Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Indes durchschritt Goswyn in einer unbeschreiblichen Aufregung die lange Zimmerreihe, die das Boudoir von der Treppe trennte. Jetzt befand er sich in dem Saal, in dem sie damals als Heideblume zum erstenmal alle Augen auf sich gelenkt hatte. Welcher Erfolg damals! Man erinnerte sich keines jungen Mädchens, das so glänzend in der Gesellschaft debütiert hätte – und jetzt ... ihr Name im Munde der Leute... und... sie beinahe im Sterben! Es war nicht zum Ausdenken traurig. Alles drehte sich um ihn herum. Sein Mund war trocken; auf der Treppe mußte er, was ihm im Leben noch nicht widerfahren war, seine Hand auf das Geländer stützen, weil ihm schwindelte. Wie hold ihr das Leben gelächelt hatte ... und jetzt – alles in Trümmern! Er zweifelte nicht einen Augenblick an ihrer Reinheit; das aber hinderte nicht, daß Gänse wie die Geroldstein und Schlangen wie Dorothee über sie zischen durften, ohne daß er eigentlich berechtigt gewesen wäre, es ihnen übelzunehmen. Ach, was lag denn schließlich an der dummen Rederei! Mädchen wie Erika genießen eines solchen sittlichen Kredits, daß sie nicht wegen einer von giftigen Klatschbasen kaum halb erratenen Torheit den Bankrott ansagen müßten. Er kannte die Welt gut genug, um zu wissen, daß es einfach aus der Mode kommen würde, sie anzugreifen, sobald ein paar Menschen von Bedeutung für sie bürgten. Das war Nebensache; aber ihr Gesundheitszustand! – Warum brachte sie die alte Lenzdorff nicht aus dieser verpesteten venezianischen Sommerluft heraus? Dort konnte sie ja nicht gesund werden. Hatte die alte Gräfin denn vollständig den Kopf verloren? Sie war ja doch sonst eine kluge Frau. Klug? – Er lächelte bitter vor sich hin. Gescheit, geistreich, das war sie gewesen, aber klug ...! Sie hatte ihr Leben damit verbracht, ihren glänzenden Verstand zum Fenster hinauszuwerfen, ohne sich auch nur im mindesten darum zu kümmern, ob sie jemand damit totschlug oder nicht. Und wenn sie Erika nicht ganz totgeschlagen hatte, so war das nicht ihr Verdienst.

Und wer sagte ihm denn, daß sie Erika nicht totgeschlagen hatte?

Immer hastiger schritt er die sonnengedörrte Straße entlang. Ein schwarzer Nebel wälzte sich ihm vor den Augen. Die Luft war drückend, ringsherum ein Geruch von Staub und verdorrtem Sommerlaub, und durch die dumpfe, trockene Schwüle tönte aus weit offenen Fenstern das wahnsinnige Geklimper eines den Sommerprüfungen entgegenübenden Klavierinstituts.

»Wie hold ihr das Leben gelächelt hatte! Und nun – ihr Name im Munde der Leute und sie fast sterbend!«

Ihr liebes Bild tauchte in seiner Seele auf. Er sah sie in den Salons seiner Tante von Bewunderern umschwärmt, er sah sie, wie sie ihren Verehrern davongelaufen war und in einem einsamen Zimmer vor Verzweiflung schluchzte, weil sie sich plötzlich ihrer in Elend und Schmerz gestorbenen Mutter erinnert hatte, der sie nichts Liebes mehr tun konnte. Er sah sie an einem leuchtenden Märztag im Tiergarten, wie sie so frei und fröhlich einherschritt und den Kopf sehr hoch trug, während alle Leute ihr nachblickten; und plötzlich beugte sie den stolzen Kopf, um einen armseligen kleinen Krüppel zu küssen, vor dem alle anderen schauderten. Die quälende Feinfühligkeit, der gefährliche Barmherzigkeitsdrang ihrer Natur wurden ihm gegenwärtig. Das war ja alles wunderschön, das hätte man pflegen, aber man hätte sie davor behüten sollen, daß sie sich mit ihren edelsten Regungen etwas zuleide tat.

Wenn die Äste eines jungen Baumes sich, überschwer beladen von Früchten, zur Erde senken, so stützt man die Äste, oder sie brechen, und die Früchte gehen ungereift zugrunde, und der ganze Baum stirbt ab.

Niemand hatte Erika gestützt. Er fühlte einen wahren Haß gegen die Großmutter, die das alles auf dem Gewissen hatte. Da mit einemmal zuckte etwas in ihm auf. Was hatte er denn immer nur die Schuld in der Großmutter zu suchen? Konnte er sich nicht selbst beim Kopf nehmen; konnte er es verantworten, daß er sich diese ganzen Jahre lang nicht um sie bekümmert, daß er sie ruhig ihrem Schicksal preisgegeben hatte aus erbärmlichem, kleinlichem Trotz? Er nannte es jetzt nicht einmal mehr Stolz. Er war in einer Stimmung, in der es ihm eine Erleichterung bot, sich recht herunterzuschimpfen.

»Wenn Sie mir diesen Herbst auch nur ein gutes Wort gegeben hätten, so wäre ich jetzt Ihre Frau,« stand in ihrem Brief.

Er grub die Zähne in die Lippen. Mein Gott! Das war vorüber, ihr armes wundes Herz gehörte einem Manne, für den sie bereit gewesen war, das schrecklichste Martyrium zu erdulden, das ein Mädchen wie sie auf sich nehmen kann. Sein Glück hatte er verscherzt. Damit war's vorbei; aber wenigstens konnte er versuchen, ihr noch etwas zu nützen.

 

Es ist wieder in Venedig, Ende Juni, Peter und Paul.

Vom Frühling ist längst nichts mehr übrig. Der Garten des Britannia hat sich in eine sonnverbrannte Wüste verwandelt, aus der die Rosenbäumchen blütenlos und mit versengten Blättern herausstarren. Nur die Monatsrosen blühen noch, entfalten jeden Morgen ihr kurzes Leben und streuen jeden Abend ihre Blütenblätter über den Sand. Aus dem hellgrauen Lagunenwasser steigt ein abscheulicher Dunst, alles sieht elend und erschlafft aus, die Vegetation wie die Menschen. Die Hotels sind leer, eine Typhusepidemie verheert die Stadt.

Und in dieser Pestluft liegt Erika, elend hinsiechend, matt, zerschmettert, das erbarmungswürdigste Geschöpf, das je sein schönes, vielversprechendes Leben zugrunde gerichtet hat.

Die eigentliche Krankheit ist vorüber; seit einigen Tagen hat der Arzt ihr nicht nur gestattet, sondern dringend geraten, das Bett zu verlassen. Jeden Vormittag gegen elf kleiden die Großmutter und Marianne sie an – wie behutsam und zärtlich! Dann schleicht sie ein paarmal, schwer auf den Arm der Großmutter gestützt, durch ihr Zimmer. Nach dem dritten Male hält sie sich schwankend an einem Möbel fest, sieht die Großmutter mit einem rührend hilflosen Blick an – sie kann nicht weiter. Gewöhnlich streckt sie sich dann sofort auf ihr Ruhebett aus und dreht den Kopf gegen die Wand. Dann hört die Großmutter plötzlich einen leisen, wimmernden, halb erstickten Laut – Erika weint.

So bringt sie ihre Tage hin; anstatt sich zu kräftigen, wird sie von einem Tage zum anderen schwächer.

Und so mutlos und kraftlos liegt sie auch heute auf ihrer Chaiselongue, von Kissen aufgestützt, von den weißen Falten ihres langen Morgenkleides umflossen. Es ist gegen sechs Uhr. Die große Tageshitze hat sich etwas abgekühlt, aber die Luft ist dumpf und schwer, und der graue Schirokkodunst liegt über allem.

»Hast du's bequem, mein Herzchen? Soll ich dir nicht noch ein Kissen bringen?« fragt die Großmutter. Die alte Frau ist nicht zu erkennen. Ihr stolzer Kopf ist gebeugt. Ängstlich und demütig bedient sie das junge Mädchen mit sich nie schonender Unermüdlichkeit. Erika ist ihr dankbar, und wie dankbar! Aber sie schöpft weder Trost noch Kraft aus diesen Liebkosungen; im Gegenteil trägt die kleinmütige Zärtlichkeit der alten Frau noch dazu bei, sie gänzlich zu erschlaffen.

»Nein, Großmütterchen, ich liege sehr gut,« haucht sie. Als ob ihr ein Kissen mehr oder weniger Erleichterung verschaffen könnte!

»Soll ich dir etwas vorlesen, mein Kind?«

»Ich bitte, Großmutter.« Aber als die Großmutter zu lesen anfängt, hört Erika nicht zu; die Großmutter läßt den Band, aus dem sie vorgelesen hat, in den Schoß sinken. Erika merkt es nicht.

Nach einem Weilchen sagt die Großmutter: »Erika! In der Bellevuestraße steht alles für uns bereit, der Arzt sagt selbst, daß die Reise mit gewissen Vorsichtsmaßregeln dir nicht schlecht täte, und je früher man dich aus dieser ungesunden Luft herausbrächte, desto besser. Entschließ dich endlich, mein Liebling. Du hast mehr Komfort zu Hause, und ich möchte gern unseren alten Arzt konsultieren.«

Erika hat am ganzen Körper angefangen zu zittern, ihre schmalen Wangen färben sich fiebrig rot. »Ich soll nach Berlin zurück? ... O Großmutter!« und sie dreht ihr Gesicht gegen die Wand.

»Kind, Erika, du darfst dir das nicht dermaßen zu Herzen nehmen; es ist ja kein Grund dazu!« Die Großmutter beugt sich über das kranke Mädchen und legt ihm die Hand auf die Schulter. Was für eine arme, abgemagerte Schulter das ist! Die alte Frau hat Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. »Erika, mein Kind, mein Liebling! Du darfst dich nicht so quälen, dich nicht willkürlich zugrunde richten – tun, als ob du nicht mehr das Recht hättest, den Kopf hoch zu halten. Die wenigsten Frauen sind ja wert, dir die Schuhriemen zu lösen trotz all deiner beabsichtigten Torheiten, von denen, Gott sei Dank, niemand etwas weiß.«

»Niemand?« wiederholt Erika unsäglich bitter, die Hände vor dem Gesicht, den Kopf gegen die Wand gedreht. Endlich, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, murmelt sie: »Großmutter! Hat er dir nie auf – auf deinen Brief geantwortet?«

Einen Augenblick zögert die Großmutter, dann sagt sie sehr leise: »Nein.«

Der abgemagerte Körper Erikas zuckt zusammen wie unter einem Peitschenhieb, ein kurzer, schwacher Wehlaut entfährt ihr.

Die Großmutter beugt sich über sie. »Erika, sei doch nicht so unvernünftig! Erika, quäl' dich nicht!«

Erika bleibt unbeweglich. Nach einer Weile murmelt sie nur: »Du bist sehr gut, Großmutter, engelsgut, und ich bin dir sehr, sehr dankbar; aber – nur ein Weilchen laß mich allein!«

Die Großmutter seufzt tief, streicht ein letztes Mal die Falten um die Glieder des armen jungen Geschöpfes zurecht und verläßt dann leise das Zimmer.

Sorgenvoll geht sie in dem anstoßenden Gemach auf und ab, die Hände vor sich gefaltet. Nach einem Weilchen sieht sie zu Erika hinein; sie hat sich beruhigt, sie schläft.

Es ist immer so: erst quält sie sich, dann schläft sie aus Mattigkeit bei Tage ein, und in der Nacht schläft sie gar nicht.

Leise zieht sich die alte Frau in das Nebenzimmer zurück, da öffnet Lüdecke die Tür; sie macht ihm ein Zeichen, sich still zu verhalten. Sein ausdrucksvolles Grinsen meldet ihr sofort, daß sich etwas Besonderes ereignet hat.

»Die Komtesse schläft,« wirft sie ihm zu.

»Exzellenz – Herr von Sydow!« flüstert er.

»Herr von Sydow?« – Sie traut ihren Ohren kaum.

»Ja, er läßt bitten, ob er zu Exzellenz heraufkommen darf oder ob ...«

»Führen Sie ihn herauf – sofort, aber leise!«

Um weniges später tritt er ein. »Mein liebes Kind, Sie hier?« ruft sie herzlich, indem sie ihm ein paar Schritte entgegengeht.

Er küßt ihr die Hand; dann, ohne irgendeine einleitende Begrüßungsformel, sagt er: »Ich hab's erst vor drei Tagen erfahren, daß sie krank ist. Wie geht es ihr?«

»Der Erika?«

»Wem denn sonst?«

»Die Krankheit ist vorüber, aber die Gesundheit will nicht kommen. Es ist ja kaum mehr etwas übrig von ihr! Sie werden sie nicht erkennen. Ach, ein Jammer ist's!«

Sie sieht ihn ängstlich an, erwartet etwas, das nicht kommt. Wird er ihr denn heute wirklich keine Vorwürfe machen? Es scheint nicht.

»Was sagt der Arzt?« fragt er hastig.

»Der Arzt ist sehr unruhig; zu sagen ist nicht viel: gänzliche Abspannung des Nervensystems, Mangel an Lebenstätigkeit, Mangel an Lebenslust ...«

»Mangel an Lebenslust? ... Unsinn! Man muß ihr das Leben wieder wünschenswert machen!« ruft er ungestüm.

Die alte Frau richtet die Augen voll auf ihn.

Mit einemmal wird er bis an die Haarwurzeln rot. Noch etwas näher an die Gräfin herantretend, legt er ihr die Hand auf den Arm und murmelt: »Liebt sie ihn noch immer? Ist's – ist's vielleicht das, was sie umbringt?«

»Das? Was Ihnen einfällt!« entgegnet ihm die Großmutter. »Ich glaube nicht einmal, daß sie ihn je wirklich geliebt hat: das war ja alles nur ein Wahn. Es ist nichts übrig davon, gar nichts. Der Wahn ist vorüber, aber die Demütigung ist geblieben; sie schämt sich tot!«

»Was hat sie sich zu schämen!« ruft Goswyn heftig. »Unedles war ja bei all dem nichts. Sie hatte mir einen Brief geschrieben. Sie wissen ... ich hab ihn noch einmal gelesen, jetzt vor meiner Abreise ... ich sage Ihnen, es ist das Rührendste, Ergreifendste ... ich muß ihn Ihnen zeigen, eh ich ihn verbrenne ... nur sagen sie mir aufrichtig, was hat sie im letzten Moment gerettet?«

Da hört er das leise Aufrauschen eines Frauengewandes; zusammenfahrend sieht er sich um. Im Rahmen der Tür steht eine hohe, schmale Gestalt in langem weißem Morgenkleid, mit nachlässig aufgestecktem Haar.

Was ist denn in dem abgemagerten Gesichtchen, in den großen, traurigen Augen, das ihn plötzlich an das unfertige, verängstigte Kind erinnert, dem er damals auf der Treppe in der Bellevuestraße begegnet ist am Abend von Erikas Ankunft in Berlin?

Er eilt auf sie zu. Sie macht ihm einen Schritt entgegen; ihr schwacher Körper fängt an zu schwanken und sie klammert sich an seinen Arm.

»Goswyn!« murmelt sie, »wollen Sie alles wissen, alles, was mich fast zugrunde gerichtet und was mich gerettet hat?«

»Ja, Erika, alles!« sagt er ernst.

Die Großmutter fährt ihr dazwischen, wohlmeinend und unnötig: »Reg' dich nicht auf, reg' ihn nicht auf – Zu was den ganzen Unsinn wiederkäuen!«

Goswyn aber erwidert der alten Frau fast schroff: »Lassen Sie Erika reden. Wenn eine Wunde heilen soll, muß man vor allem den Stachel daraus entfernen, der drinnen steckt. Lassen Sie mich versuchen, den Stachel herauszuziehen. Lassen Sie mich mit ihr allein.«

Als die Großmutter nach einer halben Stunde in das Zimmer hineinsieht, in das sich die beiden Menschen zurückgezogen haben, liegt Erika auf dem Ruhebett, die Wange an Goswyns Hand geschmiegt. Die Beichte ist vorüber, das Kapitel ihrer Torheiten geschlossen.

»Du warst ja von jeher der unentbehrlichste Mensch auf der ganzen Welt für mich!« sagt sie. Und ganz leise fügt sie hinzu: »Weißt du, wie mir zumut ist?«

»Nun – wie, mein Herz?«

»Als ob ich nach einem langen, ermüdenden Irrweg endlich den Weg gefunden hätte in meine eigentliche Heimat!«

Die Großmutter tritt zurück. In ihren Lieblingslehnstuhl sinkend, atmet sie auf – tief dankbar. Die Dämmerung sinkt. Die Kirchenglocken schwirren. Die alte Frau blickt weit, weit in ihre Vergangenheit zurück: sie sagt sich, daß die Liebe unter Umständen doch etwas Schönes sein kann.

Und wenn sie schön ist ...


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