Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Drittes Buch

In Florenz hatten Otto von Sydow und Prinzeß Dorothee einander kennengelernt. Die beiden Brüder hatten eine Reise durch Italien gemacht, gleich nach Ottos Antritt des Majorats. Sie reisten insofern miteinander, als ihr Reiseziel dasselbe war – im übrigen hielt ein jeder sich auf, wo es ihm gefiel, und es dauerte manchmal ziemlich lange, ehe einer sich mit dem anderen zusammenfand. Während Goswyn eine unbequeme Tour durch allerhand kleine interessante oberitalienische Städte machte, hatte sich Otto, der beim Reisen ein gutes Hotel nicht entbehren konnte, direkt von Venedig nach Florenz begeben. Schon seit fünf Tagen befand er sich dort. Er langweilte sich fürchterlich – Goswyn ging ihm ab. Obwohl Otto der ältere von beiden Brüdern war, hatte er von Jugend an die Gewohnheit angenommen, Goswyn für sich denken zu lassen. Die alte Gräfin Lenzdorff behauptete, daß sie ihn als Kind öfters habe fragen gehört: »Goswyn, ist mir kalt? – Goswyn, hab' ich Hunger?«

Eine gewisse Unselbständigkeit war durchs ganze Leben hindurch an ihm haften geblieben. Noch immer pflegte er sich bei jeder Unbequemlichkeit an den jüngeren Bruder zu wenden, sich in jeder unbehaglichen Lebenslage nach ihm zu sehnen, sich auf ihn zu stützen.

Er hatte keine Bekannten in Florenz, die Kost schmeckte ihm nicht, die Weine waren verfälscht, die Betten, in denen vor ihm Hunderte von Menschen geschlafen, ekelten ihn an, die Theater fand er unerquicklich, Opern machten ihm kein Vergnügen, er war geradezu merkwürdig unmusikalisch für einen Deutschen – und im Schauspiel verstand er nichts. Infolgedessen fand er die Abende unerträglich lang; sein Italienisch existierte nicht und sein Französisch war nicht weit her. Da zufällig in seinem Hotel keine Deutschen vorhanden waren, außer solchen, die er sich trotz seines Heimwehs vom Leibe zu halten für angezeigt hielt, so führte er eine sehr einsame Existenz, und da ihm die Kunst geringes Interesse einflößte, so ist es kein Wunder, daß er am fünften Tage seines florentinischen Aufenthaltes »so eine italienische Bildungskur« als die »ärgste Vergnügungsschinderei« bezeichnete, die ein preußischer Landedelmann willkürlich auf sich nehmen kann.

Das Komische für ihn war, daß Goswyn seine italienische Reise so gründlich zu genießen schien. – Er schrieb vergnügte Postkarten aus allerhand kleinen Nestern, von denen Otto den Namen nie gehört, nicht einmal in der Geographiestunde, und zeigte sich mitten aus humoristisch erwähnten Übelständen in bezug auf seine Nachtlager heraus, ganz begeistert von dem »Kunstkrempel« – wie sich Otto ausdrückte.

Schon stand Otto im Begriff, Italiens überdrüssig, nach Hause zu reisen, als die Dinge plötzlich eine ganz besondere Wendung nahmen.

Im Dome war's! Mit entmutigender Langerweile war er in der stimmungsvollen katholischen Kirchendämmerung von einem Monument zum anderen gewandert, als er plötzlich einen Seufzer hörte. Er sah sich um – erblickte ein junges Mädchen in einem großen van-Dyck-Hut und einem mit silbernen Borten besetzten dunklen Tuchkleid, das sich eben in einen Kirchenstuhl niedersetzte und einen gelbbroschierten Roman aufschlug. Alles an der Kleinen, der Hut, das Kleid, ihre eigene fesselnde Erscheinung, machte den Eindruck, daß sie von sehr vornehmer Herkunft sei, aber alles sah gleichermaßen ein wenig herabgekommen aus.

Dabei war sie sehr jung und schien doch durch ihre Verlassenheit nicht im geringsten beeindruckt. – Es dauerte nicht lange, so merkte sie es, daß er sich mit ihr beschäftige, und blickte ihn über ihren Roman hinüber mit ein Paar wunderschönen, grünlichschimmernden Augen spöttisch an.

Er wurde sehr rot, sehr ärgerlich, und wendete sich von ihr ab. Da hörte er durch die dämmerige Stille der großen, an jenem Tage gänzlich verlassenen Kirche ein feines, einschmeichelndes Stimmchen rufen:

»Feistmantelchen!«

Unwillkürlich sah er sich um; das schlanke Mädchen in dem Kirchenstuhl war's, das gerufen hatte.

Er bemerkte, wie ein kurzbeiniges Frauenzimmer mit einem praktischen, grau und schwarz karierten Regenmantel und umgeschnallten Operngucker – ein Wesen, das er schon früher bemerkt, wie es neugierig um die Merkwürdigkeiten des Doms herumschnüffelte, nie im Traum aber in irgendeine Verbindung mit dem anziehenden Mädchen in dem Kirchenstuhl gebracht hätte, jetzt auf dasselbe lossteuerte.

»Feistmantelchen!«

»Prinzeß!«

»Ich bin so hungrig – haben Sie sich denn noch nicht satt gesehen an den dummen alten Scherben?« Und das junge Mädchen gähnte, seufzte und rieb sich die Augen.

»Aber ich bitte Sie, Prinzeß!«

Damit gingen beide Damen auf das Ausgangsportal zu, wo sie plötzlich sehr entmutigt stehenblieben.

Es regnete in Strömen – regnete mit jener eigensinnigen, regelmäßig hintropfenden Eintönigkeit, die kein baldiges Aufhören verspricht.

»Das ist unerträglich!« rief das junge Mädchen mit ihrem einschmeichelnden, jetzt weinerlich klingenden Stimmchen und mit einem leichten Zungenfehler, der sich als etwas ganz Unvergeßliches, Reizendes für immer dem Gedächtnis des täppischen, gutherzigen Sydow einprägte. »Unerträglich! – Wir können doch unsere Unterröcke nicht über den Kopf schlagen wie die Wallfahrerinnen!«

»Meine Damen, wollen Sie mir erlauben, Ihnen eine Droschke zu verschaffen?« Mit diesen Worten trat der junge Preuße an sie heran – und dann, da ihn das junge Mädchen hochmütig und belustigt zugleich vom Kopf bis zu seinen sehr großen Füßen herab anstarrte, setzte er erklärend und sich verneigend hinzu: »von Sydow!«

Die Damen nickten, ohne es für nötig zu erachten, ihm ihre Namen zu nennen, dann sagte die jüngere immer mit ihrer hastigen Artikulation und ihrem entzückenden Zungenfehler: »Sie werden uns sehr verbinden – wenn Sie sich die Mühe nehmen wollen.«

Mühe genug war's in der Tat. Sich der Zudringlichkeit italienischer Droschkenkutscher zu erwehren bei schönem Wetter, wenn man es vorzieht, zu Fuß zu gehen, ist schwer, aber einer Droschke habhaft zu werden bei schlechtem Wetter, wenn man dringend fahren will, das ist noch schwerer.

Als es ihm endlich gelungen war, fürchtete er, die Damen würden ihm, des Wartens müde, davongelaufen sein – aber nein, da standen sie noch beide – die Begleiterin im schwarzgrauen Regenmantel, mit vom häufigen Kopfvorstrecken regenübergossenem Gesicht, um das die fettigen Haarsträhnchen halb wie Blutegel, halb wie Medusaschlangen herumbaumelten – das Mädchen tausendmal verführerischer als früher, leicht gerötet von dem frischen, nassen Wind, der ihr entgegenblies, und offenbar in etwas gehobener Stimmung, geschmeichelt von ihrer Eroberung. Sie war plötzlich gnädig gestimmt und lächelte ihm den verbindlichsten Dank zu. Ein Paar reizendere Füßchen als die, welche unter ihrem Kleid hervorguckten, während sie mit großer Ungeniertheit hochgeschürzt dem Wagen zuschritt, hatte Otto von Sydow in seinem Leben noch nicht gesehen.

»Wohin soll ich den Kutscher dirigieren?« fragte er, nachdem er sorgfältig das Schutzleder um die Damen herum eingehakt hatte.

»Hotel Washington!«

 

Er trug keinen Regenschirm, er war naß wie eine Ratte, und der Tag war kalt. Das tat nichts zur Sache, Otto von Sydow hatte sich nicht so warm gefühlt, seit er sich in Italien befand.

Er übersiedelte sofort aus dem Hotel de la Paix ins Hotel Washington. Da der ganze erste Stock von einem Wiener Bankier in Beschlag genommen und das Hotel auch sonst ziemlich überfüllt war, erwies sich das Zimmer, das man ihm zur Verfügung stellte, als keineswegs besonderer Gattung – aber ihn focht das nicht an.

Noch denselben Abend vor der Table d'hote fand er seine »Schönheit«. Sie saß im Lesezimmer und las Paris Caprice. Er erfuhr, wer sie war: Prinzeß Dorothee zu Ilm.

 

Sie war elternlos, Tochter eines nachgeborenen Sohnes und arm. Die Familie trotz ihrer ursprünglichen Vornehmheit herabgekommen, hauptsächlich durch das liederliche Leben der beiden Brüder des Prinzeßchens, insbesondere aber durch die Heirat des ältesten dieser beiden mit einer französischen Kunstreiterin. Seitdem die Koryphäe in Schloß Egerstein eingezogen, war Prinzeß Dorothee heimatlos und reiste mit einer sehr mageren Apanage und einer Begleiterin, die den Doppelposten einer Kammerzofe und Gesellschafterin bei ihr versah, in der Welt umher.

Diese Begleiterin, welche Fürst Ilm in aller Eile durch die Zeitung für die Schwester verschafft, hieß Anna Feistmantel, stammte aus Wien, wo sie jenen ästhetisch angehauchten Kreisen angehörte, die sich für Künstler interessieren und hauptsächlich fürs Theater. Sie war seit zehn Jahren unglücklich in Sonnenthal verliebt und schwärmte daneben überhaupt für breitschultrige Männer, Wagnersche Musik und Romane, in denen man »die heilige Stimme der Natur« zu Worte kommen läßt.

Unter dem Schutze dieses Frauenzimmers hatte Prinzeß Dorothee seit drei Jahren abwechselnd in Wien, Rom und Paris ihre Bildung vervollkommnet.

Die Prinzessin weihte ihren Verehrer mit dem größten Freimut in ihre Verhältnisse ein, erzählte ihm, daß sich ihr Bruder schändlich gegen sie benommen habe – aber daran sei allein die Kunstreiterin schuld, die ihn jetzt völlig am Bändchen halte, man müßte sich hineinfinden, und darum sei Willi doch der entzückendste Mensch, den man sich denken könne – wie ein Spanier sähe er aus. – Sydow erinnerte sich seiner, er hatte im selben Regiment mit ihm sein Freiwilligenjahr abgedient.

Ebenso ehrlich erzählte Prinzeß Dorothee davon, daß sie sich manchmal in Geldverlegenheiten befände; einmal war's ihr so knapp gegangen, daß sie ihren Hund an einen Engländer habe verkaufen müssen. Dreihundert Franken habe sie für ihn bekommen; es sei ihr sehr nahe gegangen, den Hund weggeben zu müssen, sie habe nie einen Menschen so gern gehabt wie diesen Hund, aber sie habe ein neues Ballkleid gebraucht damals in Rom für ein Fest auf der Deutschen Botschaft. Ihre Tante, Prinzeß Nimbsch, hatte sie chaperoniert, denn manchmal ginge sie in die Welt und manchmal nicht, das hinge davon ab, wie die Verhältnisse gerade lägen. Eigentlich mache sie sich nicht viel daraus, in die Welt zu gehen, man sei dadurch an so vielem gehindert, man könne sich gar nicht mehr ungeniert unterhalten und nicht einmal die kleinen Theater besuchen, wo die lustigsten Stücke gegeben würden. Drum sei sie am liebsten in Paris gewesen, wo sie kein Mensch kannte, da sei sie mit der Feistmantel – manchmal nannte sie ihre Begleiterin »die Feistmantel« und manchmal »die Alma« – »überall« hingegangen.

Die Feistmantel hatte die Prinzessin im Laufe ihrer Geständnisse durch Fußstöße zurückzuhalten versucht, die sie ihrem Schützling unter dem Tische verabfolgte und von denen einer zufällig Sydow ganz empfindlich ins Schienbein traf. Da aber Prinzeß Dorothee gar nicht darauf Rücksicht nahm, so fiel ihr die Wienerin jetzt heftig ins Wort mit: »Nein, was die Prinzeß heute zusammenplauscht – ich bitt' Sie, Baron Sydow, schlagen's nur gleich fünfzig Prozent Agio ab von dem Gered'! Sie werden doch nicht glauben, daß ich ein mir anvertrautes junges Mädchen an einen unpassenden Ort hinführen werd'!«

»Ach, was weiß ich, was unpassend ist und was nicht – ich kümmere mich nur um das, was amüsant ist und was langweilig,« lachte das Prinzeßchen, »und wir sind überall gewesen – die Feistmantel posiert nur ein wenig für den durchlauchtigsten Familienanstand, Herr von Sydow, aber glauben Sie ihr nicht, wir haben Ma Camarade gesehen und Niniche, und einmal waren wir sogar im Café des ambassadeurs! – Etsch ...!« Und sie schabte ihrer aufgeregten Duenna ein Rübchen.

»Aber, Baron Sydow, lassen S' sich doch so was nicht weismachen,« rief die Feistmantel außer sich, » im Café des ambassadeurs – das ist ja ein Café chantant – sie flunkert ja nur so ins Blaue hinaus, 's ist ja kein Wort wahr!«

»Nicht wahr? ... Ja, gerade ...« entgegnete unbeirrt das Prinzeßchen, »freilich war's ein Café chantant, und die Sängerin hat Estelle où est ta flanelle gesungen – es war zum Ersticken komisch, aber ich kann's geradeso wie sie, noch denselben Abend hab' ich mir's einstudiert – ich muß es Ihnen nächstens vorsingen, Herr von Sydow, das heißt, wenn wir uns besser kennenlernen. Ach, gibt's denn kein Café chantant in Florenz, wo Sie uns hinführen könnten?«

»Aber Prinzeß ...!« rief hier die Feistmantel.

»Als ob uns ins Café des ambassadeurs nicht auch ein Herr geführt hätte, den wir im Hotel kennengelernt hatten!« rief Dorothee. »Ein Amerikaner war's, Mr. Higgs hieß er und war ein reichgewordener Käsehändler aus Connecticut. Er war sehr nett, er schickte uns immer Logenbillette – später wollte er mich heiraten; er gefiel mir gut, ich hätte ihn gleich genommen, meine Verwandten aber meinten, es sei keine Partie für mich. Nun, den Kopf habe ich mir nicht abgerissen deshalb, weil ich ihn nicht haben konnte, aber genommen hätt' ich ihn. Wir Prinzessinnen Ilm haben zwar das Recht, gekrönte Häupter zu heiraten, aber ich werde nie davon Gebrauch machen. Wenn ich Kaiserin wäre, würde ich immer inkognito reisen – sobald ich großjährig bin, heirate ich einen Kaminfeger – wenn er Millionär ist, oder wenn ich mich in ihn verliebe!«

»Es ist beides so überaus wahrscheinlich!« lachte Sydow.

Das war die einzige Bemerkung, die er sich im Laufe dieses Gesprächs erlaubte – eines Gesprächs, das am ersten Abend seiner Anwesenheit im Washington in dem großen, niedrigen Lesezimmer dieses Hotels stattfand.

Nachdem die Prinzessin mit ihren Geständnissen fertig war, trat sie an das Fenster und blickte auf den Arno hinaus. Ein Weilchen blieb sie ganz still, als aber Anna Feistmantel anfing, sich von ihrer Schreckensstarrheit erholend, Sydow eindringlich etwas Erbauliches vorzulügen, da wendete sich die Prinzeß ruhig um und sagte: »Herr von Sydow, wollen Sie einen Spaziergang mit uns machen? Florenz ist so wunderschön bei Nacht.«

Den nächsten Tag fuhr er mit den Damen nach Fiesole. Er saß erbärmlich schlecht auf dem Vorderbänkchen einer florentinischen Droschke und fühlte sich wie ein König glücklich.

Es war in der Mitte April, und ein steil aufrechtstehender Kamm von weißen und violetten Iris krönte die weißen Mauern, welche die sich nach dem altberühmten kleinen Städtchen hinaufkrümmende Straße umsäumten, Rosenbüsche wuchsen dazwischen und senkten ihre blühenden Äste bis in den Staub hinab. Barfüßige italienische Kinder mit zerzaustem Haar und leuchtenden Augen warfen Rosensträuße in die Droschke und verfolgten Sydow und die beiden Damen mit geflochtenen Strohwaren. Wie viele Liri- und Fünfzig - Centesimi-Stücke warf er an jenem wunderschönen Frühlingstage in den Staub! Je mehr er seiner Großmut die Zügel schießen ließ, um so länger wurde der Zug seiner Verfolger. Ein ganzes Heer von Kindern lief hinter dem Wagen drein, lachend und gestikulierend, schreiend, alle hübsch, mit Licht in den Augen und Blumen in den Händen, wie eine Schar zerlumpter Frühlingsgenien nahmen sie sich aus.

Mit einemmal schrie der Kutscher irgend jemand an, der nicht ausgewichen war. Sydow sprang auf und sah sich um.

Die staubige Straße entlang kroch ein erbärmliches Bettlerpaar – alt, verkrümmt, mit wunden, von schnöden Lappen umwickelten Füßen. Es schnitt ihm in die Seele, etwas so Elendes zu sehen mitten in der leuchtenden Frühlingspracht. Und was konnte er schließlich tun, als ihnen eine Münze zuwerfen!

Die Feistmantel, die als jahrelanges Mitglied des Vereins gegen Bettelei seine leichtsinnigen Almosenspenden als »unsittlich« bezeichnete, schalt ihn dafür aus – und das Prinzeßchen lachte über die Bettler, deren sich aneinanderschmiegendes Elend sie komisch fand und denen sie ein spöttisches »Philemon und Baucis!« nachrief. Im ersten Moment erschrak er über sie; dann sah sie ihn freundlich an, und er sagte sich: »Ach, sie ist eben ein Kind!« Er hatte nicht die Fähigkeit, ihr etwas übelzunehmen.

Den nächsten Morgen kam der deutsche Sekretär des Hotels auf ihn zu und fragte ihn nach einigen Umschweifen, ob er denn näher und schon längere Zeit mit der Prinzessin bekannt sei. Sehr verlegen, ohne eine Ahnung, auf was der Sekretär hinzielte, erklärte er, seine Bekanntschaft sei von der oberflächlichsten Art. Der Sekretär verbiß ein Lächeln hinter seinem dunkelblonden Vollbart – Sydow hatte die größte Lust, ihm eine Ohrfeige zu versetzen, nur die Angst, dem Ruf der Prinzessin durch ein derartiges Vorgehen zu schaden, hielt ihn davon ab. Es stellte sich heraus, daß der Sekretär sich durchaus keine verfängliche Neugier hatte zuschulden kommen lassen. In was für Beziehungen der junge Preuße zu der hübschen Prinzessin stand, war ihm gleichgültig, er wollte nur wissen, ob Sydow etwas von ihrer Familie wisse – ob sie eine wirkliche Prinzessin und ob ihre Familie vermögend sei. Sie reise ohne Kammerjungfer und habe seit einem Monat die Rechnung nicht bezahlt, teilte er Otto mit.

Daraufhin schnauzte Sydow den Sekretär gehörig an und erklärte ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen, die Ilms gehörten zu den Vornehmsten in Deutschland. Die Prinzessin habe gewiß einfach vergessen zu zahlen, weil es ihr unwichtig vorgekommen sei, sich damit zu beeilen.

Der Sekretär überstürzte sich in Entschuldigungen. Drei Stunden verbrachte Sydow damit, darüber zu klügeln, wie er der Prinzessin seine Hilfe anbieten könne. Endlich – es regnete draußen schauerlich, und die Damen waren zu Hause – klopfte er bei ihnen an.

»Wer ist's?« fragte das grobe Organ der Feistmantel.

»Sydow.«

»Herein, bitte, bitte,« kicherte das hohe Stimmchen der Prinzessin. Er trat ein.

Ein kleines Zimmer war's, das sie bewohnten im dritten Stock. Die Feistmantel saß beim Fenster und flickte irgend etwas, die Prinzeß saß auf ihrem Bett und las Autour du mariage von Gyp.

Die Prinzeß rührte sich nicht weiter von ihrem Sitz, reichte ihm nur mit einem einschmeichelnden Lächeln die Hand; die Feistmantel räumte in aller Eile einen Lehnstuhl ab und bot ihm denselben an.

»Ach, was für ein schauerlicher Tag! Ich freu' mich so, daß Sie gekommen sind, wir langweilen uns tot!« sagte Prinzeß Dorothee und rieb sich die Augen, dann schlug sie beide Füße unter sich, daß sie wie eine Türkin auf der Bettdecke kauerte, und sagte: »Können Sie mir eine Zigarette geben – meine sind mir ausgegangen!«

Die Feistmantel sagte irgend etwas Entsetztes über das Rauchen der Damen, und Dorothee bemerkte gelassen: »Ach, hören Sie nicht zu, die posiert schon wieder für den durchlauchtigsten Familienanstand, aber es geht ihr nicht von Herzen, das Rauchen hab' ich von ihr gelernt! Ach, welch eine entsetzliche Welt – who but ducks and pumps can keep out of the dumps in a world, that never is dry! Ach, ich langweile mich – wie ich mich langweile!« Sie reckte sich ein wenig. »Ich wollte wenigstens zu Doney gehen. Gefrorenes essen, aber wir können nicht, wir haben kein Geld!«

Jetzt platzte Sydow heraus, plump und verlegen, mit der kleinen Rede, die er sich mühsam ausspekuliert, ebenso mühsam auswendig gelernt, und in der er nun doch dreimal steckenblieb.

Er hatte gehört, daß die Damen einen Geldbrief vergeblich erwarteten – es sei gewiß eine Konfusion daran schuld – wollten Sie ihm erlauben, ehe die Sache ins reine gebracht – ehe sie eine Antwort aus Deutschland erhalten hätten – ihnen – aus ... auszuhelfen?

Ganz beschämt hielt er inne. Würden sie ihn zum Zimmer hinausjagen? Nein! Die Prinzessin breitete ganz einfach die Arme aus und schrie: »Sie sind ein Engel, ich hätte Lust, Ihnen um den Hals zu fallen!« Was sie natürlich nicht tat, aber im Grunde wär's ihr nicht darauf angekommen.

Noch denselben Abend war die Rechnung der Prinzessin beglichen.

Zwei Tage später kam Goswyn nach Florenz. Er überraschte seinen Bruder beim Diner, das dieser mit Prinzessin Dorothee und der Feistmantel an einem besonderen Tischchen, am äußersten Ende des langen, schmalen, luftlosen Speisezimmers, knapp neben einem Fenster, das auf den Arno hinaussah, einnahm.

Die Prinzessin kicherte und scherzte mit ihrem hohen, hellen Stimmchen, daß man es bis vor die Tür des Speisesaales hörte; sie trug ein weißes Kleid und ließ einen Brillantring in der Sonne blitzen. Anfangs lächelte Goswyn nur in sich hinein über die artige Reisebekanntschaft seines Bruders; als er aber näher zusah, wurde ihm die Sache bedenklich. Natürlich mußte er sich zu den dreien an den kleinen Tisch setzen. Die Prinzeß fing sofort an, mit ihm zu kokettieren. Erst konstatierte sie, daß sie nun eine Partie carrée bildeten, das sei sehr lustig – bis dahin habe Herr von Sydow zwischen seinen zwei Damen den Eindruck eines Grafen von Gleichen gemacht, aber jetzt würde man sie gewiß für zwei hochzeitsreisende Ehepaare halten. Dann pflanzte sie beide Ellenbogen auf den Tisch, und sich zu Goswyn hinüberbeugend, fragte sie: »Welcher von den beiden Herren nimmt sich die Feistmantel?«

»In diesem Fall entscheidet die Damenwahl,« erwiderte Goswyn lachend.

»Dann fällt Ihnen mein Schutzgeist zu,« lachte Prinzeß Dorothee, »ich halt's mit Ihrem Bruder – ich hab's Ihnen nämlich gleich an der Nasenspitze angesehen, daß Sie ein sehr unbequemer Gesell find, Herr Goswyn von Sydow« – sie sprach den Namen mit komischem Pathos aus –, »ja, ein gründlich unbequemer Gesell – nicht drei Tage könnte ich's mit Ihnen aushalten, während mit Ihrem Bruder – das ganze Leben könnte ich mich mit dem vertragen. Das ist so ein treuer, täppischer Bär. Ich habe immer eine Vorliebe für Bären gehabt. Da, sehen Sie, diesen Ring hat er mir zum Vielliebchen geschenkt; ist er nicht hübsch?«

Otto von Sydow erinnerte sich noch heute des sonderbaren Blicks, mit dem sein Bruder den Ring betrachtete.

Noch denselben Abend hatten die Brüder eine heftige Auseinandersetzung.

Goswyn gab zu, daß die Prinzessin allerliebst sei, trotz ihrer schlechten Erziehung und ihres unmöglichen Tons. Für eine flüchtige Reisebekanntschaft konnte man sich eigentlich nichts Reizenderes denken. Nur sei sie ja doch aus sehr gutem Hause und, so merkwürdig sie sich in der Konversation auch gehen lassen mochte, im Innersten rein. Infolgedessen sei es Gewissenssache, sie so gründlich zu kompromittieren, wie es Otto tue – und ... an eine Heirat – selbst wenn sich die trotz ihrer Armut sehr hochmütigen Ilms zu dieser Mesalliance verstünden – war nicht zu denken.

Das Resultat dieser Unterredung war, daß Otto mit gesenktem Kopf seinem klügeren, willensstärkeren Bruder recht gab, daß er versprach, den nächsten Morgen mit ihm abzureisen, daß, als der Wagen bereits mit den Koffern vor der Tür stand, er Prinzeß Dorothee auf der Treppe begegnete – daß er nicht abreiste und sich mit der Prinzessin verlobte.

Man täte unrecht, zu glauben, sie habe ihn nur seines Geldes wegen genommen. Nein, die fast unheimlich zarte Prinzessin hatte wirklich eine Vorliebe für »Bären«; soweit sie irgend jemand liebhaben konnte, hatte sie ihren schwerfälligen, täppischen Mann lieb, gerade wie sie schwarzes Brot und saure Milch allen Delikatessen der Welt vorzog. Während der Flitterwochen, die sie mit Otto auf seiner Herrschaft Kößnitz in Schlesien verbrachte, entwickelte sie sogar eine erstaunliche Zärtlichkeit; aber sie konnte eben auf die Länge der Zeit gar nichts lieben. Dann ... sie war eine geregelte Existenz ungewohnt, bald langweilte sie sich drin zum Sterben. Es hatte sie anfangs gefreut, in dem Reichtum ihres Gatten zu wühlen, sich ein Kleid nach dem anderen machen zu lassen, sich mit Geschmeide zu behängen – im Grunde genommen war ihr das bald alles lästig, eintönig. Ach, irgendein kleines Zimmerchen im dritten Stock in einem Pariser Hotel mit der Feistmantel, Nahrungssorgen, Freiheit und alle Tage eine neue Eroberung. Wie sie sich danach zurücksehnte!

Anfangs hatte sie ihrem Manne zu Ehren in Berlin die konventionelle Haltung einer großen Dame angenommen – aber das war ihr bald das Langweiligste in ihrem neuen Leben, bei dem ihr eigentlich alles langweilig war.

So viel Böses man bereits von ihr sprach, war sie damals noch wirklich durchaus unschuldig. Es war nicht nur eine Täuschung ihres Mannes.

»Sie hat ja kein Temperament, sie hat ja absolut kein Temperament,« sagte er sich, während er durch das schlammige Tauwetter nach Hause stapfte. An diesem melancholischen Trost mußte er sich genügen lassen.

Aber so plump er war, wußte er doch, daß Frauen, die gegen die Versuchung unempfindlich sind, häufig die Scheu vor dem Fehltritt nur in sehr geringem Maße fühlen. Die Sache ist ihnen einfach nicht wichtig – weder so noch so. Die Leidenschaft würde Prinzeß Dorothee nie zu Fall bringen, aber die Langeweile, die manchmal in vernichtende Melancholie ausartete, konnte es tun.

Otto von Sydow schauderte bis ins Mark hinein.

Dann brannten ihm plötzlich die Wangen. Er hätte sich ohrfeigen mögen dafür, daß er seiner Frau gegenüber solche Bedenken aufkommen ließ.


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