Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Den langen, altmodischen Schal aus alter schwarzer Chantillyspitze um die rüstigen Schultern, die Cloche anglaise aus feinstem grauem Maisstroh auf dem Kopf, begibt sich Gräfin Lenzdorff in das Zimmer ihrer Enkelin, um die Säumige zu größerer Eile anzutreiben.

»Trödelliese! Machst dich wohl sehr schön – da du noch immer nicht fertig bist!« ruft sie schon hinter der Tür. Als sie jedoch die Tür öffnet, findet sie Erika mit einem nassen Tuch über der Stirn in einem Lehnstuhl.

»Kind, Kind, was ist dir?« ruft besorgt die alte Frau.

»Nichts,« erwidert Erika mit niedergeschlagenen Augen, ohne sie anzusehen; »eine Migräne. Du siehst, ich hatte den besten Willen, aber – es geht nicht, es ist plötzlich gekommen, sehr stark, du mußt ohne mich zu Konstanze. Grüße sie recht herzlich von mir und sage, daß es mir sehr leid tut.«

»Liebes Kind, es fällt mir gar nicht ein, unter Leute zu gehen, wenn du unwohl bist,« ruft die alte Frau aus, indem sie zugleich den rechten Handschuh von ihrer Hand herunterzieht. »Das kann kein Mensch von mir verlangen!«

Erika fängt an, am ganzen Leibe zu zittern. »Aber Großmutter, es ist ja kein Unwohlsein, nur eine Migräne. Dabei kannst du mir nichts nützen, und du weißt es, daß ich's nicht ertragen kann, eine Störung zu verursachen,« ruft Erika aus. »Du kannst es ja Konstanze Mühlberg unmöglich antun, nicht zu kommen,« fährt sie fort. »Sie zählt auf dich; du weißt, daß sie deine Stütze braucht.«

»Ja, das ist wahr!« gesteht die Gräfin.

Im Laufe dieses Zwiegesprächs hat sie bemerkt, daß Erikas Augen von hastig weggewischten Tränen glänzen. Der Verdacht, der ihr da unten in dem Gärtchen plötzlich gekommen, verstärkt sich. Vielleicht ist es besser, sie gönnt dem armen Mädchen ein wenig Ruhe, sagt sie sich.

Indem meldet Marianne, Gräfin Mühlberg sei unten in ihrer Gondel, um die Damen abzuholen.

»Geh, Großmütterchen,« haucht Erika, »geh!«

»Nun ja, ich gehe – aber leg' dich doch zu Bett.« Sie führt Erika selbst an ihr Bett. »Wie du zitterst; du hältst dich ja kaum auf den Füßen!« Dann zieht sie die Vorhänge vor die Fenster, streichelt Erika die Wange und küßt sie auf die Stirn. Sie steht schon an der Tür, da hört sie's leise hinter sich: »Großmutter!«

Sie wendet sich um. Erika hat sich halb aufgerichtet und blickt ihr nach.

»Was gibt's, Kind?«

»Nichts – nur – es ist mir gerade eingefallen, daß ich in der letzten Zeit oft gegen dich war, wie ich's nicht hätte sein sollen. Verzeih mir, Großmutter!«

Die alte Frau schließt das zitternde Mädchen in ihre Arme. »Dumme Liese!« ruft sie, »als ob das überhaupt in Betracht käme. Leg' dich ruhig schlafen, ruh' dich aus, damit ich dich mit hellen Augen wiederfinde. Wo ist mein Taschentuch? Ach, hier! Da hast du den Brief Goswyns; wenn du etwas wohler bist, kannst du ihn lesen. Du brauchst dich gar nicht zu fürchten, daß ich dir etwas zureden werde, bewahre! Die Zeiten sind vorbei! Aber ich denke, der Brief dürfte dich freuen; es ist doch etwas, einem durch und durch anständigen Menschen ein so tiefes und warmes Gefühl einzuflößen; und dann wirst du auch einsehen, daß du ihm manchmal unrecht getan hast. Adieu, mein Liebling, adieu!«

Ein letztes Mal hat Erika die Hand der alten Frau an ihre Lippen gezogen – jetzt ist die Gräfin fort. Erika ist allein. Sie hat die Tür ihres Zimmers zugeschlossen und sitzt auf ihrem Bett. Der Brief Goswyns liegt aufgeschlagen vor ihr auf ihren Knien, und die Tränen stürzen ihr aus den Augen, rascher, immer rascher auf den vor ihr aufgeschlagenen Brief herab.

Der Brief lautet:

Meine hochverehrte Freundin!

Sind Sie Anfang nächster Woche noch in Venedig und haben Sie nichts dagegen, daß ich mich dann dort einfinde? Ich will durchaus nicht von Ihnen wissen, wie meine Chancen stehen, ich komme in jedem Fall – wenn nämlich nicht jede Möglichkeit, endlich das Ziel meiner Wünsche zu erreichen, ausgeschlossen, das heißt, wenn die Hand Gräfin Erikas nicht bereits vergeben ist. So, das wäre deutlich, nicht wahr?

Haben Sie es geahnt, oder haben Sie es nicht geahnt, daß in all diesen Jahren, seitdem ich meinen ersten Korb von Gräfin Erika nach Hause getragen, kein Tag vergangen ist, an dem ich ihrer nicht gedacht hätte? Mein Benehmen muß Ihnen Rätsel aufgegeben haben, vielleicht haben Sie mich lächerlicher Empfindlichkeit geziehen. Und lächerliche Empfindlichkeit war auch der eigentliche Grund meiner, wie ich jetzt einsehe, durchaus törichten, nicht zu rechtfertigenden Handlungsweise – aber nicht etwa die Empfindlichkeit eines abgewiesenen Freiers. Gott bewahre!

Ich hätte Gräfin Erika den Korb, den sie mir gegeben, nie nachgetragen, nein, nie, selbst wenn sie mir ihn nicht in einer so liebenswürdigen Art erteilt hätte, daß man an und für sich vor ihr hätte niederknien und sie anbeten mögen dafür. Meine Empfindlichkeit hatte andere Ursachen. Jemand, den ich nicht näher bezeichnen will, hatte darauf Anspielungen gemacht, daß ich Gräfin Erikas Geld nachjage. Von da an war es mit meiner Unbefangenheit vorbei. Ich konnte mich nicht mehr entschließen, ihr einen Schritt entgegenzutun, weil ich, platt ausgedrückt, mir dessen bewußt geworden, daß ich keine genügende Partie für sie war.

Sie finden das kleinlich. Ich finde mich selber kleinlich – so kleinlich, daß ich mir erbärmlich vorkomme und mich jetzt, wo das Hindernis weggeräumt ist, einfach frage: Bin ich etwa des herrlichen und ungewöhnlichen Mädchens würdiger, seit ich um ein paar Mark jährlich mehr zu verzehren habe?

Mir ist unheimlich zumute, so, als ob ich für meinen läppischen Eigensinn gestraft werden sollte. Es war ja vielleicht nie die Möglichkeit, ihr Herz zu gewinnen, aber eines Versuchs war's wert, und sie hat das Recht, es mir zu verübeln, daß ich in diesen langen Jahren den Versuch nicht gemacht habe. Wenn Ihnen mein langes Trotzen unbegreiflich gewesen sein mag, so werden Sie es hingegen sehr wohl verstehen, warum ich nicht früher nach dem Gräßlichen, was mich betroffen, in dieser Angelegenheit an Sie schrieb.

Es war zu schrecklich!

Neben meiner aufrichtigen Trauer um den Verstorbenen quält mich noch die Reue, meinen Bruder nicht immer nach seinem wirklichen Wert, den er in den letzten Augenblicken seines Lebens bewiesen hat, geschätzt zu haben. Das fürchterliche Unglück zu meiner Freude auszubeuten, widerstrebte mir nun vollends. Ich hätte es nicht über mich bringen können, selbst wenn ich nicht in diesen letzten Wochen so völlig zerschmettert gewesen wäre, daß sich gar keine Lebenslust, kein Fünkchen von einem Wunsch mehr in mir regte.

Gestern begegnete ich Frau von Norbin, die kürzlich von ihrer italienischen Reise zurückgekehrt ist. Sie teilte mir mit, daß Prinz Nimbsch sich in auffälliger Weise um Gräfin Erika bewirbt, vorläufig aber von dieser nicht mit großer Aufmunterung verwöhnt wird.

Die Eifersucht weckte mich sofort aus meiner Betäubung. Und nun frage ich Sie noch einmal: darf ich nach Venedig kommen? Einen Urlaub auszuwirken, sollte mir, falls nicht gänzlich unvorhergesehene Umstände eintreffen, nicht schwer sein. Noch einmal wiederhole ich's: ich frage Sie nicht, ob ich Chancen habe, ich weiß, daß ich vorläufig keine haben kann, aber ich frage Sie nur: darf ich kommen?

Ungeduldig Ihrer Antwort harrend, bleibe ich in treuer Verehrung

G. Sydow.

Sie hatte den Brief bis auf das letzte Wort durchgelesen. Immer rascher flossen ihre Tränen. Jetzt warf sie sich über das Bett und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Etwas Fürchterliches rüttelte ihr am Herzen, an jedem Nerv; alles in ihr, alles um sie herum schrie: Kehre um, kehre um! – Aber es war zu spät; sie wollte nicht mehr umkehren. Der Wahn, daß sie im Begriff stand, etwas Erhabenes, Großartiges zu tun, der Wahn, der sie ganz erfüllte, ließ es nicht zu.

Es dauerte lange, ehe sie sich aufraffte, ein leises Klopfen an der Tür weckte sie. Marianne war's, die von Gräfin Lenzdorff die Weisung erhalten hatte, nach der Patientin zu sehen.

Erika erhob sich und trat an die Tür. »Ich brauche nichts, Marianne,« rief sie »mir ist besser!«

»Befehlen Komtesse nicht eine Tasse Tee?«

»Nein! Vorläufig nicht – bis später!«

Marianne entfernte sich. Wieder drehte Erika den Schlüssel um. Sie sah auf die Uhr. Fünf! Es war Zeit, ihre letzte Vorbereitung zu treffen.

Sie suchte ihren Schmuck zusammen, ungewöhnlich schönen Schmuck für ein Mädchen; sie hatte eine Vorliebe dafür gehegt, und ihre Großmutter hatte ihr nie etwas abzuschlagen vermocht. Ohne auch nur einen sehnsüchtig rückblickenden Gedanken an das Geschmeide zu hängen, ließ sie die Perlen – fünf Schnüre wundervoller gleicher, erbsengroßer milchweißer Perlen mit rosa Schimmer – durch ihre Finger gleiten und schätzte beiläufig ihren Wert ab. Sie legte dazu, was allenfalls noch außerdem einen hohen Preis hatte, und wickelte alles in ein Paket zusammen, das sie zuschnürte, und auf das sie schrieb: Für die Armen. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann ihren letzten Willen aufzusetzen. Sie benahm sich wie jemand, der sich zu einem Selbstmord vorbereitet. Nicht einen ihrer zahlreichen bescheidenen Schützlinge vergaß sie. Alle legte sie ihrer Großmutter ans Herz.

Nachdem sie in dieser Richtung die nötigen oder ihr zum mindesten als nötig erscheinenden Bestimmungen getroffen, sagte sie sich, daß sie jetzt einen Abschiedsbrief an ihre Großmutter schreiben müsse.

Das war gräßlich.

Zuerst konnte sie keinen Anfang, dann kein Ende finden zu dem Briefe. Zwei, drei Bogen hatte sie bereits vollgeschrieben und immer kam noch etwas Zärtlicheres dazu. Jetzt erst wurde sie sich klar darüber, was die Großmutter in diesen letzten Jahren für sie gewesen war. Sie erinnerte sich dessen nicht mehr, wie oft die Weltauffassung der alten Philosophin sie verdrossen, wie oft sie sich bis zur Unart dagegen aufgelehnt.

Sie schrieb und schrieb. Endlich schloß sie damit: »Alle anderen werden mit Fingern auf mich deuten – du wirst meine Handlungsweise beklagen, aber schlecht wirst du sie nicht finden, nur töricht. Arme liebe Großmutter! Und unglücklich wirst du sein über das Leid, das ich willkürlich auf mich genommen habe. Es ist mir schrecklich, daß ich die Lebensaufgabe, die so deutlich vor mir liegt, nicht erfüllen kann, ohne dir Schmerz zu bereiten. Aber ich darf nicht anders! Eines tröstet mich. Ich weiß, wie großdenkend du bist; du wirst zu wählen haben zwischen der Welt und mir, du wirst die Kraft haben, dich von der Welt zu trennen und dich mir zuzuwenden, und dann wird mir nichts mehr fehlen in meinem neuen Leben, mögen mich die Menschen lästern, wie sie wollen. Er ist meines Opfers wert. Er ist ein herrlicher Mensch, trotz der vielen Verirrungen, deren er sich schuldig gemacht hat.« –

Dreimal hatte Erika den Brief geschlossen, immer wieder öffnete sie ihn, um noch etwas hinzuzufügen.

Endlich mußte sie ihn doch als fertig gelten lassen. Sie steckte ihre genau ausgeführten Verfügungen über ihre zurückgebliebenen Habseligkeiten hinein und siegelte ihn zu. Sie fragte sich, wo sie den Brief niederlegen solle, damit ihn die Großmutter sofort finden möge. Erst wollte sie ihn in das Zimmer der alten Dame tragen, dann sagte sie sich: »Nein, wenn die Großmutter zurückkommt, tritt sie zuerst an mein Bett, um nach mir zu sehen.« Und wieder stürzten ihr die Tränen aus den Augen. »Arme Großmutter!« Dann küßte sie den Brief lange, zärtlich und legte ihn auf ihr Nachttischchen.

Jetzt fuhr sie sich über die Schläfen. Alles, was geschehen mußte, war geschehen, sie brauchte sich nur anzukleiden und ... Aber eine drängende Unruhe befiel sie. Noch einmal setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb. Es ging diesmal langsamer, die Worte kamen nicht so rasch wie bei dem Brief an die Großmutter – nein, mühsam, beschwerlich kamen sie, ihr war's, als müsse sie jedes einzelne aus ihrem wunden Herzen herausreißen.

»Mein lieber treuer Freund!« fing sie an. »Kommen Sie nicht nach Venedig. Wenn Sie diesen Brief in den Händen halten, bin ich aus der Welt, in der Sie leben, gestrichen. Mir wäre es unerträglich, daß Sie von Fremden erfahren sollten, was ich getan habe, und so schreibe ich Ihnen selbst. Ja, wenn Sie diesen Brief in Händen halten, so werde ich mit allem gebrochen haben, an dem ich sonst hing, und werde mit – einem verheirateten Manne geflohen sein. Wie weh Ihnen zumute sein muß. Während Sie das lesen! Alles in mir schreit vor Schmerz, wenn ich daran denke!

Sie werden es nicht begreifen – »Erika Lenzdorff entflohen mit einem verheirateten Mann!« Es klingt unglaublich, nicht wahr?

Sie wissen, daß ich nie leichtsinnig war und nie verdreht – und so dürfen Sie mir glauben, daß die Gründe, welche mich dazu bestimmt haben, diesen schweren Schritt zu tun, zwingender Natur sind. Es handelt sich darum, die Existenz eines begabten und edlen Menschen zu retten. Sein Seelenleben ist gänzlich zerrüttet, er leidet entsetzlich, und ich habe die Überzeugung gewonnen, daß er zugrunde gehen müßte ohne mich.

Er hoffte eine Scheidung von seiner Frau zu erreichen. Es war nicht möglich. Ohne zu zögern, habe ich mich entschlossen, ihm frei zu folgen. Mitten durch die Qual, die mir das Brechen mit all meinen bisherigen Lebensgewohnheiten bereitet, zieht sich ein Gefühl freudiger Begeisterung.

Es ist groß und schön, leiden zu dürfen für einen ungewöhnlichen, edlen und hochbegabten Menschen – schön, sich sagen zu dürfen, das Schicksal hat mich dazu ausersehen, seiner verdunkelten Seele neues Licht zuzuführen. Was ich für meine Person aufgebe, um meine Mission zu erfüllen, kommt bei mir gar nicht in Betracht – was mich aber zu Boden drückt, ist der Gedanke an das Leid, das ich meiner lieben Großmutter zufüge und Ihnen. Sie wird mir verzeihen, und Sie, mein armer Freund, Sie werden mich vergessen. Ich wollte mir vorlügen, daß das ein Trost ist – aber nein, es ist kein Trost. Von allen Dingen, auf die ich mit meinem alten Leben verzichten muß, ist Ihre Freundschaft dasjenige, von dem ich mich am schwersten trenne.

Goswyn! Um Gottes willen beurteilen Sie mich nicht falsch und hart! Was ich tue, tue ich in der vollsten Überzeugung, das Rechte zu tun. Wenn einmal diese Überzeugung in mir zusammenbricht, dann – Aber so etwas kann ich mir gar nicht ausdenken. Es wäre zu schrecklich!

Eine fürchterliche Anwandlung von Feigheit ist mir gekommen, während ich Ihnen schreibe, Goswyn, aber damit muß ich fertig werden. ... Es ist vorbei. Ich sehe meiner Aufgabe wieder mit der Fassung entgegen, die sie von mir erfordert. – Leben Sie wohl, lieber Freund.

Nur noch eins. Ich sag's Ihnen zum Abschied. Wird's Ihnen süß oder bitter, ein Trost oder ein Schmerz mehr sein in dieser für uns beide schweren Stunde – ich weiß es nicht; aber ich muß es Ihnen sagen, ich spreche zu Ihnen wie eine Sterbende. Wenn Sie in diesem vergangenen Herbst mir nur ein gutes Wort gegeben hätten, so wäre ich jetzt Ihre Frau, und Sie hätten es nicht zu bereuen gehabt! Das ist vorbei. Offenbar hatte das Schicksal mich für etwas anderes ausersehen.

Noch einmal adieu! Leben Sie wohl!

Verzeihen Sie mir das Leid, das ich Ihnen zufüge, und denken Sie manchmal an Ihre arme Freundin

Erika Lenzdorff.«

So, jetzt war sie fertig. Sie streifte ihren Schlafrock ab und kleidete sich zur Reise an. Ein schlichtes dunkles Kleid wählte sie, das einfachste in ihrer ganzen Garderobe – das, in welchem sie sonst ihre Armenbesuche zu machen pflegte.

Sie sah auf die Uhr – sieben! Noch eine halbe Stunde, dann mußte sie fort. Eine plötzliche Schwäche, ein Schwindel überkam sie. Die Unruhe der Selbstmörder vor dem letzten entscheidenden Akt überfiel sie. Sie griff nach dem und jenem, streichelte Sächelchen, die sie liebgehabt. Setzte sich und erhob sich wieder; dann, sehr langsam, schritt sie noch einmal durch die vier Zimmer, die sie mit ihrer Großmutter bewohnt – ein letztes Mal. Eine Uhr schlug. Sie steckte ein bißchen Wäsche in ein Ledertäschchen, setzte einen einfachen Strohhut auf und ging.

Es war halb acht, die Domestiken bei der Kuriertafel beschäftigt. Ihr Gehen fiel niemandem auf, obgleich die Stunde ungewöhnlich war. Wie oft hatte man sie so ausgehen sehen in demselben schlichten dunklen Kleid, ihre Armen zu besuchen!

Eine Strecke ging sie zu Fuß; sie warf den Brief an Goswyn in den ersten Postkasten, den sie fand. Ihr war's, als würfe sie ihr ganzes bisheriges Leben in einen dunklen Schlund, aus dem es nicht mehr zu retten war; dann suchte sie einen Gondelstand. Die Gondel stieß ab mit ihr. Eine offene Gondel war's; sie hatte keine gefunden mit einer Felze, obgleich sie eine gesucht, um sich darin zu verstecken. Sie war sehr müde; den Blick starr vor sich hin gerichtet, lehnte sie sich in die schwarzen Polster.

Der tragische, vernichtende Sinn der Situation war ihr entglitten, sie faßte ihn nicht mehr. Sie wußte nur noch, daß sie eine Reise vor sich hatte. Eine Art Eisenbahnfieber plagte sie. Wenn's nur schon vorüber wäre! – Ssch – Ssch – rauschten die Ruderschläge durch das Wasser, leicht schaukelnd glitt die Gondel über die Wellen, rascher, immer rascher.

Der grelle Tagesglanz war erloschen, mit unvergleichlich poetischer Schönheit schwebte der erste durchsichtige Schleier der Frühlingsdämmerung über Venedig nieder.

Rechts und links ragten aus dem Wasser die alten Paläste, grau, fast schwarz, einige wuchtig ernst, die anderen von fast märchenhaft phantastischer Bauart; und zwischen diesen Palästen überall, wo sich nur eine Handbreit Platz fand, eine Fülle von üppig wuchernder Blütenpracht: Rosen – Rosen – überall Rosen und Jasmin – und über allem der erste Hauch von Welkheit.

Weiter schwebte die Gondel.

Der Kampf in Erika war ausgekämpft, still und blaß saß sie da mit großen, leuchtenden Augen in ein Brausen von feierlichen Kirchenglocken eingehüllt. Sie war stumpf gegen alles, was hinter ihr lag, und fühlte nichts mehr als die Begeisterung einer jungen Heldin, die bereit ist, für eine schöne, heilige Sache in den Tod zu gehen.

Rings um sie der Duft des sterbenden Frühlings, unter ihr das Schluchzen und Schwanken der Wellen.


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