Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Fünftes Buch

»Erika, schau dorthin!«

Gräfin Lenzdorff flüstert ihrer Enkelin diese Worte ins Ohr und zupft sie zugleich beim Ärmel.

In der Bibliothek des Klosters San Lazaro ist's – des Klosters, in dem Lord Byron in längst vergangenen Zeiten von langbärtigen Mönchen Armenisch gelernt und wohin sich die Lenzdorffs, das schöne Wetter benützend, am Nachmittag des Tages, an dem sie den Circolo artistico besucht, haben hinausrudern lassen.

Ein Mönch mit majestätischer Haltung hat ihnen bereits den größten Teil der Sehenswürdigkeiten des Klosters gezeigt mit unermüdlicher Courtoisie und unwandelbarem Ernst: die Kirche, die Druckerei und das Refektorium, das ranzig riecht nach schlechtem Öl und abgesperrter Luft wie alle Refektorien.

Jetzt hat er sie in die Bibliothek geführt, um ihnen die Unterschrift Lord Byrons vorzulegen – seine Unterschrift und sein Porträt, ein ganz kleines, glaubwürdiges, authentisches Porträt, und viele nicht authentische Konterfeie in jeder beliebigen Größe, von betriebsamen Künstlern angefertigt, in der Hoffnung, poetisch gestimmte Touristen möchten ihnen dieselben als Souvenirs de Venise interessantester Gattung abkaufen: Lord Byron mit wehenden Locken und weit offenem Hemdkragen, an einen Felsblock gelehnt, mit schwärmerischem Augenaufschlag und einem Gewitter im Hintergrund; Lord Byron im Carbonaro; Lord Byron in Hemdärmeln; Lord Byron Armenisch studierend inmitten eines Kreises über sein Sprachtalent staunender Mönche; und schließlich – last, not least – Lord Byron, wie er Gräfin Guiccioli den ersten Gesang seines Don Juan vorliest. Er sieht über ein mächtiges und malerisch zerblättertes Manuskript triumphierend zu ihr hinüber, sie macht eine abwehrende Geste.

Zwei Herren stehen vor dem Bilde, lachen und machen Glossen. Auf diese zwei Herren hat die alte Gräfin Lenzdorff die Aufmerksamkeit ihrer Enkelin gelenkt. Der eine von ihnen steht momentan mit dem Rücken gegen sie – dennoch hegt Erika beim Anblick seines großkarierten, tadellos sitzenden englischen Überrocks, seiner weißen Gamaschen, seiner Art, sich etwas auf den leicht auseinandergespreizten Beinen zu wiegen, der Vornehmheit und grauhaarigen Nichtsnutzigkeit, die aus allen Ecken seiner Erscheinung herausguckt, keinen Zweifel, daß sie Graf Treurenberg vor sich hat. Der andere, der im Profil gegen die beiden Damen steht, ist ein Mensch von mittlerer Größe nach norddeutschem Begriff, das heißt für einen Österreicher groß, von sehr feinem Gliederbau, gut angezogen, wenn sich seine Kleider auch nicht mit dem englisch aristokratischen Schick der Kleider des Grafen Treurenberg messen können, und mit freier einnehmender Haltung, dazu mit einem sehr gut geschnittenen brünetten Gesicht. Alles in allem könnte man ihn für einen Weltmann halten, für irgendeinen viel jüngeren Verwandten des Grafen, wenn seine Augen nicht wären, die eigentümlichen, leuchtenden Augen, mit grünlichen Lichtern drin, die nach kurzer Musterung der Großmutter sich voll auf Erika heften. Kein Weltmann hat solche Augen. Indem sieht auch Graf Treurenberg sich um.

»Küss' Ihnen die Hand, meine Damen!« ruft er in seiner brüsken Manier. »Sie haben gleich uns das schöne Wetter benützt zu einer Landpartie – konnten wirklich nichts Gescheiteres tun. Was sagen Sie zu dieser Entrüstung der Guiccioli? Ich hätte mir die Schöne gar nicht so prüde gedacht.«

Die alte Gräfin will soeben etwas erwidern, als der Begleiter Treurenbergs diesem leise etwas zuflüstert.

»Erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn von Lozoncyi vorstelle,« sagt der Graf, worauf die alte Gräfin Lozoncyi zuruft: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, ich gehöre zu Ihren ältesten Bewunderern. Bitte mich nicht mißzuverstehen, ich spreche natürlich nicht von meinem Alter, sondern von dem Alter meiner Bewunderung.«

»Fühle mich unendlich geschmeichelt, Frau Gräfin,« erwiderte Lozoncyi mit seinem ungewöhnlich weichen, angenehmen Organ, dem Organ eines Wiener Kindes von gemischter Rasse und zweifelhafter Nationalität. »Dürfte ich fragen, wann ich zuerst das Glück hatte, Ihr Interesse zu erregen?«

»Wie lange ist's her, Erika, vor fünf oder vor sechs Jahren?« plaudert die alte Frau; »du wirst's wissen.«

»Vor sechs Jahren, glaube ich, war's, Großmutter,« erwidert Erika.

»Also vor sechs Jahren,« erzählt die Gräfin weiter. »Es war in Berlin, Sie hatten damals zwei Bilder ausgestellt, eins vor einem Vorhang, das zweite hinter einem Vorhang. Ich habe beide gesehen; seit der Zeit habe ich auf Ihr Talent geschworen, was nicht verhindert, daß mich Ihr Gemälde im Circolo artistico überrascht hat.«

»Sie sind sehr gütig. «

»Nur eins möchte ich wissen – denken Sie sich die Hölle mit blühenden Bäumen?«

»Ich, die Hölle?« fragte Lozoncyi, seine Brauen in die Stirne schiebend. »Soviel ich weiß, hab' ich mir die Hölle noch gar nicht gedacht, obgleich mir's mehr als einmal zumut gewesen ist, als ob ich drin gewesen wäre.«

»Aber was haben Sie denn zu Ihrer Francesca da Rimini gemalt?«

»Francesca da Rimini...?« Wieder mustert er sie befremdet.

»Das Bild im Circolo!« ruft die alte Frau. »Oder,« plötzlich in merklich kühlerem Ton, »vielleicht irre ich mich, und es handelt sich um jemand ganz anderen.« »Nein, nein!« entgegnet er ihr lachend. »Das Bild, auf das Sie sich beziehen, ist allerdings von mir, Frau Gräfin, aber den Titel hat mein Kunsthändler dazu erfunden. Ich hatte nie einen Augenblick die Absicht, die sympathischste aller Ehebrecherinnen zu malen.«

»Also was wollten Sie denn malen?«

»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht.« Er sagt das mit einem eigentümlichen Lächeln, in das sich etwas von drückender Mißstimmung mischt. »Ich werde dieser Tage einen Zyklus von Bildern ausstellen unter dem Namen ›Schwere Träume‹, und das Ding im Circolo wäre Nummer eins davon. Wenn ich mich nicht gescheut hätte, den Vergleich mit dem alten Botticelli herauszufordern, was mir schließlich die Bescheidenheit verbot, so hätte ich das Bild den ›Frühling‹ genannt.«

Während er spricht, haben seine Augen immer wieder den Weg zu Erika zurückgefunden – jetzt bleiben sie mit einer derartig unzivilisterten, unhöflichen Starrheit auf ihr haften, daß Erika sich schließlich unwillig abwendet, während Graf Treurenberg ihm lachend die Hand vors Gesicht hält und ihm zuruft: »Schonen Sie Ihre Augen, mein lieber Lozoncyi; was ist denn das für eine Art, so in die Sonne zu schauen!«

»Ich muß Ihnen in der Tat den Eindruck eines Narren machen,« entschuldigt sich Lozoncyi. »Ich frage mich selbst, bin ich bei Verstand oder bin ich's nicht, aber ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß – ich bereits früher einmal das Vergnügen hatte, die Komtesse kennenzulernen.«

»In der Tat,« mischt sich jetzt Erika zum erstenmal in das Gespräch, wobei sie eine sehr gerade Haltung annimmt und einen auffallend kühlen Ton anschlägt, »Sie haben mir unlängst einen großen Dienst erwiesen, Herr von Lozoncyi.« Dann sich zu den beiden anderen wendend, fährt sie fort: »Ich hatte mich neulich etwas verspätet bei Fräulein Horst, und als ich in der Dämmerung nach Hause ging, lief mir ein Betrunkener nach. Herr von Lozoncyi war gütig genug, mich ... mich zu beschützen ...«

»Erika!« ruft die Großmutter entsetzt, »ich sag' dir's ja immer, du sollst nicht so allein herumwandern; von heute an gehst du keinen Schritt mehr allein, außer über den Markusplatz.«

Erika zuckt mit den Achseln. »Ach, Großmutter, ich bin mündig!«

»Trotz dieses Umstandes würde ich Ihnen raten, sich in diesem Falle Ihrer Frau Großmutter unterzuordnen,« meint Lozoncyi, sich jetzt dem jungen Mädchen zuwendend. »Ich versichere Ihnen, mir war gar nicht heimelig zumut, als ich mir in der Nacht darauf das Bild zurückrief, wie ich Sie da so weltvergessen und gottverlassen durch dieses sehr übelbeleumundete Gewinkel wandeln sah!«

»Ich hatte mich eben verirrt!« rief Erika heftig.

»Das sah man Ihnen auf zweihundert Schritte an,« versichert der junge Maler gutmütig lachend, »aber man verirrt sich leider sehr leicht in Venedig, darum beugt man lieber vor. Die Situation war nicht heiter!«

»Hm! Mir scheint, Sie malten gleich den Tag darauf einen neuen »Cauchemar«, höflicher gesagt schweren Traum,« wirft an diesem Punkte Graf Treurenberg ein.

»Sie haben's erraten, Graf!« ruft Lozoncyi etwas herb. Dann sich von neuem dem jungen Mädchen zuwendend, sagt er in gänzlich verändertem Ton: »Um unser Zusammentreffen in der Calle San Giacomo handelt es sich für mich übrigens jetzt nicht. Wenn meine Vermutungen richtig sind – ich kann's freilich kaum annehmen, aber wenn ... so datiert unsere gegenseitige Bekanntschaft um sehr viel weiter zurück. Haben Sie etwa einen Stiefvater, der Strachinsky heißt?«

»Ja, sie hat das Unglück,« seufzt die Großmutter.

»Nun dann!« ruft er lebhaft aus, »dann ...« Plötzlich stockt er. »Aber wie töricht von mir! Sie haben ja gewiß längst vergessen, worauf ich mich beziehe?«

»Nein, ich habe gar nichts vergessen,« entgegnet Erika, die Augen mit einem eigentümlichen, zugleich stolzen und vorwurfsvollen Ausdruck zu ihm aufschlagend. »Ich habe Sie sogar viel früher erkannt als Sie mich – aber an mir war's doch nicht, mich dazu zu melden!«

»Gräfin! Sie erlauben, daß ich Ihnen zum Andenken an die liebe kleine Fee, die mir Glück gebracht hat, die Hand küsse.«

»Was geht da vor?« ruft der neugierige Graf Treurenberg aufgeregt, und die alte Gräfin fällt mit einem ebenso neugierigen: »Wo habt ihr einander kennengelernt?« ein.

Sie haben längst vergessen, daß sie sich in der Bibliothek des armenischen Klosters befinden, sie überlassen es jetzt anderen Touristen, sich andächtig die Unterschrift Lord Byrons zu besehen, die Unterschrift George Eliots und die des Grafen Wlcek. Zwei Engländerinnen stehen jetzt staunend und bewundernd vor dem Bild Lord Byrons und der Guiccioli – demselben Bild, das Treurenberg und Lozoncyi noch vor kurzem so unbarmherzig bespöttelt haben.

»Wie war's, wo habt ihr einander kennengelernt?« dringt noch einmal die Großmutter in die beiden.

Erika stockt – weiß, von einer ihr selber kaum erklärlichen Verlegenheit befangen, nicht, bei welchem Zipfel sie ihre Erzählung anfangen soll. Lozoncyi hilft ihr. Sein Bericht ist ein kleines Meisterwerk von Grazie, Rührung und Humor. Alles erzählt er: wie ihm der Ritter – er charakterisiert seine Persönlichkeit mit drei Worten – mit einem Almosen von zwei Kreuzern die Tür gewiesen hat, seine entrüstete Verzweiflung, seinen Hunger, die plötzliche Erscheinung des kleinen Mädchens; er beschreibt ihr süßes Gesichtchen, ihr verwaschenes Kleid, ihre langen, schlanken, in roten Strümpfen steckenden Beinchen, den mit roten Astern verzierten Viktualienkorb; er beschreibt die Landschaft, den kleinen Bach, der verschämt unter der großen Brücke weiterkriecht, die zu ihm paßt (so behauptet Lozoncyi) wie das Grabmal der Metella zu einem toten Hund; jedes Wort der kleinen Fee erzählt er, und auch, wie sie ihm zuletzt die fünf Silbergulden in die Tasche gesteckt und ihm dabei versichert habe, sie wisse, wie schrecklich es sei, kein Geld zu haben.

Die alte Frau und Treurenberg lachen – Erika horcht gespannt, unruhig, gerührt. Etwas fehlt in dem Bericht. Ja, trotz aller genauen Aufzählung der Einzelheiten fehlt etwas. Behält er sich's für den Schluß, oder findet er es nötig, dieses Detail zu unterschlagen? In der Tat. Erika ist empört über seine Diskretion, darüber, daß er selbe für nötig hält! Als er geendet, sagt sie ruhig: »Eine Kleinigkeit haben Sie vergessen, Herr von Lozoncyi, Sie hatten sich ein Honorar ausbedungen ...« Sie stockt, rafft sich wieder auf, und sich im Kreise umsehend, fährt sie fort: »Ich mußte Herrn von Lozoncyi versprechen, ihm einen Kuß zu geben für mein Bild.«

»Und darf man fragen, ob Sie Wort gehalten haben, Gräfin?« lacht Graf Treurenberg.

»Ja!« sagt Erika schroff.

»Das ist reizend!« ruft Graf Treurenberg, »und ... entre nous soit dit, ich hätt's Ihnen nicht zugetraut, Gräfin! Sie können sich was einbilden, Lozoncyi!«

Erika ist sehr verlegen; fast hätte sie Lust, ihren Wahrheitstrieb – ihre Wahrheitsprotzigkeit nennt sie's jetzt – zu verwünschen. Da neigt sich Lozoncyi ein klein wenig zu ihr nieder. »Was für ein finsteres Gesicht!« sagt er mit einem sehr gutmütigen Lächeln. »Ach, Gräfin, sollte es Ihnen jetzt leid tun, daß Sie mir als neunjähriges Baby das liebe Almosen gespendet? Wenn sie wüßten, wie oft mich die Erinnerung an Ihre kindliche Zutunlichkeit ermutigt und gestärkt, Sie würden sich Ihrer nachträglichen geizigen Anwandlungen schämen!«

Taktvoller und liebenswürdiger hat man die Sachlage nicht zurechtrücken können, und Erika fängt an zu lachen und gesteht, daß sie ein wenig töricht gewesen ist, was ihr die Großmutter, sie lustig auf die Wange klopfend, bestätigt. Die alte Frau ist entzückt von dem kleinen Geschichtchen; die Rolle, welche Strachinsky darin spielt, trägt dazu bei, es für sie zu würzen.

Sie haben jetzt die etwas muffige und feucht riechende Bibliothek verlassen und sind hinausgetreten in den Säulengang, der sich um das wie ein Garten bepflanzte innere Höfchen des Klosters zieht. Ein Duft von frisch erblühten Rosen und feuchter Erde durchspielt die Luft, aus der Klosterküche strömt ein Geruch von gebranntem Kaffee. Graf Treurenberg freut sich der Gelegenheit, sein kahles Haupt mit seinem melonenförmigen grauen englischen Filzhut bedecken zu können, und macht eine unwirsche Bemerkung über die abendländische Unsitte, die es einem Herrn so oft vorschreibt, sich den Kopf erkälten zu müssen. Er geht mit der Großmutter voraus, Erika und Lozoncyi folgen. Die beiden alten Leute schwatzen unaufhörlich, die beiden jungen sagen lange kein Wort.

Lozoncyi ist der erste, der endlich das Schweigen unterbricht. »Seltsam, daß uns der Zufall nun doch zusammengeführt hat,« bemerkt er.

Sie räuspert sich, nimmt einen Anlauf zu reden und bleibt stumm.

»Sie sagten, Gräfin ...?« fragt er lächelnd.

»Ich sagte gar nichts!«

»Dann dachten Sie etwas!«

»In der Tat – ich – nun, ich dachte – seltsam sei eigentlich nur, daß Sie es dem Zufall überlassen haben, uns zusammenzuführen!« Die Worte könnten eigentlich sehr liebenswürdig klingen, aber sie klingen nicht liebenswürdig; eiskalt und etwas gezwungen fallen sie von Erikas Lippen.

»Glauben Sie etwa, daß ich nie einen Versuch gemacht habe, Sie wiederzufinden, Gräfin?« fragt er.

»Ich denke, wenn Sie ernstlich den Wunsch gehegt hätten, mich zu finden, hätte es Ihnen bei den Anhaltspunkten, die Ihnen zu Gebote standen, nicht schwerfallen sollen,« erwidert sie.

Einen Augenblick schweigt er, dann beginnt er von neuem: »Sie haben recht und tun mir unrecht – beides. Als ich erfahren hatte, daß aus meinem lieben, dürftig gekleideten Prinzeßchen eine wirklich große Dame geworden war, da hab' ich freilich keinen Versuch mehr gemacht, mich ihr zu nähern. Früher aber – Interessiert Sie die Geschichte meiner mißglückten Pilgerfahrt?«

»Gewiß - lebhaft!«

»Ein paar Jahre waren seit unserem kindischen Zwiegespräch verstrichen. Ich hatte meine ersten eigenen paar hundert Mark in der Tasche, ich kaufte mir einen neuen Anzug – ja, lächeln Sie nur – einen neuen Anzug, der mir ausnehmend gefiel, und fuhr nach Böhmen. Ich fand das Dorf, den Bach und die Brücke – auch das Schloß fand ich; aber von denen, die darin gewohnt, war keiner übriggeblieben, nicht einmal der liebenswürdige Herr von Strachinsky, und von meiner kleinen Prinzessin wußte niemand etwas. Ich war sehr traurig, so traurig, wie sich's für einen Burschen von dreiundzwanzig Jahren gar nicht schickt.«

Er schwieg.

»Nun, und das war das Ende aller Ihrer Anstrengungen?« ruft jetzt die alte Gräfin, welche mit ihrem Luchsohr das Gespräch belauscht hat und sich lachend umwendet. »Da haben Sie sich keiner großen Zähigkeit zu berühmen.«

»Als ich, von einem Regenguß überrascht, in der Pfarrei des nächsten Orts einen Unterschlupf suchte,« fuhr er fort, »fragte ich natürlich den Pfarrer, der mich sehr freundlich aufnahm, nach meiner entschwundenen kleinen Freundin. Der Pfarrer wußte etwas mehr, als die anderen gewußt hatten. Er teilte mir mit, daß eines schönen Tages jemand aus Berlin gekommen sei, um die kleine Rika zu holen; daß diese jetzt eine junge Dame geworden sei, die auf den Höhen des Lebens stehe ...« »Und dann ...?« drang die alte Frau in ihn.

»Ich forschte nicht weiter,« sagte er, »die Brücke zwischen meiner Lebenssphäre und der meiner Prinzessin war abgebrochen – ich kehrte ruhig nach München zurück. Ich war sehr traurig – mir war's, als ob man plötzlich das schönste Ziel meines Strebens niedergerissen hätte.«

»Oh!« ruft die alte Frau, »also sentimental können Sie auch sein? Sie sind in der Tat vielseitig!«

»Es war meine erste Manier – ich habe sie seither verändert,« gibt er zurück.

Dann verwickelt Graf Treurenberg die alte Gräfin in ein äußerst interessantes Gespräch über den neuesten venezianischen Skandal.

»Sie begreifen nun, wie es kam, daß ich nichts mehr von mir hören ließ, Gräfin,« sagt Lozoncyi zu Erika.

Diese aber schüttelt den Kopf. »Ich begreife gar nicht ...« erwidert sie ihm. »Ich finde es unglaublich töricht, daß Sie mich gerade aus diesem Grund nicht aufgesucht haben!«

»Die Erika hat recht!« ruft die Großmutter wieder über ihre Schulter hinüber mitten aus einer hochinteressanten Anekdote über die jüngste Verlegenheit des Don Carlos heraus. »Ihr Wegbleiben beweist nur, daß Sie uns für sehr große Gänse gehalten haben müssen, die Erika und mich dazu, sonst hätten Sie ganz unbefangen auf eine freundliche Aufnahme gerechnet.«

»Mein Wegbleiben beweist, daß ich damals ein vom Schicksal etwas verprügelter junger Hund war,« versichert Lozoncyi. »Jetzt zweifle ich nicht mehr daran, daß ich gewiß von beiden Damen gnädig empfangen worden wäre – aber geführt hätte es zu nicht viel. Sie wären meiner doch bald überdrüssig geworden. Ein sehr junger Künstler taugt nichts in einem Salon, er ist immer bocksteif oder burschikos – ein Kalb in einem Blumengarten: entweder bleibt's mit starren Beinen mitten in den Sandwegen stehen oder es zertrampelt die Blumenbeete. Ich war nicht besser als die anderen.«

»Das fällt mir einigermaßen schwer zu glauben,« sagt die Großmutter gutmütig immer über ihre Schulter hinüber; dann sich zu Treurenberg wendend: »Aber erzählen Sie nur weiter, Graf. Also Don Carlos...«

»Nichts erzähl' ich Ihnen mehr!« ruft Graf Treurenberg entrüstet. »Ich hab' es gerade genug. Immer an dem spannendsten Punkt meiner Geschichte wenden Sie sich um und horchen auf das, was Lozoncyi mit Ihrer schönen Enkelin verhandelt! Das ist zu arg!«

»Gönnen Sie mir auch etwas,« entgegnet Lozoncyi mit seinem hübschen, einnehmenden Lächeln dem alten Herrn. » Every dog has his da – und ich versichere Ihnen, daß mein » da« kurz sein wird!«

»Ach was, es ist immer dieselbe Geschichte! Wenn Lozoncyi einmal in der Nähe ist, so kann man der Aufmerksamkeit keiner Dame mehr habhaft werden!« ruft Treurenberg halb im Scherz, aber doch mit tatsächlichem Verdruß.

»Graf Treurenberg hat eine sehr geschickte Art, mich meiner Umgebung unangenehm zu machen,« murmelt Lozoncyi mißmutig.

»Ach was, ich höre nicht auf ihn – dergleichen ist mir ganz gleichgültig!« versichert die alte Gräfin. »Ich möchte lieber wissen, ob Sie die Erika sofort vergessen haben, als Sie in Erfahrung brachten, daß...«

»Sie eine große Dame sei,« fällt ihr Lozoncyi ins Wort. »O nein! Daraufhin packte ich meine sieben Sachen zusammen und reiste nach Rom.«

»Hm! ... und dort ... Dort vergaßen Sie endlich die kleine Erika.«

»Dort erwischte mich das römische Fieber,« sagt er langsam, indem sein Gesicht einen gequälten und finsteren Ausdruck annimmt. Er hebt den Kopf, um nach Erika zu sehen, aber Erika befindet sich nicht mehr neben ihm. Sie ist hinter ihm zurückgeblieben, er sieht sie jetzt an der anderen Seite des rosendurchblühten Höfchens, in dem die Schmetterlinge sich tändelnd in einem langen goldenen Nachmittagssonnenstrahl, der von weiß Gott woher hereingebrochen ist, baden. Aus einer eifrigen Konversation mit einem hohen, stattlichen Mönch heraus ruft sie zu den anderen hinüber: »Hat niemand Lust, sich den Baum anzusehen, in dessen Schatten Lord Byron zu dichten pflegte?«

Ob irgend jemand besondere Lust hat, mag dahingestellt bleiben, aber sie folgen ihr alle. Zwischen graugrünen Frühlingsbüschen, in deren Mitte eine Schar von Neophyten voll gärenden jungen Lebens schreiend und lachend ein Bienenhaus zusammenzimmert, wandeln sie einher bis an den äußersten Uferrand der Insel. Mit großem Stolz zeigt ihnen der alte Mönch den Tisch, auf dessen Platte, wie er behauptet, so oft die Dichterhand Lord Byrons geruht.

Seine Gastfreundschaft gipfelt schließlich darin, daß er ihnen duftigen schwarzen Kaffee präsentieren läßt, worauf er sich entfernt.

Sie sitzen dann alle vier gemütlich unter dem weltberühmten Baum, an dessen grauem Gezweig die ersten grünen Blätter aus den braunen und weißlichgelben Knospenhülsen herauskriechen, und trinken den dicken, undurchsichtigen Kaffee, der fast wie Schokolade schmeckt, an dem sehr primitiven Tisch, an welchem Lord Byron seine Meisterwerke geschrieben haben soll. Lozoncyi äußert seine bescheidenen Zweifel an der Identität des Tisches; Graf Treurenberg erzählt in aller Eile noch eine schlüpfrige Anekdote, und Erika runzelt die Stirn dazu und sieht zwischen dem graugrünen Geäst des Baumes stumm zu dem langsam verblassenden blauen Himmel empor. Der Mönch hat sich entfernt; in das nahe Wellengeplätscher hinein (der historische Tisch steht knapp am Uferrand der Insel) tönt das Jauchzen und Schreien der von Jugend und Frühlingsduft trunkenen Neophyten.

Plötzlich hört man eine affektierte Frauenstimme ausrufen: » Enfin le voilà

Sie blicken auf, sehen zwei Damen – die eine ist niemand anders als Frau von Geroldstein, geziert und nach guter Gesellschaft ausspähend wie gewöhnlich; die zweite auffallend gekleidet, geschminkt und sehr hübsch. Die Geroldstein begrüßt sofort enthusiastisch ihre lieben Bekannten aus Berlin und stellt ihnen ihre Begleiterin als Fürstin Gregoriewitsch vor..

Die alte Gräfin nimmt ihre zudringlichen Liebenswürdigkeiten sehr kühl entgegen. Sie hat sich erhoben. »Lassen Sie sich durchaus nicht abhalten,« wendet sie sich, einen etwas trockeneren Ton anschlagend, dem Künstler zu, »es ist schon spät, und wir verlassen ohnehin bereits die Insel. Adieu! Es wird mich sehr freuen, wenn Sie einmal Zeit finden, uns zu besuchen.«

Von Graf Treurenberg begleitet, schreiten jetzt Großmutter und Enkelin auf ihre Gondel zu. Lozoncyi ist bei seinen beiden Verehrerinnen geblieben.

Das Jauchzen der Neophyten ist verstummt, ein feierliches Glockenläuten durchschwirrt die Insel.

Im Vorübergehen werfen sie einen Blick in die Kirche. Die Flämmchen der Kerzen auf dem Altar schimmern dumpfrot in das Halbdunkel des Gotteshauses hinein – mit gesenktem Haupt, lange Schatten werfend, knien die Mönche am Boden.

»Wer war denn diese kuriose Fürstin?« fragt kurz, ehe sie ihre Gondel erreicht haben, in etwas wegwerfendem Ton die Gräfin Lenzdorff.

»Ach, irgendeine von den zweitausend Verehrerinnen Lozoncyis – sie bewohnt ein großes Palais am Zattere und empfängt sehr viel,« erwidert Graf Treurenberg. »Schöne Person, aber dumm wie ein Bund Stroh. Lozoncyi kommt's nicht immer darauf an, er hängt jeden Tag an einem anderen Schürzenband.«


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