Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Goswyn befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand. In aller Eile wechselte er die Uniform und machte sich zurecht. Sein Mund war trocken, alle Nerven in ihm sträubten sich. Er wußte nicht, was er fürchtete.

Sobald er fertig war, lieh er, was sonst seinen spartanischen Gewohnheiten durchaus fern lag, sich einen Wagen kommen, um die Zeit zu gewinnen, den Umweg durch die Moltkestraße zu machen und noch einmal nachzusehen, wie dort die Sachen standen. Die gleichmäßig rüttelnde Bewegung des Wagens beruhigte einigermaßen seine Nerven, seine Gedanken fingen an abzuschweifen. Mit einemmal verlangsamte sich das Tempo der Droschke, zugleich schlug ein eigentümlich grollender Lärm wie von brandenden Wogen eines aufgeregten Menschenmeeres an sein Ohr. Er sah zum Wagenfenster hinaus – vor ihm drängte sich Kopf an Kopf. Der Wagen blieb stehen. Er sprang heraus.

Dort vor dem Hause, das seine Schwägerin bewohnte, war es. Schulter an Schulter standen sie, drängten sich vorwärts. Ein unruhiges, aber gedämpftes Murmeln ging durch die Reihen – von Zeit zu Zeit hörte man mitten dazwischen ein zynisches Witzwort, ein kurzes Lachen, das ohne Echo verstummte – das Fluchen von Kutschern, die sich keinen Weg mehr bahnen konnten, das Scharren und Prusten aufgeregter Pferde – alles in dem fahlen Märzzwielicht, in das die Laternen gelb und trüb hineinbrannten. Er selbst konnte anfangs nicht vorwärtsbringen, dann machte man seiner Offiziersuniform Platz.

Er läutete scharf. Es dauerte längere Zeit, ehe man ihm aufmachte; er mußte seinen Namen nennen, ehe man ihn hineinließ. Man hatte offenbar Maßregeln getroffen, um das Haus gegen die drängende Neugier der Menge zu schützen.

Die Tür der Wohnung hingegen stand offen. Er eilte vorwärts. Er fand niemand, der ihn aufgehalten, und niemand, der ihm Auskunft gegeben hätte.

Da, inmitten des jetzt grell beleuchteten, traulichen Zimmers, in dem er mit seinem Bruder vor dem Kamin gesessen, stand Dorothee, in einem grauen Kleid und einem Theaterhut aus blaßroten Rosen – weiß mit starren, harten Zügen und einem unheimlichen, unnatürlichen Lächeln um den Mund.

»Was ist geschehen?« rief Goswyn.

Sie versuchte zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus. Das Lächeln trat stärker auf ihrem Gesicht hervor, und ihre Augen brannten. Ihr Gesicht erinnerte ihn an etwas – an den Abend bei der Brock, wo sie nach dem Vortrag ihrer Couplets neben dem Klavier gestanden und plötzlich gemerkt hatte, daß sie unter allen anwesenden Männern als einzige Frau zurückgeblieben war.

Ein paar Menschen hatten sich bis in die Stube hereingedrängt. Goswyn wies dieselben mit einer herrischen Gebärde hinaus. »Wo ist er?« fragte er heiser. Stumm deutete sie auf eine Tür.

Er trat ein. Ihr Schlafzimmer war's, duftig, hell, weichlich – und dort am Fußende des Bettes lag eine dunkle Gestalt, das Gesicht gegen den Boden, die Arme weit ausgestreckt.

Zwei obrigkeitliche Personen, von denen die eine damit beschäftigt war, etwas in einem Buche niederzukritzeln, befanden sich in dem Zimmer.

Ganz unerwartet war es geschehen! Die Kammerjungfer erzählte es ihm. Wie Ihre Durchlaucht nach Hause gekommen, hatte sie erst ein paar Worte mit dem Herrn Baron gewechselt, dann sich zurückgezogen, um sich für das Theater zurechtzumachen. Der Herr Baron sei in sein Zimmer gegangen, um ein paar Worte zu schreiben, und dann... während Ihre Durchlaucht im Salon stand und ihre Handschuhe anstreifte, hatte man's gehört – einen dumpfen Schlag. Ihre Durchlaucht war die erste gewesen, die den Toten gefunden.

 

Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Briefe, einer an Goswyn, der andere an Dorothee.

Was in dem Briefe an Dorothee stand, erfuhr Goswyn nie – in dem Brief an ihn stand nichts als

»Lieber Gos!

Ich habe verziehen!

Otto.«

Ja, er hatte verziehen ... aber er hatte mit seinem Leben dafür gezahlt.

Die Nachricht von dem plötzlichen tragischen Ende Ottos von Sydow machte einen ungewöhnlich tiefen, ja geradezu erschütternden Eindruck auf die alte Gräfin Lenzdorff.

Sie schrieb sofort einen langen Brief an Goswyn, acht Seiten voll Herzlichkeit und Teilnahme. Erika äußerte sich in dieser Angelegenheit wenig, harrte jedoch nicht ohne Aufregung der Antwort Goswyns entgegen.

Die Antwort war dürr, fast steif. Es war die Antwort eines völlig zerschlagenen Menschen, der nicht gewohnt ist, viel Wesens über seine Gefühle zu machen, ja sich geradezu scheut, sich ausführlich darüber zu äußern.

So faßte Gräfin Lenzdorff das Schriftstück auf. Ihr Mitleid für den jungen Offizier wuchs noch. Erika hingegen legte, nachdem sie die Epistel, die ihr die Großmutter mit einem traurigen Seufzer gereicht, rasch durchflogen, eine unglaubliche Gereiztheit an den Tag.

»Etwas Wärmeres hätte er dir immerhin schreiben können!« rief sie. »So ein Brief, wie er ihn dir schickt, bedeutet gar nichts! Er stellt dir eine Quittung aus für deine Teilnahme – das ist alles.«

Die Großmutter schüttelte den Kopf und versuchte diese Anschauungsweise zu widerlegen. Aber Erika hörte kaum zu. Sie hatte sich sehr verändert in der letzten Zeit, ihr Gemütszustand gestaltete sich immer peinlicher. Sie aß und schlief nicht mehr. Ihr Empfinden suchte einen neuen Anhaltspunkt, ihr Leben ein Ziel. Um jeden Preis hätte sie sich aus der glänzenden und geistreichen Nüchternheit, welche die Lebensauffassung ihrer Großmutter charakterisierte, in eine warme Herzensbegeisterung hinein flüchten, vielleicht verirren wollen. Religion hatte man ihr keine gelassen, und auch der heilige Nimbus der Moral war wegräsoniert worden vor ihr. Als man ihr ihren Gott totgeschlagen, da hatte sie anfänglich geweint, heiß und bitterlich, aber sie hatte sich doch wieder aufgerafft, ihr Glaube war in einer verklärten Gestaltung von neuem lebendig geworden in ihr; es war nicht mehr der alte, sich in verjährten Formeln hinschleppende Werkeltagsglaube, mit dem sich die Menge über die Unverständlichkeit der Schöpfung hinüberhilft, sondern eine verschleierte Ahnung von ihrem engen Begriffsvermögen unenträtselbaren Dingen, die sie über das Tierische, am Erdenschmutz Festklebende ihrer Existenz hinaushob – eine Empfindung, die im Grunde wenig Tröstendes, aber doch etwas Erhebendes hatte. Als die Großmutter aber das »Von-Gottes-Gnaden-Prestige« der Moral zum erstenmal erbarmungslos vor ihr angegriffen und ihr's kalt und deutlich bewiesen hatte, die sogenannte Moral gipfele in einer Summe von keineswegs in der Natur begründeten, ja, ihr sogar mitunter recht unlogisch aufgepfropften Gesetzen, die von der Gesellschaft zur Befestigung ihrer Bequemlichkeit erfunden worden sind, da weinte sie nicht, aber ihr ganzes Sein wurde von einem Mißbehagen vergiftet, das sie nicht mehr zu überwinden vermochte. Wenn die Großmutter eine Ahnung davon gehabt, was sie durch ihr nüchternes Räsonnement in dem Mädchen heraufbeschworen, sie hätte ihre Aphorismen, die sie nicht ohne Stolz als kleine, fein zubereitete Leckerbissen so selbstzufrieden herumreichte, für sich behalten. Aber sie hatte eben keine Ahnung davon. Sie war eine durch und durch gesunde, etwas kühle Natur, der nie nach übermäßigen Aufregungen verlangt hatte und die insbesondere völlig frei war von dem verzehrenden Schmerzensdurst, der damals die Seele Erikas durchglühte. Wie hätte sie das junge Geschöpf verstehen, es vor sich selbst schützen sollen!

 

So wenig die alte Gräfin sich einerseits aus den Menschen machte, ebenso wenig vermochte sie anderseits dieselben zu entbehren. Obgleich sie Erika fest versprochen hatte, daß sie sich hüten würde, in Venedig in die Welt zu gehen, tat sie es doch und setzte alles daran, Erika zu vermögen, sich ihr anzuschließen.

Aber alle ihre Bemühungen scheiterten an Erikas menschenfeindlicher und unliebenswürdiger Stimmung, und so erlebte man denn das seltene Schauspiel, eine mehr als siebzigjährige Matrone mit rüstiger Genußsucht von einem Nachmittagstee zum anderen wandern zu sehen, während ihre Enkelin zu Hause weilte, um sich das bißchen Verstand, das ihr allenfalls noch übriggeblieben war, vollends durch das Studium metaphysischer Werke zu verdrehen, wenn sie nicht ausging, um Armenbesuche zu machen. Dies war nämlich seit kurzem ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie hatte eine Reihe von Schützlingen, deren sie sich mit einem wahren Feuereifer annahm und von denen sie die meisten durch den immerwährend im Hotel Britannia herumschnuppernden Doktor kennengelernt hatte.

An einem wolkenumflorten Nachmittag Ende März, nachdem die Großmutter sich mit einem Seufzer innigsten Bedauerns von ihr getrennt, um sich in den Schoß der venezianischen Fashion zu begeben, machte sie sich ihrerseits auf den Weg zu einer armen Klavierlehrerin.

Die bescheidene Pension, in welcher Fräulein Horst ihre Zelte aufgeschlagen, befand sich sehr weit draußen an einem Kanal unweit des Giardino publico.

Erika ging ihrer Gewohnheit treu zu Fuß und allein durch die Calle San Moïse auf den Markusplatz und von dort über die Piazetta, die Riva degli Schiavoni entlang, den breiten Kai mit buntem Jahrmarktsgewimmel, wo, zwischen Kesselflickern, Obstverkäufern und ihre Gabe sortierenden Lumpensammlern, mit großen, bunten Anschlagzetteln bemalte Buden das Publikum einladen, sich das Schauspiel eines Marionettentheaters oder eines Ungetüms zu gönnen – links eine mit flachen Dächern gekrönte, von schmalen, finsteren Gäßchen unterbrochene Häuserreihe, rechts die Lagune, sich weit ausdehnend gegen den Lido zu und auf ihren Wellen leise schaukelnd große Schiffe – Schiffe mit breiten, von frischem Teer klebrig glänzenden Leibern, ein dunkles Dickicht von Mastbäumen, ein Gewirr von Stricken, die in zahllosen, schräg oder gerade nebeneinander herlaufenden oder einander durchkreuzenden Linien sich scharf gegen die helle Luft abhoben, daneben braune, grüne und rote Schifferbarken, stark aufgewölbt – Barken mit grauen oder roten Segeln. Und dort weit hinter ihnen gegen den Horizont zu der grüne Streifen des Lido.

Ein schmales Gäßchen führte Erika von der belebten Riva auf die stille Piazza San Zacharie, wo das Gras zwischen den Steinen wuchs. Von da an wurde der Weg schwierig, sie mußte genau Achtung geben, um sich in dem Labyrinth von außerordentlich engen Gassen zurechtzufinden, und empfand schließlich einen gewissen Stolz, als sie die auf ein gottverlassenes Campo hinaussehende Pension Weber erreicht hatte, ohne ihren Weg erfragen zu müssen.

Sie fand ihre Schutzbefohlene im Bett liegend. Ein grüner Windschirm, welcher vor das schlecht schließende Fenster gestellt worden war, trug das seinige dazu bei, das auf den Kanal hinausblickende Fenster noch gänzlich zu verfinstern. Eine stark ausgefranste und vertretene Bettvorlage, auf der die Umrisse eines zähnefletschenden Löwen nur blaß und. undeutlich zu erkennen waren, bedeckte allein den kalten Fußboden von kleingeflecktem Mosaik; ein Tisch, der mit Schreibzeug besetzt war, ein Nachttischchen, auf dem mehrere Medizinflaschen mit langen Papierstreifen am Halse standen, ein Kleiderkasten und ein Strohsessel machten die ganze Einrichtung aus. Inmitten dieses Elends lag die Klavierlehrerin und las »Consuelo« und war glücklich.

Ein ungestümes Mitleid – ein Mitleid, das ihr fast die Tränen in die Augen trieb, überkam Erika; sie beugte sich über die Kranke und küßte sie freundlich auf ihre vom Fieber pulsierende Schläfe. Dann mit der gutmütigen Anmut, die ihr Wesen erwärmte, sobald sie mit irgend etwas in Berührung kam, das krank oder elend war, begann sie das Zimmerchen mit den Blumen auszuschmücken, die sie mitgebracht, ließ Tee heraufbringen, räumte das Nachttischchen ab, stellte ein paar ebenfalls von ihr mitgebrachte Leckerbissen darauf zurecht und plauderte, gänzlich ihrer eigenen Melancholie vergessend, die Kranke in eine so heitere Stimmung hinein als nur möglich. Die arme Klavierlehrerin folgte jeder ihrer Bewegungen mit entzücktem Lächeln. Endlich die Hand des jungen Mädchens an ihre fieberzersprungenen Lippen ziehend, rief sie: »Wenn ich gedacht hätte, daß die schöne Komtesse Lenzdorff, die ich manchmal in Konzertsälen oder im Theater aus der Ferne anschwärmte, je als lieber trauter Gast zu mir kommen und mit mir Tee trinken würde! Man weiß gar nicht, wie einem so etwas, nach dem man sich gar nicht zu sehnen gewagt, in den Schoß sinkt. Mir ist's noch immer wie ein Traum, daß Sie hier sind, Komtesse. Seit Sie sich meiner angenommen haben, geht es mir so viel besser, das Leben kommt mir wieder lebenswert vor, ich sehe etwas vor mir. Ach, wie war mir so einsam und elend zumute! Die Allerärmste war ich in der ganzen Pension, niemand gab mir ein gutes Wort, man schob mich aus einem Stübchen in das andere, immer unter dem Vorwand, daß man mich zuviel husten höre – und jetzt, seitdem Sie mich besucht haben, Komtesse, da sollten Sie mal sehen, wie höflich man mit mir ist – wie ausgewechselt. Was für eine angenehme Existenz ich habe!«

»Das freut mich von Herzen,« erwiderte Erika, die Hand der Kranken streichelnd. »Jetzt werd' ich noch viel öfter kommen, wenn ich weiß, daß Sie mich wirklich gern mögen.«

»Man soll eben nie am Leben verzweifeln,« meinte die Kranke, ihren Kopf bequemer in den Kissen zurechtrückend. »Da hab' ich soeben einen Brief erhalten von einer alten Pensionsfreundin Sophie Lange. Die hat sich als ganz armes Mädchen sterblich in einen Kavalier verliebt. Die Verbindung war unmöglich – jetzt nach langen, langen Jahren schreibt sie mir: Ich habe das Ziel meiner Sehnsucht erreicht, ich bin verheiratet – seine Gattin. Es ist kaum auszudenken, kaum nachzufühlen, es ist zum Verrücktwerden vor Glück!«

»Sophie Lange!« rief Erika eigentümlich berührt. »So hieß ja unsere Erzieherin; die muß an die vierzig Jahre alt sein!«

»So etwas,« meinte die Klavierlehrerin und lächelte vor sich hin. »Ein wirklich liebendes Herz bleibt jung bis über die vierzig hinaus.«

»Und wie heißt der Gatte?« fragte Erika, von einer eigentümlichen Ahnung ergriffen.

»Baron Strachinsky,« erzählte Fräulein Horst. »Alter polnischer Adel, nicht sehr vermögend, aber daraus braucht die gute Sophie nicht zu sehen, da sie kürzlich einen reichen alten Herrn beerbt hat, dessen Krankenpflegerin sie jahrelang gewesen ist.«

»Und sie ist glücklich?« fragte Erika fast erschrocken. »Aber wie!« versicherte die Kranke. »Ach, ich freu' mich, ich freu' mich so – es tut so unendlich wohl, ein bißchen echte Romantik in unserer prosaischen Zeit! Auf dem Rigi haben sich die beiden wiedergefunden beim Sonnenaufgang, denken Sie nur, Komtesse, und sie ist ja gar nicht hübsch, die Sophie, nur sehr lieb und gut. Jetzt befindet sie sich in Neapel, aber sie stellt es mir in Aussicht, daß sie vielleicht im Laufe des Frühjahrs mit ihrem Manne nach Venedig kommen wird. Sie hat's schwer gehabt im Leben – und jetzt endlich ... So etwas stimmt einen ganz heiter, nicht wahr?«

An diesem Punkt schnitt ihr ein heftiger Hustenanfall das Wort ab. Wie sie hustete! Es klang gräßlich! Das Taschentuch an ihren Lippen färbte sich rot. Erika stand ihr bei, so gut sie konnte, stützte sie in ihren Armen auf und sprach ihr Mut zu. Als die Kranke sich beruhigt, verabschiedete sie sich von ihr mit der freundlichen Versicherung, daß sie morgen wiederkommen würde, nach ihr zu sehen.

»Gott behüte Sie, Komtesse!« murmelte die Sterbende zum Abschied. –

Es war spät geworden. Ehe sie das Haus verließ, hielt sich Erika bei der Pensionsvorsteherin auf, um Fräulein Horst ihrer besonderen Sorgfalt zu empfehlen. Sie erlegte eine kleine Summe mit der heiß errötend vorgebrachten Bitte, die Kost der Lungenkranken durch allerhand stärkende Leckerbissen zu verbessern. Dann freundlich nickend entfernte sie sich.

Ihr war leichter ums Herz als seit langem. Erst als sich die Haustür hinter ihr geschlossen und sie sich nun allein draußen befand, merkte sie, daß die langsam sinkende Märzdämmerung bereits die Luft zu trüben begann. Fast wollte sie umkehren, um sich eine Gondel holen zu lassen, dann wieder war es ihr nicht der Mühe wert, sie konnte den Sumpfgeruch der Lagunen nicht ausstehen. Und gerade hier war die Luft heute so süß; aus dem grasdurchwachsenen Gequader des gottverlassenen Campo schwebte Frühlingsduft. Ein leiser Föhn glitt wie ein zärtlicher Seufzer knapp über die Erde hin.

Wie seltsam die Menschen sind! dachte Erika. Das ist Liebe – Gräfin Ada auf der einen, die arme Sophie auf der anderen Seite; hier Sünde, dort Lächerlichkeit. Mein Gott!

Immer noch derselbe süße, narkotisierende Frühlingshauch, von ferne Glockengeschwirr und Wellengeplätscher, und über allem etwas wie eine schwüle Ahnung, ein sehnsüchtiges Erwarten und eine große Müdigkeit.

Durch Erikas Seele glitt ganz plötzlich, schaudernd und lockend das Motiv sündiger Weltlust aus dem Parsifal.

Mit einemmal erwachte sie aus ihrer Zerstreutheit, sah sich um und bemerkte, daß sie sich im Wege geirrt. Sie ging bis zur nächsten Ecke, um sich zu orientieren – umsonst, sie fand sich nicht zurecht. Nicht ohne eine gewisse Beängstigung entschloß sie sich, geradeaus zu gehen – irgendwo mußte der Weg auf einen Platz oder einen Kanal herausmünden, den sie kannte. Sie ging rasch, unruhig. Der Frühlingsduft war verweht – in einer schmalen, erbärmlichen Calle befand sie sich, einem schluchtartigen Gäßchen, rechts und links mit hohen, übelaussehenden Gebäuden besetzt, in denen die Fenster tief und schwarz wie eingeschlagene Augen saßen. Oben zwischen den Dächern zog sich ein Stück grauer Wolkendunst, und an den Mauern, von denen der Mörtel fast gänzlich weggefressen war, schlich sich die Feuchtigkeit in dicken Tropfen über die von grünen Flechten überwucherten Ziegel hin.

Sie hatte Mühe, sich von der sie rings umgebenden faulen, schleimigen Schlüpfrigkeit rein zu halten. Ging sie in der Mitte, so trat sie in die einen Rest von ekelhaften Überbleibseln träg hinschleppende Gosse – drückte sie sich gegen die Seiten, so blieb der grüne Schleim der Wände an ihren Kleidern hängen.

Langsam verhüllend sank die Dämmerung auf das Elend herab. Inmitten dieser unheimlichen Einsamkeit drang aus einer Spelunke roher Lärm, das Gebrüll von Männern, die mit unreinen Kehlen im Chor ein Lied sangen, dazwischen die spitzigen Stimmen von kreischenden und lachenden Weibern.

Erika beeilte ihre Schritte. Im selben Moment stolperte ein Matrose aus der Spelunke auf die Straße heraus. Ein junger, kräftiger Mensch war's, vom Wein erhitzt. Er lächelte zynisch, und ehe sie sich dessen versah, hatte er den Arm nach ihr ausgestreckt.

Außer sich vor Angst und Ekel, versuchte sie ihn abzuschütteln und schrie. Da, wie aus der Erde herausgewachsen, stand ein fremder Mann vor ihr, packte den Matrosen am Kragen und schleuderte ihn gegen die Wand. Sie zitterte am ganzen Leibe. Der Fremde sah sie mitleidig an. Den Schnitt seiner Züge konnte sie nicht deutlich erkennen, da die Dämmerung alle Konturen verwischte, nur seine Augen sah sie, lange, dunkle Augen.

Wo hatte sie denn diese Augen bereits gesehen? Ehe sie sich darüber klar geworden war, sagte er, den Hut lüftend: »Sie haben sich offenbar verirrt; wollen Sie mir sagen, wo Sie wohnen, damit ich Ihnen aus diesem Labyrinth heraushelfen kann?« Er sprach sie englisch an, aber mit einem leichten fremden Akzent, offenbar war er kein Engländer, hielt sie aber für eine Engländerin.

Ehe sie noch etwas herausgebracht, setzte er hinzu: »Ich weiß, daß es Ihnen unangenehm sein muß, sich die Begleitung eines Fremden gefallen zu lassen; unter den gegebenen Umständen ist es das einzig Vernünftige. Ich kann Sie in dieser Gegend nicht ohne Schutz lassen; das sind keine Straßen für Damen.«

Dermaßen betroffen und beschämt war sie, daß sie nicht ein höfliches Wort, überhaupt gar nichts herausbrachte als: »Hotel Britannia!«

»Links,« bedeutete er ihr, indem er mit der Hand nach der angegebenen Richtung wies. Auch seine Stimme erschien ihr bekannt.

Sie gingen nebeneinander durch das schmale Straßengewinkel, dann über die hochgewölbten Brücken, auf denen bereits eine rote Laterne brannte, und unter denen sich das träge Wasser traurig hin und her warf, ohne recht vorwärtszukommen.

»An wen erinnert er mich nur, an wen?« fragte sich Erika. Ihr Herz gab einen starken Schlag: Baireuth – Lozoncyi!

Mit der Erinnerung an ihn tauchte auch die Erinnerung an seine blonde Begleiterin in ihr auf.

Indem waren sie auf einen großen, luftigen Platz hinausgetreten.

»Piazza San Zacharie... ich finde mich zurecht,« sagte Erika auffallend kalt, indem sie sich verabschiedete.

Er blieb stehen, blickte sie, offenbar von ihrem Ton verletzt, unter gerunzelten Brauen an und ließ sie ziehen.

Ohne ihm gedankt zu haben, eilte sie vorwärts. Plötzlich hielt sie ein. Nichts in der Welt hätte sie verhindern können, sich nach ihm umzusehen!

Er stand noch immer wie angewurzelt und blickte ihr nach. Ein heftiger Impuls erfaßte sie, umzukehren, ihm zu danken; dann kam ein lähmender Zorn. Was hatte sie einem Mann zu sagen, der ohne Scheu öffentlich mit ... Ohne weiter zu stocken, kehrte sie in das Hotel zurück.

Sie schlief schlecht in dieser Nacht. Das Entsetzen über ihr Abenteuer schüttelte sie, daß ihr die Zähne davon aneinanderschlugen. Dann ... dann – so sehr sie's auch von sich abwehrte, kam ihr der Ärger, daß sie dem fremden Mann nichts Freundliches gesagt, er hatte es schließlich um sie verdient. Und was ging sie sein Privatleben an. Sie dachte an den hübschen, halbverhungerten Knaben, den sie gefüttert hatte neben dem leise murmelnden Bach. Eine unaussprechliche Sehnsucht, ihn wiederzusehen, übermannte sie.

Im Halbschlummer schob sie den Kopf auf dem Kissen hin und her. Draußen plätscherte die Lagune. Mit einemmal tönte es aus der Ferne über das Wasser hinüber wie ein leiser zitternder Seufzer, und aus dem Seufzer wurde ein Lied. Näher und näher kam es einschmeichelnd süß – ein Lied von Tosti, das damals in die Mode gekommen war. Sie hörte nur den Kehrreim:

Ninon, Ninon, que fais-tu de la vie,
Toi qui n'as pas d'amour!

Sie sprang aus dem Bett und riß das Fenster auf. Über den Kanal Grande glitt, von bunten Lämpchen umflimmert, eine Sängerbarke.

Heftig erregt beugte sie den Kopf vor. Ehe sie sich dessen versah, war das Fahrzeug verschwunden; noch einen Moment erblickte man es in der Ferne – nichts mehr als einen düsteren Schatten, den etwas Farbiges umglänzte, ohne ihn aufzuhellen, und die süße Melodie ... nur ein Seufzer, der langsam im Wellenschluchzen verklang.

Noch immer stand sie am Fenster. Alles vorüber – alles still! Dort, wo die Barke über den Kanal geglitten, lag der Widerschein des Vollmonds in einem sich weit hindehnenden weißen Glanzlicht aus dem schwarzen Wasser, und über dem Sumpfgeruch der Lagune schwebte ein lieblich süßer Hauch – das erste Aufatmen des Frühlings.

Sie schloß das Fenster.

Alles vorüber – alles still!

Auch das Wasserrauschen hörte sie nicht mehr – hörte nichts als das laute, rasche Klopfen ihres eigenen Herzens.

Es war am nächsten Morgen nach dem Frühstück. Wieder stand Erika an ihrem Fenster und blickte hinaus auf das Gerage von mit bald ernster, bald launenhafter Schönheit bis zum Übermaß geschmückten Palästen am Großen Kanal, auf das dunkle, träg hinfließende Wasser. Es war, als suche sie darin die Stelle, wo gestern die Sängerbarke über die silberne Spiegelung des Mondes hingeglitten war. Das Ritornell des leise klagenden Liedes war ihr im Ohr hängengeblieben – in den Nerven, in der Seele.

Ninon, Ninon, que sais-tu de la vie,
Toi qui n'as pas d'amour!

Da trat die Großmutter zu ihr, bereits zum Ausgang gerüstet, ein sehr kleines Opernglas in der Hand, und fragte: »Erika, willst du nicht mit mir ausgehen, dir die Ausstellung im Cirolo artistico besehen? Es hängt ein Bild dort, von dem ganz Venedig spricht, eine wahre merveille von einem Bilde scheint's.«

»Von wem?«

»Was?« »Das Bild!«.

»Von Lozoncyi.«

»Ah!« Erika wendete sich von ihrer Großmutter ab dem Fenster zu und blickte starr in das grelle südliche Vormittagslicht, so starr, bis ihr schwarze Flecken vor den Augen tanzten.

»Welcher entrüstete Ausruf!« lachte die Großmutter. »Du sagst »Ah!« in einem Tone, als ob Lozoncyi dein Todfeind wäre. Verübelst du's ihm vielleicht, daß er in Baireuth – hm! ... mit Begleitung gereist ist? Bei einem Künstler darf man derlei nicht so genau nehmen; der Verkehr, zu dem diese Herren durch ihr Handwerk gezwungen sind, bringt es mit sich, daß sie sich stark abstumpfen. Im übrigen kam er von Paris, dort ist derlei allgemein – bei uns ist man etwas förmlicher in solchen Dingen. Es kommt auf eins heraus! Mir ist es natürlich durchaus gleichgültig, wie dieser Herr Lozoncyi sich sein Leben einrichtet. Auf der anderen Seite freut's mich, daß er sich wirklich zu einem großen Künstler herausgewachsen hat. Ich prophezeite ihm bereits vor einigen Jahren eine Zukunft, damals, als die hervorragendsten Berliner Kritiker seine Leistungen noch als grünes Obst verdammten. Es schmeichelt mir natürlich, daß ich recht behalten habe. Die Rechthaberei-Eitelkeit ist die letzte, welche dem Menschen wegstirbt. – Wie gesagt, es scheint ein geradezu epochemachendes Bild; darum dachte ich ... Aber wenn du durchaus nicht mitkommen willst, du verdrehtes kleines Frauenzimmer, so geh' ich allein. Adieu, Kleine!« Sie klopfte dem jungen Mädchen, das sich nun vom Fenster abgewendet hatte, auf die Wange und ging.

Ehe sie noch die Tür erreicht hatte, rief Erika ihr nach: »Aber Großmutter, so beeile dich doch nicht so, ich ... ich möchte ja sehr gern einen kleinen Spaziergang mit dir machen, und wohin, gilt mir gleich!«

»Gut, gut, ich warte!«

Um weniges später schritten Großmutter und Enkelin über das kleine, dem kommenden Frühling zu Ehren bereits mit Topfpflanzen sowie Orangen- und Lorbeerbäumen in grünen Kübeln besetzte Campo hinter dem Hotel, worauf sie sich nach links der Piazza San Stefano zuwendeten. Der Tag war wunderschön – viele Fremde auf der Straße. Erika trug ein dunkelgrünes Tuchkleid, das ihr besonders gut saß. So wenig sie momentan sich um ihre Toilette bekümmerte, stieß alles Häßliche sie doch ab, und ohne daran zu denken, wie sie's machte, sah sie immer aus wie ein Bild, und heute wie ein ungewöhnlich schönes Bild.

»Alle Leute wenden sich nach dir um,« flüsterte ihr die Großmutter wieder einmal zu, »und man muß sagen, ihre Zeit verlieren sie dabei nicht.«

Das klang wie in alten Tagen. Das Kompliment glitt wirkungslos an Erika ab, aber die Zärtlichkeit, die aus dem Kompliment sprach, tat ihr wohl. Sie lächelte freundlich, drohte aber zugleich der alten Frau zurechtweisend mit dem Finger.

»Ach, ich soll vielleicht Angst davor haben, dich zu verderben?« lachte die Gräfin. »Das nehme ich noch auf mich. Wenn dich geschmeichelte Eitelkeit verderben könnte, so wärst du's schon – verdorben nämlich. Du liebe Welt! Ich sähe es lieber, du wärst ein bißchen verdorben – ein ganz kleines bißchen, und glücklich ... anstatt, wie du's bist, ein Engel – manchmal ein unausstehlicher, aber immer ein Engel... ohne Sonnenschein im Herzen.« Sie blickte das junge Mädchen fast schüchtern von der Seite an, um zu sehen, ob dasselbe heute vielleicht ein klein wenig heiterer sei als sonst. – Nein, heiter sah Erika nicht aus – gerührt sah sie aus, heiter nicht.

»Wenn ich nur wüßte, was dir fehlt?« seufzte die alte Frau halblaut.

Erika rückte etwas näher an sie heran, so nah, daß ihr Arm den der Großmutter streifte. »Nichts fehlt mir. Es geht mir zu gut,« flüsterte sie, »du verwöhnst mich zu sehr.«

»Wie soll ich denn nicht. Ich bin zweiundsiebzig Jahre, wieviel Zeit bleibt mir demnach noch, mich an dir zu erfreuen; von heute auf morgen kann's aus sein, und dann ...« Aber als sie von neuem zu Erika aufsah, liefen der die Tränen über die glatten, immer ein wenig blassen Wangen. »Dumme Liese!« rief die Großmutter. »»Gar so nahe bevorstehend ist ja aller Wahrscheinlichkeit nach mein Ende noch nicht, deine hübschen Augen brauchst du dir nicht trüb zu weinen – aber endlich, man muß doch auf alles gefaßt sein, und darum wär's mir natürlich lieber, ich sähe dich bald mit einem braven Menschen verheiratet.«

Sie hatte ihre Hand in den Arm des jungen Mädchens gelegt, und bis dahin hatte Erika diese Hand mit einer gewissen kindlichen Zutunlichkeit, die ihr inmitten all ihrer Schroffheiten der Großmutter gegenüber geblieben war, an ihre Seite gedrückt.

Bei diesen letzten Worten aber riß sie sich von der alten Frau los, ihr Mund zuckte. »Wen soll ich denn heiraten?« rief sie bitter.

Dann schwiegen sie beide. Die Großmutter fühlte, daß sie eine Taktlosigkeit begangen, und war wütend über sich, was sie natürlich nicht im mindesten hindern würde, eine neue Taktlosigkeit zu begehen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

Erika ging stolz und starr neben ihr her, ohne sie weiter anzusehen.

Sie hatten die Piazza San Stefano erreicht, einen weiten, mit großen Quadern gepflasterten Platz, ringsherum Baracken und Palazzi, ganz gewöhnliche schmucklose, flach eingedeckte Häuser mitten zwischen Gebäuden von echt venezianischer Vornehmheit, mit stolzen Fassaden von maurisch-gotischer Steinspitzenarbeit und den obligaten, in Rosetten auslaufenden Bogen um Fenster und Türen – Baracken und Paläste, beide durch eine allgemeine malerische Zerschundenheit nah miteinander verwandt –, zwischen den Quadern grüne Grasränder und inmitten des Platzes ein grellweißes Standbild. Durch die leuchtende Frühlingsluft herüberwehend der Geruch nasser Wäsche, die, im Winde trocknend, gegen die Eisenschnörkel eines kunstvollen und baufälligen alten Balkons schlug, außer dem weißen Standbild auf dem ganzen Platz nichts zu sehen als ein Priester mit dreieckigem Hut und langer Soutane und eine Wasserträgerin mit einer Blume hinter dem Rand ihres Männerhuts und zwei kupfernen Eimern an einem bogenförmigen Holz über der Schulter. Die alte Gräfin wendete sich an den Priester mit der Bitte, ihr zu sagen, wo man von hier nach dem Circolo artistico käme, er aber sah sie nur mit seinen großen geduldigen Priesteraugen etwas verwirrt an und erwiderte ihr mit der Courtoisie seiner Nation: » Scusi, Senorina, sono straniero come lei« worauf sie sich an die Wasserträgerin wendete. Diese zeigte sofort zwei Reihen blendender Zähne, und mit allerhand einladenden Gesten voranschreitend, rief sie einmal über das andere den ihr folgenden Damen über ihre Schultern hinüber zu: » Mi favorisca Eccenllenza – mi favorisca!« Worauf sie schließlich einen sehr großen alten Palazzo in der Richtung des Canal Grande betraten.

Die Frühlingsausstellung des Circolo war ziemlich stark beschickt, dafür um so schwächer besucht – die Fremden hatten keine Zeit für moderne Kunst in Venedig, und die Einheimischen gingen bei so schönem Wetter lieber spazieren. Infolgedessen hingen die verschiedentlichen Facciolo, Michetti, Laurenti, Nuono und Bezzy rein nur zu ihrem eigenen Vergnügen an der Wand. In den Genrebildern verriet sich mitten zwischen etwas derbem, grellfarbigem, aber echtem und lebensfähigem Naturalismus ein unüberwindlicher Hang zum Melodrama – die Landschaften von Vezzy hingegen erklärte die alte Gräfin für Meisterwerke, auch vertiefte sie sich derartig in den Anblick einer Schirokkostimmung – grauer Wolkendunst wie ein heißer Nebel über ein paar elenden, von sehr viel verdorrtem Röhricht und seichten Pfützen umgebenen Steinbaracken –, daß sie darüber ganz vergaß, was sie eigentlich hierhergebracht hatte.

Es hatte jetzt fast den Anschein, als ob sich Erika mehr für das Werk Lozoncyis interessiere als die Großmutter. Sie sah sich nach allen Seiten um. Aus dem anstoßenden Gemach tönten Stimmen – gedämpfte Stimmen, laut widerhallend. Ihr Herz fing mit einemmal an zu klopfen, sie wendete ihre Schritte dorthin.

Eine Gruppe von sechs oder sieben Männern stand vor einem großen Gemälde, das auf einer Wandfläche ganz allein hing, vielleicht weil sich kein anderes in seine Nachbarschaft gewagt, vielleicht weil die Künstler sich Lozoncyi gegenüber noch in jenem leider kurz andauernden Zustand schranken- und neidloser Bewunderung befanden, in welchem sie einen Kollegen, der ihnen von gestern auf heute über den Kopf gewachsen ist, nicht genug auszeichnen können.

Die um das Bild Versammelten – Erika hielt sie ihren Bemerkungen nach für Leute vom Fach – sprachen alle leise wie von etwas Heiligem, was das Bild eigentlich nicht war – im Gegenteil; aber es war die großartige Offenbarung eines mächtigen Genies und als solches etwas Göttliches.

»Francesca da Rimini« stand auf dem Rahmen – der alte Vorwurf war sonderbar aufgefaßt. Frühlingsbäume vom Rahmen quer entzweigeschnitten, so daß man nur ihre von wuchernden Blüten beladenen Kronen sah, und darüber hinschwebend gegen den Hintergrund einer trüben, schwülen Gewitterluft zwei engverschlungene Gestalten.

Nie hatte Erika zwei Körper derartig aus einer Leinwand herausleben gesehen, und nie zwei Körper, die in jeder Muskelspannung, in jedem Glied zugleich eine solche Verzweiflung und Verzückung ausgedrückt hätten. Ihre erste Empfindung war eine unangenehme, fast eine zornige Auflehnung gegen den Künstler, der sie in seinem Bilde etwas begreifen gelehrt, gegen das sie lieber ihr Leben lang blind und stumpf verblieben wäre.

»Was sagst du dazu?« rief jetzt etwas laut, wie es ihr mitunter passierte, die alte Gräfin. »Ein Meisterwerk, nicht wahr?«

Erika wendete sich ab; sie war leichenblaß und zitterte am ganzen Leib.

»Es ist wunderschön,« murmelte sie mit beklommener, halberstickter Stimme, »aber ... es ist unangenehm. Mir ist's, als ob es eine Sünde wäre, es anzusehen!« – –

Als sie von neuem auf die Piazza San Stefano hinaustraten, war dieselbe nicht mehr leer. Zu Füßen der Statue Manins stand eine Gruppe von fünf Sängern, alle über fünfzig, zwei Männer und drei Frauen, die beiden Männer blind, eine der Frauen einäugig, die zweite bucklig, die dritte von so grotesker Korpulenz, daß es ebenfalls einer Difformität gleichkam.

Diese fünf Ungeheuer psalmodierten, die Weiber mit Gitarren, die Männer mit Geigen bewaffnet, in langgezogenen Jammertönen, den Mund weit aufreißend, ein Liebeslied, über den ganzen Platz tönte in gedehnter musikalischer Periode das Ritornell:

Tu m'hai bagnato il seno mio di lagrime,
T'amo d'immenso amor – –

Die Großmutter warf den singenden Ungeheuern lachend und mit der großen Damen-Ungeniertheit, in welcher sie Meisterin war, eine Münze zu – fast über den halben Platz hinüber. Erika runzelte die Stirn. Ein Fieber von Zorn, von nicht genau zu bezeichnender Aufregung pochte in ihr. Mein Gott, drehte sich denn die ganze Welt nur um dasselbe und immer wieder um dasselbe! Mußte ihr's selbst aus dem Munde dieser elenden Krüppel entgegentönen! Sie nagte an ihrer Unterlippe; aus der Ferne herüber vernahm man es immer noch gedehnt und verjammert:

T'amo d'immenso amor – –


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