Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Die Gräfin Lenzdorff war ihrer Enkelin bis in das Vestibül entgegengegangen, welches mit großen japanischen Krepons behängt und von roten venezianischen Laternen in seltsam verschnörkelter Eisenfassung durchleuchtet war.

Daß der glänzenden Beschreibung, die Doktor Herbegg von ihrer Nichte geliefert, nicht recht zu trauen sei, davon war sie von Anfang an fest überzeugt gewesen, sie hatte dementsprechend ihre Erwartungen ziemlich tief gestimmt, dennoch erschrak sie über das, was in die Tür des Vorzimmers trat, die der dienstfertig auf die Treppe eilende Kammerdiener Lüdecke geflissentlich offen gelassen. Anfangs dachte sie, daß das große magere Mädchen in dem schlecht gemachten Kleid die Begleiterin der Erwarteten sei; als aber hinter dem eckigen Ding, an dem alles schief saß, ein breitschulteriger weiblicher Grenadier auftauchte mit einem gestrickten Wolltuch auf dem Kopf und einer Pappschachtel in den Händen, zweifelte sie nicht mehr, daß sie ihre Enkelin vor sich habe. – Es war wirklich nicht nötig, daß Doktor Herbegg ihr das Mädchen mit den Worten zuführte: »Da bring' ich Ihnen die Komtesse, Exzellenz!«

Sie machte einen Schritt vorwärts und berührte die Stirn des Mädchens mit ihren Lippen.

»Willkommen in Berlin, liebes Kind!« sagte sie kalt. Also das war ihre Enkelin. Dieses eckige Geschöpf mit den roten Handgelenken und einem Dienstmädchen, das ein gestricktes Tuch auf dem Kopfe und eine Pappschachtel in der Hand trug – eine vorweltliche Pappschachtel mit blaugeblümtem weißem Löschpapier überklebt. Die Gräfin schauderte. »Nehmen Sie eine Tasse Tee, lieber Doktor?« wendete sie sich an ihren Anwalt, nur um ein gewisses Leben in die Situation zu bringen, und da er sie etwas befremdet ansah, mit derselben Befremdung, die sich auf Goswyn von Sydows Zügen ausgemalt, als sie sich ihm gegenüber beklagt, daß sie heute ihren letzten gemütlichen Abend verlebe, setzte sie, sich rasch verbessernd, hinzu: »Sie wollen nicht – nein – eigentlich haben Sie recht, es ist schon spät, machen Sie mir die Freude ein andermal, lieber Herbegg – ich ... ich hätte heute ohnehin keine rechte Muße, mich Ihnen zu widmen, ich bin zu ... zu begierig, die nähere Bekanntschaft meiner Enkelin zu machen.«

Die letzten Worte kamen etwas holperig heraus, fast als ob sich die Gräfin einen Ruck hätte geben müssen, ehe sie dieselben über die Lippen brachte.

Der Doktor hatte sich mit höflichem Zeremoniell verabschiedet, Minna war samt ihrer vorweltlichen Pappschachtel, die sie ein »Kartandl« nannte und sich von keinem Menschen aus der Hand winden lassen wollte, unwillig dem Diener in das Gesindezimmer gefolgt; die Gräfin Lenzdorff hatte sie bedeutet, daß ihre eigene Jungfer vorläufig die Bedienung der Komtesse übernehmen würde, und Erika ging, der rasch und rüstig voranschreitenden Großmutter folgend, durch mehrere hell erleuchtete Zimmer, deren Einrichtung ihr einen geradezu feenhaften Eindruck machte, bis an ein luftiges kleines Gemach, das an die Schlafstube der alten Frau stieß.

»So, das ist dein Logis,« sagte Gräfin Lenzdorff, »ich habe dein Bett vorläufig in mein Ankleidekabinett stellen lassen, es teilt sich am besten so ein ... und ... und ich – – es ist mir auch lieber, weil ich dich so am nächsten bei der Hand habe. Es ist natürlich alles nur provisorisch. Ich weiß ja noch gar nicht, was eigentlich mit dir geschieht – ob ... ob du definitiv bei mir bleibst – oder erst in eine Pension gehst. Nun ... vorläufig trachte dich behaglich zu fühlen bei mir!«

Behaglich! Es war viel verlangt, daß sich Erika behaglich fühlen sollte unter den Umständen! Sie wollte etwas sagen, es widerstrebte ihr, die Rolle einer dummen, stummen Gans zu spielen, ihr armer junger Stolz bäumte sich dagegen auf – aber sie brachte nichts heraus, mußte ohnehin ihre ganze Kraft daransetzen, die Tränen herunterzuwürgen, die sich ihr durchaus in die Augen drängen wollten. Mit dem langsamen, unbeweglichen Blick eines Menschen, der nicht weinen will, sah sie sich in ihrer neuen Umgebung um.

Wie luftig und duftig, wie leuchtend sauber und einladend bequem das alles war! Sie aber stand inmitten dieses Paradieses vor Mattigkeit zitternd, wund an Leib und Seele, verletzt und verschüchtert, und fühlte nur den einen Wunsch, sich irgendwohin ins Dunkle verkriechen zu dürfen.

Die Großmutter merkte etwas von der peinlichen Empfindung des jungen Mädchens, vermochte jedoch ihr eigenes Unbehagen nicht zu überwinden. »Willst du erst etwas Toilette machen oder gleich soupieren?« frug sie, indem sie sich offenbar bemühte, freundlich zu sein. Dabei forschten ihre hellen Augen beständig an Erika herum. Arme Erika! Sie fühlte es so gut, daß die Großmutter von ihr enttäuscht war, daß ihre Persönlichkeit in nichts den Wünschen der alten Frau entsprach.

»Ein wenig vom Staube reinigen möcht' ich mich,« stotterte sie demütig. Ihre Stimme hatte einen ungemein angenehmen, weichen Klang, und ihre Aussprache erinnerte an die österreichische Mundart, die bekanntlich in Berlin besonders bewundert wird.

Zum erstenmal regte sich etwas zugunsten des jungen Geschöpfes im Herzen der Gräfin, eine Saite in ihrem Inneren fühlte sich angenehm berührt. »Gut, mein Kind, mach' dir's nur bequem,« fügte sie etwas wärmer, dabei griff sie an den obersten Knopf der häßlichen schwarzen Schabracke, die ihre Enkelin entstellte, um ihr zu helfen, sich derselben zu entledigen. Mit einer scheuen Gebärde hob Erika ihre Hände und hielt ihr dürftiges Kleidchen krampfhaft über der Brust zusammen. Es lag etwas in dieser Bewegung, das die alte Frau rührte. »Laß uns allein,« wendete sie sich an die Jungfer, die indessen damit beschäftigt war, die Reisetasche Erikas auszupacken, »ich werde nach dir schellen, wenn wir dich brauchen. Sie duzte alle ihre weiblichen Dienstboten nach der alten, feudalen Manier. »Ich will dich selber auskleiden,« sagte sie zu Erika.

Dieser wurde unsagbar zumute. Abgesehen davon, daß es ihr infolge der herben, abwehrenden Verschämtheit ihrer einsam aufgewachsenen starken und keuschen Natur schrecklich war, vor irgendeiner fremden Person ihr Kleid abzustreifen, kam's ihr jetzt plötzlich (anfänglich hatte sie daran nicht gedacht) hart an, die Dürftigkeit ihres Unterzeugs dem alles durchforschenden Blick der Großmutter preiszugeben. Sie zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, während die Großmutter ihr das Jäckchen von den Schultern zog. Aber seltsam ... es war fast, als ob mit der häßlichen Hülle irgendeine hemmende Scheidewand zwischen ihr und der Großmutter gefallen wäre. Die hellen Augen der alten Frau trübten sich mit einer gewissen Rührung, als sie das derbe, arg geflickte und sehr weiße Leinwandhemdchen gewahrte, das kaum ein wenig von den jungen, schmalen, erst halb entwickelten Schultern herabsank. »Armes Ding!« murmelte sie, zum erstenmal warm aus dem Herzen heraus, dann dem jungen Mädchen über die langen, dünnen, edelgeformten Arme fahrend, sagte sie: »Wie weiß du bist, jetzt ahnt man erst, wie du aussiehst« – dann hob sie Erika das schwere, leuchtende Haar aus dem Nacken empor, worauf sie in einem jener Anfälle von Zerstreutheit, für welche sie in der Berliner großen Welt berühmt war, ausrief: » Mais elle est magnifique! – in drei Jahren wird sie eine Schönheit sein! – dreh' den Kopf ein wenig nach links.«

Die großen, sie betroffen anstarrenden Augen ihrer Enkelin brachten sie zur Besinnung. – Was würde Goswyn sagen? dachte sie bei sich, wenn er mich hörte! Und bei dem Gedanken lächelte sie.

Erika hatte sich nur gerade Gesicht und Hände flüchtig abgewaschen und war in einen langen weißen Schlafrock der Großmutter hineingeschlüpft, als die Jungfer ein Teebrett mit Erfrischungen brachte. Trotz ihres noch immer andauernden Mißbehagens forderte die Jugend ihr Recht. Sie empfand entschiedenen Hunger, auch hatte sie schon lange nichts so Einladendes gesehen als dieses mit Aspik belegte kalte Fleisch und das duftende Aprikosenkompott. Sie legte sich sehr bescheiden vor und fing an zu essen.

Noch immer beobachtete die alte Frau sie genau, aber sie bemerkte nichts, was sie irgendwie abgestoßen hätte, keine Bewegung – die Art zu essen, zu trinken, ein Glas oder Messer und Gabel zu halten, alles war, wie es sein sollte.

Die Sache wurde der Gräfin Lenzdorff sonderbar. Sie freute sich an allem, was sonderbar war.

Um das junge Mädchen nicht beim Essen zu stören, sah sie von demselben weg, ihr Blick glitt über die paar Sächelchen hin, welche die Jungfer aus der abgeschundenen alten Reisetasche herausgepackt hatte. Wie armselig war das alles! Es stand in fast lächerlichem – nein, in geradezu rührendem Widerspruch zu dem jungen Geschöpf, das, trotz aller hemmenden Linkischheit, etwas Königliches an sich hatte. Mais elle est superbe – wo hab' ich denn meine Augen gehabt, dachte die Gräfin bei sich, dabei legte sie zufällig die Hand auf ein Buch, das auch zu Erikas Habseligkeiten gehörte. Es war ein Band Plutarch. Komisch, dachte die Gräfin, da bekomm ich ja einen kleinen Blaustrumpf ins Haus.

Als sie etwas zerstreut in dem Buche blätterte, merkte sie, daß hier und da eine Stelle dick mit Bleistift eingefaßt und durchstrichen war, manchmal eine ganze Seite, oft nur ein paar Zeilen.

»Was bedeutet das?« fragte sie.

»Die Mutter pflegte immer in den Büchern die Stellen zu bezeichnen, die ich nicht lesen sollte,« sagte Erika einfach.

Die Augen der alten Frau blitzten auf – war das eine Art, einem Kinde ein Buch in die Hand zu geben und seine Aufmerksamkeit auf die verfänglichen Stellen zu lenken – oder ... oder sollten die Mädchen, die auf dem Lande unter dem ausschließlichen Einfluß ihrer Mutter aufwuchsen, etwa anders geraten sein als die Mädchen in der Stadt und in Pensionaten?

»Und hast du die Stellen wirklich nicht gelesen?« fragte sie halb lächelnd.

Da wurde das Gesicht des Mädchens böse. »Wie sollte ich!« fuhr sie auf.

»Bravo!« rief die Großmutter, ihrer Enkelin auf die Achsel klopfend. »Du bist ein ehrentüchtiges kleines Frauenzimmer, das heißt eine große Seltenheit. Wir werden uns verstehen!«

Aber weit davon entfernt, ihre Freude über diese unumwundene Anerkennung kundzugeben, behielt Erika ihren finsteren Gesichtsausdruck bei.

 

Erika lag bereits zu Bett. Gräfin Lenzdorff hatte es nicht über sich gewinnen können, sich niederzulegen. Unermüdlich schritt sie in ihrer Schlafstube auf und ab. Sie hatte die volle Bedeutung des Eintritts ihrer Enkelin in ihr Haus erfaßt, sie war keine seichte, keine herzlose Frau, aber sie war, was ihr seelisches Empfinden anbelangte, eine wehleidige alte Frau, die jede starke Erschütterung ihrer Nerven von sich abwehrte.

Diesmal konnte sie derselben nicht Herr werden, ihr Gefühlsleben regte sich wie aus einem sehr langen Schlafe heraus, sie fühlte es anfangs nur wie ein unbestimmtes Mißbehagen, wie etwas Befremdliches, das sie sich als eine Nervosität auslegte, mit der sie fertig werden wollte, dann als einen erst leisen, aber immer stärker anwachsenden Herzensdurst.

Die Unzufriedenheit mit sich, die sie zu quälen begonnen, seitdem sie in Erfahrung gebracht, daß Erika nach dem Tode ihrer Mutter drei Jahre völlig vernachlässigt, ohne jegliche Anregung oder Aufsicht, allein mit dem Stiefvater verbracht habe, hatte sich jetzt in ihr verzehnfacht. Sie trachtete freilich sich einzureden, es sei einzig die Schuld des Polen gewesen, der ihr den Tod seiner Gattin nicht angezeigt hatte. Diese Ausrede beschwichtigte sie jedoch nicht. Was hatte sie ihn anzuklagen, was hatte er anderes getan als sie! Er hatte selbstsüchtig seine Bequemlichkeit gehütet.

Die Härte, die sie ihrer Schwiegertochter gezeigt, peinigte sie jetzt mehr noch als die lieblose Vernachlässigung ihres Enkelchens. Hatte sie das Recht, diese Schwiegertochter ob ihrer Schwäche zu verachten und zu verstoßen? Mein Gott, sie war ein seltenes Geschöpf trotz allem, an der Erziehung des Kindes hatte sie's bewiesen. Was mußte sie in das Mädchen hineingelegt haben, daß es imstande war, diese schrecklichen drei Jahre zu überleben, ohne zu sinken! Arme Emma! Ihr Herz wurde sehr schwer, wenn sie ihrer gedachte. Ihr Unrecht gegen die Arme datierte weit zurück. Sie leugnete es nicht.

Sie hatte sich von Anfang an nicht gut mit ihrer Schwiegertochter vertragen. Sie waren beide zu gründlich verschieden gewesen voneinander, Anna Lenzdorff mit ihrem scharfen, nüchtern beobachtenden Geist, selbstsüchtig bis in ihre sehr strenge Sittlichkeit hinein, die sie hochmütig als ein moralisches Reinlichkeits- und Unabhängigkeitsbedürfnis bezeichnete, etwas, das sie sich nicht als das geringste Verdienst anrechnete, da sie demselben nur zu ihrem Privatvergnügen frönte; gutmütig, aber ohne Begeisterung; grenzenlos, aber lieblos nachsichtig gegen die Menschheit, und mit der Ansicht behaftet, daß das Leben nichts sei als eine Posse mit einem tragischen Schluß – etwas, aus welchem man am ehesten Vorteil zog, wenn man es von einem recht guten, bequemen Platz aus beobachtete, ohne je den Versuch zu machen, sich handelnd hineinzumischen, fest überzeugt davon, daß die beste Führung des Lebens darin besteht, sich in seine schreienden Widersprüche und nicht auszufüllenden Risse hineinzufinden, sich mit Palliativen zu behelfen, wie es eben geht, und das große Defizit, das schließlich doch bei jeder Menschenexistenz herausschaut, so lange hinauszuschieben als möglich. Und dagegen Emma – Emma, der die Lebensphilosophie, welche ihre Schwiegermutter gleichmütig als »meine lachende Verzweiflung« zu bezeichnen pflegte, Entsetzen einflößte, Emma, die an alles mögliche glaubte, an Gott und die Menschen, ja, wie ihre Schwiegermutter behauptete, an die Heilbarkeit des Aussatzes und die Uneigennützigkeit der englischen Politik – Emma, der ein Leben, in das sie nicht handelnd eingreifen konnte, als jeden Interesses bar erschien, und ein Leben ohne Liebe ärger als der Tod – Emma, die selbstlos war bis zur Raserei, bis zur momentanen Gewissensblindheit, wo sie dem einen gab, was sie nicht das Recht hatte dem anderen zu entziehen – Emma, der die Begriffe des Maßes und der Schranke fremd waren, die, alle Palliative und alle lauwarmen Surrogate, mit denen man sich in der Welt behilft, verschmähend, vom Schicksal ein ganzes, ein volles Glück forderte, und sich dabei kopflos in einen Abgrund stürzte, der sich hinter einer Illusion verbarg. Ach, wenn's doch wenigstens ein Abgrund gewesen wäre! Aber nein, nicht einmal – nur ein Sumpf war's, und darüber hatte Anna Lenzdorff nicht hinausgekonnt.

Es war eigentlich seltsam; sie, die für jeden Verbrecher, von dem sie in der Zeitung las, eine Entschuldigung fand, hatte es ihrer Schwiegertochter nicht zu verzeihen vermocht, daß sich dieselbe, dank ihrem angeborenen Bedürfnis nach Romantik, so weit vergessen konnte, sich für diese polnische Nullität zu begeistern. Wie konnte eine vernünftige Frau überhaupt nach Romantik fahnden!

Als Anna von Rhödern mit zweiundzwanzig Jahren den Grafen Ernst Lenzdorff geheiratet hatte, besaß sie bereits, wenn auch erst in flüchtigem Maße angedeutet, dieselbe nüchterne Lebensauffassung, die sie jetzt in so hohem Grade vervollkommnet hatte. Sie war kurländischer Abstammung und die Tochter eines hervorragenden Diplomaten in russischen Diensten. Im Gegensatze zu ihrer Schwiegertochter eine gefeierte Schönheit, hatte sie dennoch mit zweiundzwanzig Jahren, allen gefühlvollen Dingen, auf die sie durch den großen Reiz ihrer Persönlichkeit ein Anrecht gehabt hätte, den Rücken kehrend, ihre Hand dem Grafen Lenzdorff gereicht, von dem sie später die Rolle, die er in ihrem Leben gespielt, dahin zusammenfaßte, daß er sie wirklich »sehr wenig geniert« habe. Für einen Ehemann wäre das sehr viel, behauptete sie.

Als sie ihn kennenlernte, war er preußischer Legationssekretär in Petersburg gewesen, dort heiratete sie ihn; nach längerer diplomatischer Laufbahn im Auslande übersiedelte er dauernd nach Berlin, wo er einen bedeutenden Posten im Ministerium des Äußeren einnahm. Sie pflegte ihn in den Momenten verwegener Aufrichtigkeit, für die sie bekannt war, als einen Automaten zu schildern, zu dem der jeweilige Minister des Äußeren den Schlüssel besäße. Wenn er einmal aufgezogen war, so funktionierte er recht gut die paar Stunden hindurch, die er im Amte verbrachte – war seine Zeit einmal abgelaufen, dann war er eine leblose Holzfigur, weiter nichts. Eine Holzfigur, die man mitten in sein Leben hineinschleppt, trägt wenig zur allgemeinen Behaglichkeit bei, besonders eine Holzfigur in den Dimensionen des Grafen Ernst Lenzdorff. Das merkte seine Gattin sehr bald. Sie drängte ihn mit großer Geschicklichkeit so rasch als möglich aus ihrem Leben hinaus, stellte ihn irgendwo in den Hintergrund auf ein würdiges Piedestal, was ja die beste Verwendung für Holzfiguren ist und wo sie sich sehr effektvoll ausnehmen.

Der einzige Sohn der Gräfin war das genaue Ebenbild seines Vaters, und ganz ebenso imposant hölzern.

Wenn Emma, dem Beispiel der Schwiegermutter folgend, ihn auch mit höflichem Anstand in irgendeinem Winkel auf ein Piedestal gestellt hätte, nun, da hätte sie mit ihm ein sehr annehmbares Leben führen können. Das Unglück war, daß sie Versuche anstellte, ihn glücklich zu machen.

Die Ergebnisse waren unerquicklicher Natur – aus einer zufrieden gleichgültigen wurde eine sehr ungemütliche Ehe. Dennoch war es für Emma ein großes Unglück, als Edmund Lenzdorff zwei Jahre nach ihrer Vermählung plötzlich, und zwar bei einem Eisenbahnunfall, ums Leben kam. Neben ihm hatte sich ihr Dasein wenigstens ruhig abgesponnen – sie hätte mit der Zeit auf ihre übel angewandten Beglückungsversuche verzichtet und ihren Lebenszweck in der Erziehung ihres Kindes gefunden, während so – kaum war er tot, so kam ihr ganzes Wesen ins Schwanken wie ein Schiff, von dem man den nötigen Ballast entfernt hat.

Erst erkrankte sie, wie ihre Schwiegermutter es nannte, an akuter Philanthropie. Bis in die verrufensten Winkel von Berlin hinein suchte sie, wo es irgendein Elend zu lindern gab. Dabei gestattete sie es nie, daß sie ein Diener begleitete, das könnte ihre Armen demütigen, behauptete sie. Einmal riß man ihr bei ihren Exkursionen die Uhr vom Leib, ein anderes Mal brachte sie den Flecktyphus nach Haus. Das war der Gräfin Anna unangenehm, aber sie verzieh es ihr, pflegte sie sogar selbst mit anerkennenswertem Mut über die schreckliche Krankheit hinüber.

Sechs Monate später heiratete sie den Ritter von Strachinsky – das verzieh ihr die Schwiegermutter nicht.

Viele Jahre waren vergangen seit der Zeit, Jahre, während derer sie sich nicht mehr um die arme Emma bekümmert, kaum mehr etwas von ihr gehört hatte. Jetzt tat's ihr leid.

Immer wieder kam Gräfin Anna auf die Erziehung zurück, die dem jungen Mädchen zuteil geworden, das im Nebenzimmer schlief.

Eine Frau, die ihrem Kinde eine solche Erziehung zu geben vermocht, die imstande war, es noch über das Grab auf Jahre hinaus zu beeinflussen, die war nicht die erste beste!

Freilich hatte sich ihr ein herrliches Material geboten. In Gräfin Anna meldete sich mit einemmal ihrer Enkelin gegenüber etwas, das sie für ihren Sohn nie empfunden, der Stolz auf ihr Fleisch und Blut. »Ein herrliches Geschöpf,« murmelte sie ein um das andere Mal vor sich hin, und sich selber ausspottend fügte sie hinzu: »Zu denken, daß sie mir häßlich vorgekommen ist im ersten Augenblick, armer Narr ... wem sie nur ähnlich sieht – ihrer Mutter sieht sie nicht ähnlich, meinem Sohn auch nicht!« Nachdenklich unterbrach sie sich in ihrer eintönigen Wanderung – blieb stehen. Etwas ganz Eigentümliches durchfuhr sie. Sie wendete sich zu einem altväterischen Boulesekretär mit sehr vielen Fächern. In einem dieser Fächer, einem sogenannten heimlichen Fach, das lange nicht geöffnet worden, begann sie zu kramen. Endlich fand sie, was sie suchte, eine Lithographie, die ein junges Mädchen darstellte, dekolletiert und mit den breiten Ärmeln, die in den vierziger Jahren Mode gewesen waren, – Gräfin Lenzdorff, als sie noch Anna von Rhödern hieß.

Das kleine graue Bild zitterte in der Hand der alten Frau; es wirkte wie ein Zauber auf sie, trug sie in eine Zeit zurück, die sie längst vergessen hatte – eine Zeit, in der ihr das Leben noch etwas anderes gewesen war als eine tragisch endende Posse. Ihr wurde plötzlich weh zumut beim Anblick des reizenden, ernsten, stolzen jungen Gesichts, es erinnerte sie an etwas, das sehr schön angefangen und in unsäglicher Bitterkeit geendet, an etwas, bei dem das Beste, Wärmste in ihr abgestorben oder zum wenigsten gelähmt worden war. – Da ... was war das? – ein leiser, unterdrückter Schmerzenslaut – noch einmal. Aus dem Nebenzimmer heraus klang es an ihr Ohr ... Sie ließ das kleine graue Blatt fallen, und einen Leuchter in die Hand nehmend, trat sie an das Bett ihrer Enkelin. Als sie die Großmutter kommen hörte, hatte Erika die Augen geschlossen und sich schlafend gestellt, aber die Tränen von ihren Wangen zu wischen, hatte sie nicht die Zeit gehabt.

Die Großmutter stellte die Kerze auf den Nachttisch, dann sich über das Mädchen beugend, flüsterte sie leise: »Erika!« Erika regte sich nicht. Wie rührend sie aussah, blaß, mager, und doch alles an ihr so edel und reizend trotz der Tränenspuren auf ihrem Gesicht.

Die Gräfin setzte sich auf den Bettrand und streichelte dem Kind die nassen Wangen. »Erika, mein Herzchen, was ist dir, hast du Heimweh?«

Da öffnete Erika ihre großen Augen und blickte die Großmutter finster an. Aber sie erwiderte kein Wort, sondern preßte die Lippen fest aufeinander. Wie konnte die Großmutter sie fragen, ob sie Heimweh habe, sie, der auf der Welt nichts mehr nahestand als ein Grab!

Die alte Frau zögerte – dann das widerstrebende junge Geschöpf aus den Kissen hebend, hielt sie es an ihre Brust. Sie drückte ihre Lippen auf den goldenen Scheitel des Mädchens und murmelte leise: »Verzeih mir, mein Kind, verzeih!« Einen Moment noch hielt die widerstrebende Starrheit Erikas an, dann begann sie wie wahnsinnig zu schluchzen – und dann – dann fühlte die Großmutter, wie sich der schlanke Körper fröstelnd wohlig in ihren Arm schmiegte und wie der müde junge Kopf auf ihre Schulter sank. Und eine Empfindung süßer junger Wärme drang der alten Frau bis ans Herz, das plötzlich von Zärtlichkeit ganz schwer geworden war.

Kurz darauf war Erika fest eingeschlafen. Die Großmutter verspürte keine Lust, sich niederzulegen. »Ich will einen Brief an Goswyn schreiben,« sagte sie sich, »ich muß ihm doch sagen, daß sie reizend ist – und daß sie es gut haben wird bei mir!«


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