Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Ein halbes Jahr war vergangen seit Erikas Ankunft in Berlin. Sie war während dieses halben Jahres vielfach mit der Großmutter gereist, hatte die Zeit teilweise in Schlangenbad, Gastein und an der Riviera zugebracht. Den Gedanken, ihre Enkelin in ein Pensionat zu stecken, hatte die Gräfin bald aufgegeben. »Was solltest du denn in einem Pensionat anfangen?« hatte sie nach achttägiger Bekanntschaft der Kleinen gesagt. »Deine Ecken abschleifen? Meiner Ansicht nach wäre es schade um deine Ecken – und was nun deine Bildung anbelangt, da hast du freilich ein bißchen zuviel im Kopf für ein Mädchen von deinem Alter – aber ändern läßt sich daran nichts mehr, damit muß man rechnen!« Und dabei klopfte sie Erika auf die Wange und sah sie an mit einem Blick voll leuchtenden Stolzes.

Erika war für sie von einem Augenblick zum anderen der Mittelpunkt ihres Lebens, ihr Abgott geworden, das amüsanteste Spielzeug, das sie je in Händen gehabt, der kostbarste Edelstein, mit dem sie sich je geschmückt. Nebenbei war sie die spät erwachte Poesie ihres Lebens, die verklärte Auferstehung ihrer eigenen Jugend. – Das war ja alles ganz in der Ordnung, sie war ja nicht die erste Großmutter, die in ihrer Enkelin ein Phänomen sah, und an und für sich hätte das weiter nichts auf sich gehabt, wenn sie es nicht für nötig gefunden hätte, ihre Enkelin in die große Meinung, welche sie von ihr hegte, einzuweihen. Was sie tun konnte, um dem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, das tat sie – aus purer Zerstreutheit und Geschwätzigkeit, weil sie es ihr Lebtag nicht vermocht, irgend etwas für sich zu behalten. Denn im Grunde genommen war sie so unklug, als sie geistreich war. Ihr Geist war ein Luxusartikel, etwas, mit dem sie sich und andere unterhielt, mit dem sie die verwickeltsten Situationen theoretisch subtil beleuchtete, der ihr aber durch die einfachste Störung ihres Lebenssystems nie hindurchhalf. Sie war vollkommen unpraktisch, was sie wußte, ohne recht zu begreifen, woher es kam. Da sie es nicht ändern konnte – sie versuchte es übrigens gar nicht –, so ging sie jedem schwierigen Lebensproblem mit jener epikuräischen Selbstsucht, welche die einzige ausdauernde Richtschnur ihrer Existenz bildete, aus dem Weg. Ihre Liebe zu Erika machte jetzt einen Teil ihres Egoismus aus. Sie wurde nicht satt, sich über die Schönheit, die glänzenden Fähigkeiten des Mädchens zu freuen, sie fühlte jede Unannehmlichkeit, die ihre Enkelin traf, wie einen eigenen Schmerz, jeden Triumph, den sie feierte, als eine persönliche Huldigung; – aber niemals dachte sie daran, welche Verpflichtungen sie dieser jungen, sich so herrlich und üppig entfaltenden Blüte gegenüber auf sich genommen. Sie war überzeugt davon, daß sich in Erikas Leben alles von selbst machen würde, wie sich in ihrem eigenen Leben stets alles von selbst gemacht hatte, und in dieser Überzeugung nahm sie nicht den geringsten Anstand, Erika von früh bis Abend zu verwöhnen und sie förmlich hineinzuzwingen, sich als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten.

Mit fast gleicher Ungeduld erwarteten Großmutter und Enkelin den Moment, wo Erika zum erstenmal die Berliner Gesellschaft bezaubern sollte.

Und jetzt war's Anfang Februar, ein Mittwoch und der erste Nachmittagsempfang bei der Gräfin Anna Lenzdorff, nach deren Rückkehr aus Italien. Sie, deren soziale Faulheit längst sprichwörtlich geworden war, hatte in den letzten Tagen Karten abgegeben und von vielen Menschen Notiz genommen, die sich längst von ihr vergessen glaubten, und dies, obgleich sie nicht die Absicht hegte, ihre Enkelin bereits in diesem Jahre in die Welt zu führen. Aber ein wenig zeigen wollte sie sie doch.

Ihr Empfangstag war infolge ihrer der Berliner Gesellschaft gegenüber plötzlich entfalteten Liebenswürdigkeit sehr besucht gewesen – Erika hatte den Tee serviert, sehr schön, in einer Toilette von ausgekünstelter Schlichtheit und mit einem königlichen Selbstbewußtsein, das sie der Begeisterung dankte, welche die Großmutter für ihre verschiedentlichen Vorzüge an den Tag legte. Sie klapperte nicht ungeschickt mit den Teetassen, sie warf die Rahmkanne nicht um, sie drängte niemand Biskuite auf, der keine wollte – kurz, sie ließ sich keine von den Ungeschicklichkeiten zuschulden kommen, welche sonst gesellschaftliche Novizinnen aus purer Schüchternheit begehen, und war, wie ihre Großmutter sich ausdrückte, einfach »merkwürdig«. – Wenigstens vierzigmal hatte die Großmutter heute bereits immer mit derselben stolzen Betonung gesagt »meine Enkelin« und dann jedesmal den Eindruck geprüft, den die ungewöhnliche Erscheinung des jungen Mädchens auf den Gast machte – es war zumeist ein überraschender Eindruck –, worauf Gräfin Lenzdorff, die lustig über alles hinwitzelnde Gräfin Lenzdorff, die sonst nichts schärfer zu verspotten pflegte als den in Deutschland üblichen Familienidealismus, sofort in einem sehr lauten Flüsterton, von dem Erika kein Wort entging, anfing, die ungewöhnlichen Eigenschaften ihrer Enkelin aufzuzählen: »Was sagen Sie zu dieser Enkelin, die mir da ins Haus geschneit kommt, um mir meine alten Tage zu verschönern? Ich habe Glück, wie immer, nicht wahr? Eine reizende Erscheinung, und diese Haltung! Sehen Sie doch einmal das Profil an, und die Linie von Hals und Wange – so, jetzt ... Und wenn man bedenkt, daß ich mich gegen den Gedanken, das Kind bei mir aufnehmen zu müssen, gewehrt habe mit Händen und Füßen! Schändlich habe ich mich benommen gegen die Kleine – jetzt hole ich das Versäumte nach. Ich verwöhne sie ein wenig, aber wie sollte ich auch nicht! Ich dachte mir, es würde eine fürchterliche Unbequemlichkeit sein, ein junges Mädchen im Hause zu haben – aber im Gegenteil, ich werde jung neben ihr. Man braucht sich gar nicht geistig neben ihr zu bücken, für alles interessiert sie sich. Ein junges Mädchen, das auf dem Lande aufgewachsen ist – wild! Anfangs wollte ich sie in eine Pension geben. Hm! Es steckt mehr in ihrem goldenen Kopf drin als hinter den blauen Brillen von allen Pensionatsvorsteherinnen in Deutschland. Das ist nicht das Interessanteste an ihr. Das Interessanteste ist ein gewisser herber edler Zug in ihrer Natur, der mir imponiert. Sie ist ganz eigentümlich.«

Darin hatte Gräfin Lenzdorff recht, Erika war eigentümlich – unrecht aber hatte sie darin, ihre Enkelin vor ihren Bekannten so weitläufig herauszustreichen; erstens langweilte es ihre Bekannten – wann hat es jemanden unterhalten, einen ihm nicht nahestehenden Menschen loben zu hören! – und zweitens erregte sie durch das massenhafte Lob, welches sie über die Enkelin ausschüttete, die Opposition ihrer Zuhörer. An jenem ersten Empfangstage legte sie den Grund zu der großen Unpopularität Erikas, von welcher diese noch lange nachher schwer zu leiden haben sollte.

Der Nachmittag neigte seinem Ende, die Lampen waren bereits angezündet, nur drei oder vier Damen, alle in schwarz, einer über die Gesellschaft verhängten Hoftrauer halber, saßen noch in der intimsten Ecke des Salons; knapp neben dem Kamin eine winzige alte Dame, Frau von Norbin, geborene Prinzessin Frenz, mit einem von langen silbergrauen Scheiteln eingerahmten, fein geschnittenen Gesichtchen, welches die Farbe eines welken Rosenblattes hatte, und mit einem dünnen hellen Stimmchen, das wie eine uralte Spieluhr klang und von weit herzukommen schien. Sie mochte fast um zehn Jahre älter sein als Gräfin Anna, gehörte jedoch von Jugend an zu ihrem intimsten Umgang und stammte gleich ihr aus einer kurländischen Familie, die dem Wiener Kongreß viel zu tun gegeben hatte. Sie hatte Talleyrand in ihrer Jugend gekannt und mit Chateaubriand korrespondiert, und Gräfin Lenzdorff besaß von ihr ein Aquarell, das sie als junges Mädchen darstellte, mit einer Weinlaubkrone auf einer Bacchantenfrisur und mit sehr bloßen Armen ein Tamburin in die Luft haltend. Die verjährte Romantik des verblaßten Aquarells stand in sonderbarem Widerspruch zu der würdevollen Hinfälligkeit und dem poetisch gedämpften Zauber der alten Frau.

Ihr gegenüber, sehr darum beflissen, sich ihre Gunst zu erwerben, saß eine gewisse Frau von Geroldstein, Gattin eines reichen Geschäftsmannes, der sich in einem der kleinen deutschen Fürstentümer ein Adelspatent gekauft – ohne dadurch, wie er zu spät einsehen gelernt, die Hoffähigkeit für seine Frau zu erwerben; empört über die Kleinlichkeit der deutschen Duodez-Souveräne, war er nach Berlin übergesiedelt, wo seine Frau für die Entfaltung ihrer sozialen Bestrebungen einen günstigen Spielraum zu finden hoffte. Nachdem sie drei Jahre in Berlin verbracht hatte, ohne aristokratischen Anschluß finden zu können, hatte sie sich aus Verzweiflung auf Zelebritäten, auf Künstler, Professoren und Politiker (selbst Demokraten) geworfen, um ihrem Salon Glanz zu verleihen. Nachdem sie endlich den gesuchten aristokratischen Anhaltspunkt gefunden, in einem Badeort in Form von einer Generalin mit Schulden und einer vierzigjährigen Tochter, die sie für vierundzwanzig ausgab, waren ihre alten Bekannten ihr im Weg. Es war die Aufgabe ihres Lebens, die Verzeihung der Gesellschaft dafür zu erwirken, daß sie einmal Eugen Richter empfangen hatte. Die Gesellschaft verzeiht nie; aber sie vergißt manchmal, besonders, wenn's ihr bequem ist. Es fing an, ihr bequem zu werden, allerhand an Frau von Geroldstein zu vergessen, ihre politischen Bekanntschaften, und daß ihr Mann sein Vermögen durch Armeelieferungen von zweifelhafter Qualität erworben hatte.

Frau von Geroldstein war so brauchbar und zeigte sich nebenbei zu allen Konzessionen bereit, die man nur irgendwie von ihr verlangte. Sie warf Eugen Richter über Bord und legte eine rührende Schwärmerei für den Hofprediger Dryander an den Tag. Sie bombardierte die ganze Welt mit Gefälligkeiten und Einladungen zu Diners, die vortrefflich waren und bei denen man keinen unliebsamen Persönlichkeiten mehr begegnete. Sie machte überall unermüdlich Besuche und besaß im vollsten Maße jenen Artikel, der zu der glänzenden Laufbahn einer Streberin am unentbehrlichsten ist – eine sehr dicke Haut.

Sie war eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, mit einer von Natur aus dünnen Taille, die sie künstlich bis zum Unerträglichen einzwickte, mit großen, beständig manieriert vor sich hin schmachtenden Gazellenaugen und mit einem Gesicht, das hübsch gewesen wäre, wenn es nicht, wie alles an ihr, irgendwie falsch und verzeichnet ausgesehen hätte. Natürlich trug sie der Hoftrauer zu Ehren dreimal mehr Krepp an sich als alle anderen anwesenden Damen, und schien sich heute als Aufgabe gestellt zu haben, die Gunst der kleinen Frau von Norbin zu erobern. Aber Frau von Norbin verhielt sich ablehnend – bis die Geroldstein endlich aus ihrem Gespräch mit Gräfin Lenzdorff entnahm, daß das Hauptinteresse der alten Frau in einem Kinderspital bestand, dessen Leitung sie beaufsichtigte. Die Geroldstein erklärte ihr sofort, daß die Verbesserung der Hygiene für arme Kinder das eigentliche Ziel ihres Lebens bilde – wann könne sie das Kinderspital besuchen? Gräfin Lenzdorff lächelte ein wenig boshaft, während Frau von Norbin, auf diesem wohltätigen Vogelleim gefangen, sich mit der Geroldstein sofort in ein Gespräch über die praktischste Art der Kinderpflege vertiefte.

Die Gräfin Lenzdorff unterhielt sich indessen köstlich mit einer jungen Hofdame, deren Sinn für feinen Humor triumphierend den abschwächenden Einfluß der Hofluft überdauert hatte und die jetzt die jüngsten Miseren einer gewissen Gräfin Ida von Brock zum besten gab.

Diese Gräfin Brock war eine in der Berliner Gesellschaft wohlbekannte Persönlichkeit. Man nannte sie gewöhnlich die böse Fee. Man unterließ es nämlich häufig, sie bei irgendeinem sozialen »Hochamt« – das Wort stammte von Anna Lenzdorff – einzuladen, und dann erschien sie ungebeten und stiftete nachträglich durch Klatschereien Unheil an. Sie suchte jeden Winter neue Löwen für ihre Menagerie, wie man ihren Salon im familiären Gespräch zu titulieren pflegte, Künstler, die salonfähig genug waren, um sich mit Weltmenschen anständig zu vertragen, und Weltmenschen, die geistreich genug sein sollten, um die Künstler zu würdigen. Da sie, dank ihrer zahlreichen Wunderlichkeiten und Indiskretionen, mit den verschiedentlichsten Leuten entzweit war, mußte sie immer ein paar einflußreiche Freundinnen bitten, anthropologische Merkwürdigkeiten für sie zu requirieren. Unlängst hatte sie Gräfin Lenzdorff darum angegangen, ihr »zwölf geistreiche Grafen« zu besorgen – eine Bestellung, welche Gräfin Lenzdorff als unausführbar wegen momentaner Erschöpfung des Vorrats bezeichnet hatte.

In der Absicht, ihre Donnerstagsabende auch in diesem Jahre zu beleben, hatte die Gräfin Brock sich's ausgedacht, an jedem derselben irgendein von ihr besonders beliebtes modernes dramatisches Meisterwerk vorlesen zu lassen, und hatte auch bereits einen jungen schönen Schauspieler mit breiter Brust und kräftiger Stimme angeworben, um die Dichtungen möglichst glänzend zur Geltung zu bringen. In der vorigen Woche hatten die Vorlesungen begonnen, und zwar mit einer deutschen Übersetzung von Dumas' » Femme de Claude«.

Die junge Hofdame hatte dem Abend beigewohnt – »es sei,« wie sie behauptete, »zum ›Sticken‹ komisch gewesen.« Unter den Zuhörerinnen hatten sich mehrere junge Mädchen befunden. Kaum hatte sich der junge schöne Schauspieler mit der kräftigen Stimme effektvoll und begeistert bis in die Mitte des zweiten Aktes hineingelesen, so rauschte etwas auf. Es war eine Mutter, die ihre Tochter hinausführte. So ging es den ganzen Abend. Während der Schauspieler unbeirrt weiterdeklamierte, waren fast nach jeder Szene irgendein paar zartfühlende Wesen hinausgelaufen, bis die Dame des Hauses sich mit dem jungen schönen Schauspieler und einigen Herren so ziemlich allein befand. »Ich hab's ausgehalten neben ihr,« erklärte die Hofdame, »aber ich versichere Ihnen ...«

Im selben Augenblick meldete der Diener: »Frau Gräfin Brock!«

Sie war eine mittelgroße Frau in einem mächtigen, hochschulterigen Biberpelz, was eigentlich gegen die Hoftrauer verstieß, dafür aber mit einem sehr langen Kreppschleier auf ihrem malerischen Maria-Stuart-Hut, einem wahren Muster von einem Schleier, der ihr wie eine loyale Trauerdemonstration drei Ellen lang über den etwas gewölbten Rücken herabhing. Ihre bereits stark ergrauten Haare waren oberhalb ihrer Stirn in einem malerischen Toupet aufgekräuselt und ihr früher sehr schön gewesenes Gesicht durch allerhand manierierte Grimassen entstellt, die bald süßlich, bald giftig, am öftesten aber beides zusammen waren.

Die Gräfin Lenzdorff führte ihr sofort ihre Enkelin vor, worauf die böse Fee nicht achtete, und Erika machte ihr einen anmutigen Knicks, was sie nicht sah. Sie lieferte übrigens auch außerdem noch die merkwürdigsten Beweise von Kurzsichtigkeit, indem sie sich auf Frau von Norbin setzen wollte und Frau von Geroldstein für die siebzigjährige Doyenne der deutschen Romanliteratur hielt.

Frau von Norbin lächelte gutmütig, Frau von Geroldstein fand die Verwechslung goldig.

»Hm! hm! Aber was hat man denn so laut gelacht, als ich eintrat?« fragte die böse Fee, sich neben Gräfin Lenzdorff niederlassend, süßlich.

Und da sowohl die Hofdame als auch die Hausfrau etwas betroffen schwiegen, so setzte sie seufzend hinzu: »Gewiß über mein Mißgeschick. Ja, ja, ich weiß, Klara« – zu der Hofdame – »Sie erzählen das Désastre in ganz Berlin. Es war schrecklich – o ich danke, danke« – dies, verbindlich grinsend zu Erika, die ihr eine Tasse Tee präsentierte – »dieser gräßliche Schauspieler!« wimmerte sie, indem sie mit einer Gebärde, die ihr besonders eigen war und den Höhepunkt ihrer Verzweiflung ausdrücken sollte, ihre beiden dürren, schwarzbehandschuhten Hände, die Flächen herauskehrend, emporhob; »ich hab' ihn auch schon bei unserem Intendanten angeschwärzt, und an das Berliner Hoftheater kommt er in diesem Leben nicht mehr. Mir meine Gäste so unverschämt aus meinem Salon herauszulesen und mich noch in den Ruf zu bringen, daß ich bedenkliche Literatur liebe!« »Hatte er dir das Stück vorgeschlagen?« fragte Gräfin Lenzdorff.

»Nein, ich hatte es gewählt. Aber mein Gott, das Stück war Nebensache – die Art des Vortrages war alles. Er brauchte ja nur über die bedenklichen Stellen hinüberzuhüpfen, anstatt dessen brüllte er sie meinen Gästen immer am allerlautesten in die Ohren.«

»Offenbar gefielen ihm die am besten,« meinte die Hofdame lachend.

»Selbstredend,« entrüstete sich die böse Fee, »diese Leute haben ja weder Takt noch Anstandsgefühl; nun, ich habe dem jungen Mann natürlich ein für allemal mein Haus verwiesen.«

»Das Ärgste ist, daß mir momentan für meine Donnerstage nichts in Aussicht steht,« fuhr sie klagend fort.

»Wie ich in der Nationalzeitung las, werden bei Kroll nächstens ein paar Almeen auftreten, die sich auf der Durchreise zwischen Paris und Petersburg befinden,« bemerkte Gräfin Lenzdorff boshaft, »die könntest du dir ja für einen Abend ausborgen.«

»Die Aufführung der Almeen ist untersagt worden,« mischte sich die Geroldstein, die immer alles wußte und keinen Sinn für Humor hatte, ins Gespräch. Die Gräfin Brock, welche erklärt hatte, die »Großherzogin«, wie sie sie nannte, unter keinen Umständen empfangen zu wollen, tat, als höre sie nicht; Frau von Norbin erkundigte sich danach, was eine Almee sei – Gräfin Lenzdorff lachte und machte eben, halblaut aus Rücksicht für ihre Enkelin, eine drastische Beschreibung der Tanzweise dieser orientalischen Spezialität, als Herr von Sydow gemeldet wurde.

»Goswyn!« rief Gräfin Lenzdorff aufrichtig erfreut. »Schön von Ihnen, daß Sie endlich auftauchen – nicht schön war's, daß Sie so lange auf sich warten ließen!«

»Ich bin gekommen, sobald ich erfahren habe, daß Sie zurückgekehrt seien,« entgegnete Sydow.

»Hm! Und wie gewöhnlich erscheinen Sie so spät als möglich,« sagte die Gräfin in ihrer wundervollen Zerstreutheit, »in der Hoffnung, mich allein zu finden.«

»Das nenn' ich eine Art, die Menschen hinauszuwerfen,« rief heiter vorwurfsvoll Frau von Norbin – Frau von Geroldstein fand irgend etwas, man wußte nicht genau, was, »goldig« und behauptete, »sie habe nichts übelgenommen«. Sie nahm nie etwas übel. Trotz des lachenden Protestes der Hausfrau, daß sie für ihren Teil es durchaus nicht auf eine Tête-a-tête mit dem jungen Offizier abgesehen habe, erhob sich Frau von Norbin, noch immer gutmütig neckend, und zog sich zurück. Auch die junge Hofdame entfernte sich.

Frau von Geroldstein blieb noch – sie blieb immer bis zuletzt, »um Bekanntschaften anzuknüpfen«, heute aber hatte sie noch einen speziellen Grund. Sie ahnte nämlich mit dem erstaunlichen Spürsinn, der ihr bei ihrem Strebertum so großen Vorschub leistete, daß endlich, dank der jammervollen Donnerstagsverlegenheiten, mit der Gräfin Brock »etwas zu machen sein würde«. Da sie auf diesen günstigen Moment seit einem Jahre vergeblich gewartet hatte, ist es wohl nicht zu verwundern, daß sie ihn nicht ungenützt entschweben ließ.

Während Erika mit der bescheidenen und ungezwungenen Verbindlichkeit, welche sie sich so rasch anzueignen gewußt hatte, Frau von Norbin und die Hofdame in das Vestibül hinausgeleitete, wo von der großen Menge Diener, die es heute bevölkert hatten, nur noch drei sehr lange Exemplare mit dicken Pelzkragen übriggeblieben waren, heftete Goswyn seinen Blick auf die Wand und erblickte zu seinem großen Erstaunen dort denselben Böcklin, der während seines letzten Besuchs der Gräfin der unerwünschten Ankunft ihrer Enkelin halber entfernt worden war.

»Also haben Sie Ihre Enkelin doch in ein Pensionat geschickt?« bemerkte er.

»Ich!« rief Gräfin Lenzdorff ganz entrüstet über die Zumutung, »was fällt Ihnen ein, ich bin viel zu alt, als daß ich das Vergnügen, mit dem Kind beisammen zu sein, hinausschieben könnte.« – Als sie merkte, wie die Augen des jungen Mannes nachdenklich auf ihrem Lieblingsbild haften blieben, fiel ihr sofort die Unterredung ein, welche sie in diesem Frühjahr mit ihm gehabt. »Ja, richtig, Sie erinnern sich auch noch, wie schwer es mir fiel, die Kleine bei mir aufzunehmen. Ich lache, wenn ich daran denke. Und was das Bild anbelangt, unnütze Mühe, das vor ihr zu verstecken; als sie zu mir kam, hatte sie bereits den ganzen Vatikan im Kopf – sie kannte alle Meisterwerke der Welt durch Photographien. Sie sieht sich alles an und – sieht an allem vorüber! Ich brenne darauf, sie mit Ihnen bekannt zu machen – haben Sie das Kind nicht bemerkt – freilich in diesem Februarzwielicht – den Augenblick ist sie hinaus, um Fanny Norbin zu eskortieren.«

»Das war Ihre Enkelin – ?« sagte Sydow überrascht, »ich dachte, es sei Ihre Nichte Odette.«

»Wo haben Sie denn Ihre Augen gehabt?« rief Gräfin Lenzdorff etwas verdrießlich aus. »Odette ist ja recht hübsch, aber eine Grisette – eine reine Grisette im Vergleich zu Erika. Erika ist um eine Hand höher, und dann, mein Lieber – un port de reine – absolument – un port de reine! Ah, da ist sie! Erika, Herr von Sydow wünscht dir vorgestellt zu werden; du weißt, wer's ist, ein großer Liebling von mir und der netteste junge Mensch in Berlin.«

Erika neigte mit einer verbindlichen kleinen Bewegung das Haupt, und während der junge Mann zu dem übertriebenen Lob der alten Frau ärgerlich errötete, sagte sie mit vollendeter Selbstbeherrschung: »Für mich hat die Großmutter natürlich schon früher Reklame gemacht; wir können, glaube ich, beide zufrieden sein, Herr von Sydow!«

Er verbeugte sich nun sehr tief, worauf er auf eine einladende Handbewegung der Dame des Hauses Platz nahm. Er wußte, daß Gräfin Lenzdorff von ihm erwartete, er solle ihrer Enkelin etwas sagen. Aber er konnte nicht, er war dumm vor Überraschung. Gräfin Lenzdorff hatte ihm freilich damals gleich nach der Ankunft des jungen Mädchens geschrieben, daß dasselbe reizend sei, aber er hatte diese briefliche Versicherung als einen Beweis von Reue aufgefaßt – er wußte, daß die Reue die Menschen zur Übertreibung geneigt macht, besonders gutherzige und egoistische Persönlichkeiten, für die die Erinnerung an ein begangenes Unrecht zu den größten Peinlichkeiten ihrer Existenz gehört, weshalb sie dasselbe mit einer wahren Überschwenglichkeit gutmachen möchten, nur um nicht mehr daran denken zu müssen.

Er hatte ja das junge Mädchen erblickt, ängstlich, blaß, scheu, er konnte sich den Eindruck, den es damals auf ihn gemacht, nicht zusammenreimen mit dieser bildschönen und bereits weltvertrauten jungen Dame, die so durchaus geschaffen schien, der epikureischen Selbstsucht der Großmutter ein ausgesuchtes Labsal zu bieten. Er wußte nicht warum, aber es ärgerte ihn fast, daß Erika so schön war, er kam sich in dem Gefühl zärtlichen und besorgten Mitleids, das sie ihm eingeflößt hatte, lächerlich vor.

Das Wort, das er vergeblich suchte, um ein Gespräch zwischen ihr und ihm anzuknüpfen, fand sie. »Seltsam, daß Sie mich nicht erkannt haben, nicht einmal im Salon meiner Großmutter, wo Sie mich doch erwarten mußten,« begann sie munter; »ich hätte Sie in Afrika erkannt.«

»Wo habt ihr einander denn schon gesehen?« frug Gräfin Lenzdorff neugierig.

»Auf der Treppe, am Abend meiner Ankunft,« erklärte Erika. »Sie entsinnen sich dessen offenbar nicht, Herr von Sydow, ich hätte Ihnen gar nicht eingestehen sollen, daß ich mich Ihrer so genau erinnere.«

»Oh, ich erinnere mich sehr gut,« versicherte Sydow und stockte plötzlich mit einem schwachen, zögernden Lächeln, das ihm eigen war und hinter dem empfindliche Seelen mitunter eine verhaltene Bosheit witterten, während sich eigentlich nichts dahinter barg als eine gewisse Erregung, Verlegenheit, ein momentanes Nichtzurechtlegen der Umstände. Er war nicht sehr rasch, außer in Momenten großer Gefahr, wo er plötzlich eine merkwürdige Geistesgegenwart entwickelte.

»Nun, eigentlich ist es kein Wunder, daß Sie mir mehr Eindruck gemacht haben als ich Ihnen,« fuhr Erika einfach und unbefangen fort, »erstens waren Sie der erste preußische Offizier, dem ich je begegnet war – in Österreich hatte ich nie etwas so Hohes und Breites gesehen; – und zweitens haben Sie mich so respektvoll gegrüßt. Sie wissen nicht, wie wohl mir das damals getan hat, ich war halbtot vor Angst – Sie sahen aus, als ob Sie mich bedauerten!«

»Ich bedauerte Sie auch, Gräfin,« gestand er ehrlich. Der Klang ihrer Stimme, der das Herz der Großmutter zuerst gewonnen, tat auch ihm wohl. Übrigens erschien sie ihm doch noch sehr kindisch, seitdem sie sprach. Der Eindruck selbstbewußter Weltlichkeit, den ihre vornehme Erscheinung auf ihn gemacht, hatte sich bereits verwischt.

»Sie wußten, daß sich meine Großmutter nicht auf mich freute?« fragte sie.

»Ja, ich hatte es ihm gesagt, und er hat mich dafür ausgezankt,« erklärte Gräfin Lenzdorff und nickte humoristisch.

»Aber gnädigste Gräfin!« wehrte sich Sydow halb lachend.

»Ach, ich sage immer die Wahrheit,« rief die Gräfin – »immer, das heißt, so oft als möglich und manchmal öfter, es ist die einzige Tugend, auf die ich mir etwas zugute tue. – Und Sie hatten recht damals, Goswyn. Aber wissen Sie, wie Sie jetzt aussehen? – als ob Sie sich Ihres Mitleids wegen schämten. Hm! ich hab' schon wieder einen Nagel auf den Kopf getroffen, und einen empfindlichen Nagel. Aber die Menschen sind nun einmal so gemacht. Eine Verschwendung gibt es, die sich die Großmütigsten nicht verzeihen, hinausgeworfenes Mitleid. Und schließlich müssen Sie einsehen, daß die Kleine dieses Artikels nicht mehr bedarf!«

Goswyn schwieg. Wenn die Gräfin auch in der Tat anfänglich den Nagel auf den Kopf getroffen, so war er doch von der Nichtigkeit ihres letzten Satzes nicht überzeugt. Etwas in dem Benehmen der alten Frau gegen ihre Enkelin ging ihm gegen den Strich – unter anderem, daß sie, während sie mit ihm sprach, plötzlich ihm zuzwinkernd Erika beim Kinn nahm und ihr Gesicht leise so drehte, daß er die besonders schöne Linie ihrer Wange bemerken möge.

Gräfin Brock hatte sich indessen übellaunig gegen die verheerende Liebenswürdigkeit der Großherzogin gewehrt und mit denselben unzufriedenen Grimassen die verschiedentlichsten Anerbietungen abgelehnt, unter anderem die eines Wundermittels gegen Gesichtsschmerzen, an denen die arme Brock litt, was teilweise die beständigen unheimlichen Zuckungen ihrer Züge erklärte.

Sich endlich mit Heroismus und Grobheit diesen unermüdlichen Zudringlichkeiten entwindend, hatte sich die böse Fee an den jungen Offizier herangeschoben, der merkwürdigerweise ihr Neffe war. Merkwürdigerweise! – denn Familienähnlichkeit bestand zwischen ihnen nicht die mindeste, und war die Verwandtschaft zwischen seiner ernsten Natürlichkeit und ihrer unruhigen Affektation wirklich schwer zu erklären.

»Goswynchen!« sagte sie, sich neben ihm niederlassend, sehr süß.

»Tante.«

»Du hast mich so fremd gegrüßt, hast dich kaum bei mir angemeldet,« flötete sie einschmeichelnd, vorwurfsvoll.

»Du schienst mir so sehr beschäftigt.« »Beschäftigt – ja, wahrlich beschäftigt – seit einer Viertelstunde zapple ich wie eine Fliege im Netz,« schnaubte die Gräfin Brock, »du kommst mir ja wie gerufen, Goswynchen!« Und sie tippte mit dem Zeigefinger zärtlich an seinen Aufschlägen herum.

»Hm! Soll ich deine letzte Abrechnung mit deinem Bankier prüfen?« fragte er trocken – seine Sympathien für sie waren matter Natur.

»Gott bewahre,« entsetzte sich die böse Fee, indem sie ihrer Gewohnheit entsprechend ihre schwarzen Hände in die Höhe streckte. »Um etwas so Prosaisches handelt sich's diesmal nicht. Es handelt sich nur um...«

»Ja, um deine Donnerstage,« fiel ihr Goswyn etwas schroff ins Wort.

»Du hast es erraten, Goswynchen, ich brauche einen neuen Stern und du könntest mir ein wenig helfen. Kennst du Perfection?«

»Den Pianisten meinst du?«

»Ja, denselben.«

»Ich habe ein paarmal mit ihm musiziert.«

Goswyn spielte nämlich in verlorenen Stunden Geige, eine kleine Schwäche, die er nicht offiziell eingestand und von der er nicht gern reden hörte.

»Siehst du – dacht ich's doch!« rief die Brock, wobei ihr aus Begeisterung das rechte Auge zufiel. »Du mußt ihn bei mir einführen.«

»Bitte mich zu entschuldigen,« wehrte sich energisch der junge Mann; »ich bahne keine Bekanntschaften an zwischen Künstlern und dir. Ich weiß, was daraus entsteht, erst quetschst du so einen Künstler aus wie eine Zitrone, und dann weisest du ihm die Tür unter dem Vorwand, daß er dein ästhetisches Gefühl verletzt, daß seine Manieren nicht deinen Wünschen entsprechen. Darüber hattest du dir vielleicht vor der Ausnützung seines Talents auch schon klar werden können; daß ein Künstler manchmal schlechte Manieren hat, weiß man.«

»Ach ja!« seufzte Frau von Geroldstein, die ihren Sessel wieder ganz nahe an den Rest der Gesellschaft herangeschoben hatte.

»Alle Künstler haben schlechte Manieren,« behauptete mit ihrer lustigen Insolenz Gräfin Lenzdorff.

»Auch die ganz großen?« fragte Erika etwas beklommen. Sie dachte dabei an den jungen Maler, den sie damals neben dem zwecklosen Brückenunding getroffen, und wußte nicht recht, ob sie der Großmutter ihren Hochmut verübeln sollte oder sich schämen für den kindischen Kultus, den sie so viele Jahre lang mit dem Andenken des hübschen Vagabunden getrieben, der nichts mehr von sich hatte hören lassen. Während Frau von Geroldstein seufzte: »Die ganz großen – ach freilich, die ganz großen!« – rief Gräfin Anna lustig dazwischen:

»Die erst recht! Künstlerische Mittelmäßigkeiten eignen sich den gewissen oberflächlichen Salonschliff doch noch eher an als die in ihre Gedankenwelt versunkenen großen Genies. Was wollt ihr, die landläufigen guten Manieren sind Dutzendkleider, nur für den Durchschnittsmenschen gemacht, sie sitzen nun einmal denjenigen, die über das gewöhnliche Maß hinausgeraten sind, schlecht. Mir ist das gleichgültig. Genialität mit Zoten garniert liebe ich nicht, ein wenig naive Unbeholfenheit aber mißfällt mir keineswegs, im Gegenteil, um mir sympathisch zu sein, muß ein Künstler immer ein Stück Urwaldbären in sich haben – aus den geleckten, geschniegelten Kunststutzern, den Gentlemen artists, die sich für den Schnitt ihrer Lackschuhe mehr interessieren als für ihre Kunst, mache ich mir gar nichts!«

»Ach ja!« seufzte Frau von Geroldstein, »ich auch nicht.«

»Hm! deine Vorträge sind immer sehr belehrend,« versicherte süßlich giftig die böse Fee, »aber aus meiner Verlegenheit helfen sie mir nicht.« Sie erhob sich mit einem traurigen Seufzer – dabei glitt ihre Pelzboa ihr von den Schultern auf die Erde. Erika bückte sich danach und reichte sie ihr höflich. Die böse Fee fixierte das junge Mädchen durch ihr Lorgnon – eine langsam aufdämmernde Überraschung malte sich auf ihren durch Tick und Affektationen verzerrten Zügen. »Sie sind wohl die Enkelin aus Böhmen?« sagte sie, immer noch das Lorgnon an den Augen.

»Ja, Frau Gräfin.«

»Ach, verzeihen Sie, ich hatte Sie die ganze Zeit für die Gesellschafterin meiner lieben Anna gehalten. Jetzt erinnere ich mich, daß die Gesellschafterin bereits im vorigen Jahr gestorben ist. Ich habe ja selbst einen Kranz zu ihrem Begräbnis geschickt. Die arme Gute, sie war zum Sterben langweilig, aber ein vortreffliches Mädchen, du erinnerst dich ihrer doch, Goswynchen. Aber wie habe ich mich nur so irren können! Ich bin freilich sehr kurzsichtig und sehr zerstreut« – dabei legte sie Erika den Finger unter das Kinn und lächelte ein unbeschreibliches Lächeln, das sich zwischen ihrem vorspringenden Kinn und ihrer spitzen Nase herumkrümmte wie ein von Krämpfen befallener Regenwurm. »Sie sind ja sehr hübsch, mein liebes Kind! Wie heißen Sie?«

»Erika!«

»Erika – Heideblume! Und Sie kommen aus Böhmen – wie poetisch, wie poetisch! Sie ist wirklich reizend, deine Enkelin, Anna! Findest du nicht, Goswynchen?«

Sydow wurde feuerrot, runzelte die Stirn und schwieg.

»Ich eile fort – mir scheint, ich fange an, Dummheiten zu sagen,« witzelte die Gräfin Brock, dann mit entsetztem Blick auf das Fenster: »Herr des Himmels, es gießt! Willst du mir eine Droschke kommen lassen, Anna?«

»Erika! drück' auf die Klingel,« sagte Gräfin Lenzdorff.

Ehe Erika den Befehl hatte ausführen können, war ihr Frau von Geroldstein in den Arm gefallen. »Aber, liebe Komtesse Erika,« rief sie eifrig, »zu was eine Droschke kommen lassen, es wird mir ja das größte Vergnügen sein, Gräfin Brock nach Hause zu fahren, mein Wagen wartet unten. Nicht wahr, gnädigste Gräfin« – dies zu der bösen Fee – »Sie machen mir das Vergnügen?«

»Ich kann Ihnen das nicht zumuten, ich kenne Sie viel zu wenig, um Ihnen zur Last zu fallen,« erwiderte sehr verdrießlich die Brock.

»Aber wie können Sie von einer Last reden, es ist mir eine Freude.«

»Es ist gar keine Freude, mit mir zu fahren, ich muß immer beide Fenster geschlossen haben wegen meiner Gesichtsschmerzen,« brummte die Fee.

Während dieser lebhaften Auseinandersetzung stand Erika, die Hand nach der elektrischen Schelle ausgestreckt, und harrte auf nähere Weisung, als die Sache plötzlich eine den Wünschen der Frau von Geroldstein entsprechende Wendung nahm.

Herr Reichert wurde gemeldet – ohne ein weiteres Wort zu entgegnen, verschwand die Gräfin Brock mit der Geroldstein.

Ihr überstürzter Rückzug hatte seine geheimen Gründe. Reichert, ein besonderer Günstling Anna Lenzdorffs, ein Tiermaler mit einem Gesicht wie ein Löwe und einem unverwüstlichen Vorrat von drastischen Anekdoten, gehörte zu den » remords« der bösen Fee. Ihre » remords« nannte sie die bereits erwähnten Künstler, die sie nach gehöriger Ausnutzung ihres Talents und ihrer Gefälligkeit rücksichtslos von sich abgeschüttelt hatte.

Kurze Zeit darauf war auch der Tiermaler verschwunden, und von den vielen Besuchern der Gräfin war nur Sydow, und zwar auf einen ausdrücklichen Wunsch der alten Dame, geblieben.

»So, jetzt hab' ich's gerade genug,« rief sie, da sich die Tür hinter ihrem geliebten Tiermaler geschlossen. »Sie bleiben doch zu Tisch, Goswyn, wir essen heute sehr früh, um sechs, und Sie können uns dann in die Singakademie begleiten, Joachim spielt und ich habe ein Konzertbillett zuviel.«


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