgend etwas der Mama tun durfte, desto glühender genoß sie diese. Nur allein die schöne Mama ansehen zu dürfen, war ihr ein Genuß, und dann, besonders wenn sie einmal allein blieben, erwies diese ihr ja auch nur Liebes und Gutes, fragte mit ihrer weichen Stimme sogar nach Schule und Freizeit, und sie mahnte auch manchmal, daß ein Kind gut und fromm sein müsse. Fast immer schenkte sie dann eine hübsche Kleinigkeit, ordnete an, daß man Kuchen und Orangen hinaufbringe, und küßte Anni zärtlich beim Fortgehen.

»Bobinha, mein Dummerchen!« klang Anni aus dem Munde der Mama wie Musik.

Und trotzdem wachte nach und nach in des Kindes Herzen die Erkenntnis auf, daß irgendwo etwas im elterlichen Hause anders sei als in den übrigen Familien, in die sie dann und wann einen Einblick bekam. Wenn es in der Schule hieß: »Wie freue ich mich, für Sonntag hat Vater versprochen, mit uns Glocke und Hammer zu spielen!« oder: »Wir sitzen abends immer alle zusammen um den Tisch und lesen abwechselnd vor,« oder: »Mutter hat Tag und Nacht an meinem Bett gesessen, als ich krank war, – das war fein!« da kam über Anni immer eine Art Heimweh. Wie herrlich mußte solch ein Zusammenleben sein! Freilich arbeitete Vater meist bis in die Nacht, und solch ein richtiges Wohnzimmer mit einem runden Tisch und Stühlen herum gab es gar nicht im Hause. Und wenn Anni einmal unwohl war und im Bett liegen mußte, sorgten Kathi und die Kinderfrau ja sehr gut für sie, auch kam die Mama kürzlich sogar zweimal zu ihr herauf, als Anni erkältet war und der Arzt meinte, es könne Lungenentzündung geben. Aber zu ihr hingesetzt hatte sie sich noch nie längere Zeit, dazu fehlte ihr wohl die Zeit.

Eine große Freude hatte Anni seit kurzem, daß sie regelmäßig einmal in der Woche zu Waldernbergs durfte. Nach der Schule brachte sie Fräulein Cécile hin, und oft wurde sie erst um neun Uhr im Wagen abgeholt. – Freilich war Ruth drei Jahre älter als sie und Fritz eines, aber die Gräfin und ihre Kinder hatten eine große Vorliebe für Anni, und dabei erkannte sie die Einsamkeit des jungen Kindes.

»Bleib du nur auch noch beim Abendbrot, wenn deine Mutter es erlaubt,« hatte die Gräfin im Winter vorgeschlagen, und Anni war selig darüber. Nach der Schule wurde meist zuerst ein Spaziergang gemacht, – die Gräfin erwartete die Kinder schon unten am Haus. Das waren richtige Gänge, in scharfem Tempo, so daß man ganz rote Backen bekam, nicht wie beim langweiligen Gehen mit Fräulein Cécile, die an jedem Laden stehen blieb oder einkaufte. Dann kam die Teestunde draußen auf der Veranda – oder, wenn es kalt war, am Kamin, wobei der Kessel summte, die Kinder trotz ihrer langen Beine noch auf kleinen Stühlen saßen oder am Boden auf dem Teppich kauerten, und wo ein jedes das erzählte, was es heute erlebt hatte. Meist war die Lampe noch nicht angezündet, und so frei und leicht konnte Anni nirgends sprechen wie hier. Wußte sie doch, daß die Gräfin sich für alles interessierte, daß sie nie ungeduldig wurde und auch nie lachte, wenn Anni nicht gleich die Worte fand.

Als Gräfin Waldernberg von Annis Nähversuchen daheim vernahm, schlug sie vor, daß alle zusammen an einem Nachmittage für arme Kinder arbeiten wollten. So war schon manches Röckchen, Hemd und Höslein entstanden, und Anni hatte auch schon zu den armen Leuten mitgehen und ihnen das Genähte selber überbringen dürfen.

»Ihr sollt nicht nur wissen, sondern auch sehen, wie schwer manche durchs Leben gehen müssen,« sagte die Gräfin.

»Wir geben jährlich die größten Summen für Vereine. Wozu sich das Elend anschauen und sich ansteckende Krankheiten holen? Wir ändern die Armut doch nicht!« sagte Frau Lindt, als Anni das erste Mal von einem solchen Gange entsetzt und tief ergriffen erzählte.

Eva fühlte sich anfangs sehr gekränkt, daß sie selber fast nie mehr zu Waldernbergs eingeladen wurde. In einer gräflichen Familie zu verkehren, dünkte ihr sehr wichtig. Aber mehr und mehr fand sie, daß es doch dort sehr kindisch und langweilig zugehe, und als sie hörte, daß sehr oft zum Nachtessen auch diese Lehrerstochter, die Klara, eingeladen werde, die seit einiger Zeit Kinderfräulein in einem der Waldernbergschen Familie verwandten Hause war, da meinte Eva hochmütig: »Ich danke dafür, in gleicher Weise wie ein Kinderfräulein behandelt zu werden!«

Über so etwas konnte das sonst meist stille Dummerchen sehr heftig werden.

»K... Klara ist s... so lieb, und d... du bist es g... gar nicht!«

Eva aber antwortete kühl: »Ich will es auch nicht sein, und ich mag nicht, daß eine solche Person mich unter Umständen vor meinen Freundinnen kompromittiert.«

Dieses Wort verstand Anni wieder nicht, aber daß es nichts Liebreiches bedeute, das empfand sie.


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