Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Table d'hote ist längst vorüber, die Tafel schon vorbereitet für den nächsten Tag. Von durchsichtigen Schatten umdämmert, streckt sie sich durch den langen Saal, als sei für ein mitternächtiges Gespenstermahl gedeckt. Ein paar sperrige Topfpflanzen ragen zwischen den langen Reihen von Gläsern und Tellern, die dunkelvioletten Einbände der Weinkarten heben sich gegen die endlose weiße Tischfläche ab.

Die Rheinsbergs sind seit ein paar Tagen verschwunden, das Trio befindet sich auf einem Ausflug durch verschiedene kleine Städte: Vicenza, Padua, Verona. Die Lenzdorffs dinieren wieder in der für sie erhellten Lichtinsel am Anfang des Saales allein in dem verödeten Speisesaal.

Auf das inständige Bitten der alten Gräfin hat Erika sich schließlich bereit erklärt, heute abend in die Welt zu gehen, das heißt der Gräfin Mühlberg, die seit einiger Zeit von ihrem Manne gerichtlich geschieden, bescheiden und anständig in Venedig lebt und alle Mittwoch ein paar Menschen bei sich empfängt, einen Besuch zu machen. Die alte Gräfin ist ungewöhnlich heiter, Erika fast stumm.

Der unvergleichliche Oberkellner Fritz hat ihnen zuliebe die in den Garten hinausführende Glastür des Speisesaals geöffnet. Ein lauer, feuchter Hauch spielt zu ihnen herein, bringt ihnen den Duft der vom Frühlingsfieber neu belebten Erde in dem Gärtlein draußen – dazu einen Geruch von Teer, nassen Steinen und den unlauteren Sumpfgeruch der Lagune, der wie ein häßliches Gespenst alle poetische Schönheit Venedigs durchzieht. Man hört das leise Lecken und Plätschern der Wellen um die Stufen der alten Paläste, das Knarren der an ihren Pfählen festgebundenen Gondeln, ein paar eintönige Ruderschläge und, aus weiter Ferne herüberklingend, wie ein geisterhaftes Echo das Lied der Nachtsänger von Venedig.

Jetzt haben die beiden Damen ihre Mahlzeit beendet. Gräfin Lenzdorff, die zu träge ist, um sich in ihre Wohnung zu begeben, und die momentan keine Lust hat, den von Engländerinnen überfluteten Lesesalon zu betreten, hat ihren Freund Fritz dazu veranlaßt, ihr Tinte und Briefpapier zu bringen, damit sie in aller Eile einen soeben eingelaufenen Zettel beantworten kann.

Erika ist indessen hinausgetreten in den Garten. Den Kopf bloß, einen pelzbesetzten weichen Umwurf nur lose um die Schultern gelegt, geht sie über die grobkörnigen Kieswege an den Monatsrosen vorbei, die den ganzen Winter hindurch nicht aufgehört haben zu blühen – und an den hohen Rosenbäumchen, in denen sich das langverhaltene Leben erst neuerdings zu regen beginnt. Von Zeit zu Zeit wendet sie den Kopf, dem fernen Lied lauschend, das nicht näher kommen will. Hoch über ihr wölbt sich der Himmel, nicht mehr blaß, wie sie ihn heute zwischen den grauen Zweigen des historischen Baumes gesehen hat, sondern tief dunkelblau, mit zahllosen Sternen besät.

Zwei-, dreimal ist sie in dem Garten auf und nieder gegangen bis zu der Brustwehr des Gärtleins gegen den Großen Kanal zu. Als sie das viertemal zu der Tür zurückkehrt, hört sie im Speisesaal reden. Die Großmutter ist nicht mehr allein; neben ihr steht Graf Treurenberg.

Er reibt seine mageren, von der Gicht bereits mitgenommenen Hände ineinander und spricht: »Schade um ihn, er ist ein so durch und durch anständiger Mensch mit Männern, aber die Weiber verderben ihn, und er ist momentan die Coqueluche von allen kunstsinnigen Damen in Venedig.«

Erika zuckt zusammen, bleibt stehen, streckt den Kopf vor und horcht.

»So – hm! – Wundern tut's mich nicht,« erwidert gleichmütig die Großmutter.

Und Treurenberg fährt fort: »Ein Teufelskerl ist er; bei all seiner Empfindelei hat er noch gerade die Dosis Zynismus und ehrlicher Weiberverachtung in sich, die nötig ist, um einen Mann dem schwachen Geschlecht gegenüber ganz unwiderstehlich zu machen.«

»Sie sind höflich, Graf!« ruft Erika etwas gereizt in den Speisesaal hinein.

Er blickt auf; dort in der Tür steht sie in einem schwarzen Spitzenkleid, über weißer Seide, der pelzbesetzte Umwurf gleitet ihr halb von der Schulter herab, so daß man das fast grünliche Weiß ihres Nackens und ihrer Arme sieht; sie stützt sich mit der linken Hand an das Holz der Tür und dreht den Kopf nach rechts den beiden Plaudernden zu.

Wie oft wird sie die Großmutter noch so vor sich sehen – den ganzen poetischen, jungfräulichen Liebreiz ihrer Gestalt gegen den schwülen Frühlingshintergrund!

Der alte Treurenberg verzehrt das junge Mädchen mit einem bewundernden Blick, verbeugt sich und fragt schließlich: »Warum bin ich unhöflich? Selbst wenn ich vor Ihnen etwas Anzügliches über das schwache Geschlecht im allgemeinen sage! Das kann Sie doch nicht berühren. Wenn ich von dem schwachen Geschlecht im allgemeinen spreche, denke ich nie an Sie, Sie sind exzeptionell.«

»Wir sind beide längst gründlich davon überzeugt – nicht wahr, Erika?« meint die Großmutter, ihrer Enkelin zulachend.

»Aber warum diese Herrlichkeit, Gräfin Erika?« fragt Treurenberg, auf ein anderes Gesprächsthema übergehend. »Es ist das erstemal, daß ich das Vergnügen habe, Sie in großer Toilette zu sehen.« »Erika will mir zu Gefallen endlich anfangen, ein bißchen auszugehen,« erklärt die Großmutter. »Ich sagte ihr nämlich, dank ihrer Leidenschaft, sich vor der Welt zu verstecken, würde sich nächstens das Gerücht verbreiten, daß sie geisteskrank sei oder an einem Liebeskummer leide. Da ihr dies nicht wünschenswert erscheint, so hat sie sich herbeigelassen, mich zur Gräfin Mühlberg zu begleiten.«

»Zu Konstanze Mühlberg wäre ich auf jeden Fall gegangen, nur hätte ich mir nicht gerade ihren Empfangstag ausgesucht,« erklärt Erika, indem sie jetzt neben ihrer Großmutter Platz nimmt, wobei sie ihre beiden weißen Ellenbogen auf den Tisch und ihr Kinn auf die gefalteten Hände stützt.

Der alte Schönheitskenner kann sich heute nicht satt sehen an ihr. »Wenn man so für die Welt geschaffen ist wie Sie, Gräfin Erika, so hat man kein Recht, sich der Welt zu mißgönnen!« ruft er aus.

Sie erwidert nichts, und die Großmutter fragt ihn: »Sieht man Sie bei der Mühlberg, Graf?«

»Heute nicht – muß heute in das Rambouillet von Venedig.«

»Ach, zu der Neerwinden!«

»Ja, warum kommen Sie nie hin, meine Damen?« fragt der alte Herr.

»Aufrichtig gesagt, hatte ich anfangs keine Ahnung, daß man hingehen könne,« erwidert lachend die Gräfin.

»Weshalb? Wegen des Renommees der Hausfrau ...? Ich bitte Sie, in Venedig sind alle Ruinen in der Mode. Sie tun sehr unrecht, dem Salon Neerwinden fernzubleiben. Er ist eine kulturhistorische Merkwürdigkeit und mir für meinen Teil bedeutend interessanter als der Dogenpalast.«

»Aber selbst wenn ich die Neerwinden aussuchte, die Kleine kann ich doch nicht mitnehmen!« ruft immer noch lachend die alte Dame.

»Warum nicht? Ein solcher Pestherd von moralischen Infektionskrankheiten, wie Sie's anzunehmen scheinen, ist der Salon Neerwinden keineswegs. Und dann, Gräfin Erika wird durch nichts verdorben« – er schiebt die Achseln in die Höhe – »die ist gefeit!«

In diesem Moment tritt ein vierschrötiges, graubärtiges Individuum in den Salon, geziert und plump und sehr damit beschäftigt, ein Monokel, das nicht sitzen will, in seine rechte Augenhöhle zu klemmen. Ein Wiener Bankier ist's, Schmidt – er schreibt sich Schmytt – von Werdenthal. Sich mit affektiertem sans gêne vor den Damen verbeugend, schiebt er sich an Treurenberg heran. »Störe ich, Hans?« fragt er.

»Sie stören mich immer.«

Der Bankier lächelt über den guten Witz. So schwerfällig er sonst sein mag, legt er doch eine merkwürdige Behendigkeit an den Tag, wenn es gilt, sich über eine Grobheit hinwegzusetzen.

»Sie, Hans,« beginnt er von neuem mit jenem gedehnten Näseln, das nur ein in die Aristokratie verschlagener österreichischer Parvenu sich mit solcher Virtuosität anzueignen weiß, »wir wollten ja erst zur Gregoriewitsch, und wenn wir so lange trödeln, kommen wir zu spät.«

»Hol' Sie der und jener!« murmelt Graf Treurenberg, erhebt sich übrigens dennoch, um Schmytt zu folgen. Zum Abschied küßt er noch beiden Damen die Fingerspitzen. »Gräfin Erika,« sagt er vielsagend und mit einem letzten bewundernden Blick auf das junge Mädchen, dann zu der Großmutter sich wendend: »Wenn ich um dreißig Jahr jünger wär' – hm! Hätte mir nicht viel genützt, meinen Sie, Gräfin – wer weiß! Ich bin gescheiter, als ich aussehe! Wenn mich nicht alles täuscht, ist's der Gräfin Erika sehr darum zu tun, alle Sünder zu bekehren – und ich hätte mich so schön bekehren lassen, dem herrlichen Lohn zuliebe! Aber tun Sie's mir zu Gefallen, geben Sie eine Karte ab bei der Neerwinden, Sie werden's nicht bereuen. Man amüsiert sich nirgends so gut wie bei ihr, und wenn Sie Lust haben, Lozoncyi in voller Glorie Süßholz raspeln zu sehen ...«

»Aber Hans – die Fürstin wartet!« mahnt Schmytt.

»Ich komm' schon!« Graf Treurenberg verschwindet – lächelnd blickt ihm die alte Gräfin nach.

»Ich kann mir nicht helfen, ich hab' ein kleines Faible für den alten Sünder,« sagt sie. »Er ist so typisch, der echte österreichische Kavalier – fin de siècle, witzig ohne tiefen Verstand, gutmütig ohne Herz, mit Standeshochmut bis in die Fingerspitzen und ohne eine einzige unangekränkelte Standesüberzeugung. Wie du ihm heute in die Augen gestochen hast! Verübeln kann ich's ihm nicht. Was für ein herrliches Porträt Lozoncyi von dir malen würde! Hm! Weißt du, daß ich im Grunde genommen sehr große Lust hätte, die Neerwinden zu besuchen?«

»Um das Vergnügen zu haben, Herrn von Lozoncyi Süßholz raspeln zu sehen?« fragt Erika.

 

Die Neugier siegte – den nächsten Tag gab die Gräfin Lenzdorff ihre Karte im Palazzo Lugani ab.

Die Baronin Neerwinden beantwortete die Karten der beiden Damen sofort mit einem Besuch und einem Einladungsbillett, in welchem unter anderem die Worte standen: »Meine liebe Freundin Minona von Rattenfels wird uns mit der Vorlesung ihres letzten, noch unveröffentlichten Werkes erfreuen, und dürfte sich infolgedessen der Abend zu einem ziemlich genußreichen gestalten.«

Zum großen Erstaunen der Großmutter zeigte sich Erika völlig bereit, sich einmal den Rummel bei der Baronin Neerwinden anzusehen. Konstanze Mühlberg hatte sich den Lenzdorffs angeschlossen.

Lachend, erwartungsvoll, als handle es sich darum, einen Maskenball zu besuchen, verfügten sie sich an dem Abend der Vorlesung in den Palazzo Lugani.

Das Gebotene blieb nicht hinter ihren Erwartungen zurück – die Großmutter und Konstanze Mühlberg unterhielten sich königlich. Und Erika ...? Nun ...? Sie hatten sich verhältnismäßig früh eingefunden, das heißt um zehn Uhr. Die drei immensen Säle, in denen die Neerwinden zu empfangen pflegte, waren noch ziemlich leer.

Die Hausfrau saß bei ihrem Eintritt in dem letzten dieser drei Räume auf einem kleinen Diwan, unter einer Art Baldachin, und sehr effektvoll angetan in einem lose und großartig um sie drapierten Kleid von schwerem, silberdurchwirktem Brokat. Ihre noch immer schönen schwarzen Augen waren von langem, fast orientalischem Schnitt, ihre Züge nicht unedel, aber hart und reizlos.

Sie begrüßte die Gräfin Lenzdorff, sofort an alte Jugenderinnerungen anknüpfend, mit betonter Herzlichkeit und die beiden jüngeren Damen sehr gnädig. Nach einigen nichtssagenden einleitenden Phrasen begann sie von einer schwebenden Tagesfrage zu reden, worauf sie, auf interessantere Dinge übergehend, in der überzeugendsten Art die Schicksale der Erdkugel und der umliegenden Gestirne zurechtzurücken begann.

Soeben hatte sie ihren Zuhörerinnen anvertraut, daß sie sich heimlich mit der Verbesserung des elektrischen Leuchtsystems beschäftige und kürzlich mit der Ausarbeitung einer neuen Weltreligion fertig geworden sei, als ein plötzlicher starker Zustrom von Gästen und das immer mit diesem Ereignis zusammenhängende Geräusch das Ende ihrer Phrase verwischte, weshalb es den drei Damen nicht recht klar wurde, ob sie den Katechismus der Weltreligion zur Erleichterung der allgemeinen Verständlichkeit halber in Volapük verfaßt habe oder in Französisch, in welch letzterer Sprache sie sonst ihre geistigen Ergüsse aufzuzeichnen pflegte.

Erika mußte ihren Platz neben der Hausfrau einer Würdigeren überlassen und sich in das bunte Gewühl, welches jetzt durch die drei Säle zu wogen begann, mischen. Sie fand wenig Bekannte und machte die nicht ganz angenehme Entdeckung, daß sie außer ein paar rätselhafterweise hierher verschlagenen plattbrüstigen Engländerinnen das einzige anwesende junge Mädchen war. Wenn nicht Graf Treurenberg am Horizont erschienen wäre und sich verpflichtet gefühlt hätte, ihr ein wenig den Fremdenführer zu machen, so wäre ihr das Treiben um sie herum gänzlich unverständlich gewesen. Mit seiner allezeit bereitwilligen Indiskretion lieferte er den Text zu dem Bild.

Das männliche Kontingent war der Zahl nach stärker, das weibliche unvergleichlich vornehmer. Dieses bestand zumeist aus sehr schönen, interessanten Frauen aus der besten Gesellschaft, die aber fast alle durch einen fatalen Zufall ihre Hoffähigkeit eingebüßt hatten; die meisten von ihnen waren geschieden, ohne daß man über die eigentlichen Scheidungsgründe je ins klare gekommen wäre.

Die streng orthodoxen venezianischen und österreichischen Familien mieden den Salon, aber nicht so sehr sittlicher Bedenken halber, als weil es ihnen unangenehm gewesen wäre, irgendeinem deklassierten Landsmann dort zu begegnen, und nebenbei, weil sie diesen Salon als einen Herd von politischen und moralischen Umsturzideen betrachteten.

Darin hatten sie nicht völlig unrecht. Von dem sich fanatisch gegen jeden frischen Luftzug und die Erörterung unbequemer Dinge absperrenden Kapilawastusystem, über das sich die Gräfin Lenzdorff in der Berliner guten Gesellschaft beklagte, und das mehr oder minder die gute Gesellschaft der ganzen Welt charaktersiert, war hier nichts zu verspüren. Im Gegenteil blies es von allen Seiten recht frisch in die vornehme Ruine hinein, auch hatte jeder das Recht, noch so viele Fenster darin einzuschlagen, als ihm gerade gefiel. Es wurde über alles gesprochen, und in der heterogensten Weise. Infolgedessen war der Salon in seiner Art wirklich äußerst amüsant, und seine einzige langweilige Seite bestand darin, daß die Hausfrau, anstatt es den Gästen zu überlassen, sich auf beliebige Weise zu unterhalten, es für nötig fand, ihnen, wie Gräfin Brock in Berlin, jedesmal ein plat de resistance in Form irgendeines ausübenden Künstlers vorzusetzen, dessen Leistungen man herunterwürgen mußte, ob man Lust dazu hatte oder nicht.

An jenem Abend hieß das plat de resistance Fräulein Minona von Rattenfels, eine Schriftstellerin, die auf spezielle Bitte der Dame des Hauses sich entschlossen hatte, ihr letztes noch ungedrucktes Werk aus dem Manuskript vorzulesen.

Mitten in die schärfsten Witze Graf Treurenbergs hinein erging an die Gäste die Aufforderung, sich in den größten der drei Empfangsräume, den »Saal« par excellence, zu verfügen.

Graf Treurenberg reichte Erika den Arm. »Ah!« machte er, indem er die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens mit einem komischen Seitenblick auf die Schriftstellerin lenkte.

Diese saß bereits, das Manuskript vor sich ausgebreitet, hinter einem spindelfüßigen Empiretischchen verschanzt, das obligate Glas Wasser neben sich.

Etwa fünfzig Jahre alt, war sie grobknochig, fett und sehr stark gefärbt, dabei angetan mit einem schwarz durchschimmerten roten Seidenkleid, in dem sie aussah wie ein nicht ganz gar gekochter Hummer, und mit sehr vielen Schnüren von falschen Goldmünzen im Haar und um den Hals.

Ehe die Produktion begann, wurde das elektrische Licht herabgedreht, worauf ein paar rosa Wachskerzen auf dem Tisch der Vorleserin die ganze Beleuchtung ausmachten. Der literarische Vortrag wurde durch eine musikalische Einleitung geweiht, welche der gerade in Venedig weilende Pianist Harold Perfection übernommen hatte.

Er spielte eine Paraphrase von Siegmund und Sieglindes Liebesduett, aus der er langsam in das Motiv von Isoldes Liebestod hinüberschmachtete, was natürlich die Empfänglichkeit des Publikums für den ihm bevorstehenden Genuß nicht wenig erhöhte. Der letzte Ton verklang – Minona von Rattenfels räusperte sich. »Gräber!« schrie sie mit dumpfer, sehr tiefer Stimme in das Publikum hinein. Das war nämlich der gemütliche Titel, unter welchem sie ihren neuesten Zyklus von Liebesliedern zusammenfaßte.

Damit begann die Vorlesung.

Der Zyklus zerfiel in zwei Abteilungen: Liebesleben und Liebestod. In der ersten war sehr viel von Tautropfen und Morgenlicht die Rede, in der zweiten ebensoviel von Würmern und welken Blüten – in beiden aber von so viel glühender Leidenschaft, daß man der Hausfrau dankbar sein mußte für ihr Baireuthsches Verdunklungssystem des Zuschauerraumes, sintemalen dasselbe das Erröten einiger zartfühlender Damen bemäntelte, ebenso wie die spöttischen Grimassen des ganzen übrigen Publikums.

Natürlich war die Vortragsweise Minonas äußerst dramatisch. Sie schrie, bis ihr die Stimme versagte, verdrehte die Augen, bis sie dermaßen schielte, daß Graf Treurenberg allen Ernstes mit Erika wettete, ihr linkes Auge sei aus Glas. Sie wetteten um die gesamten Werke Minonas.

In den meisten ihrer Gedichte haderte Minona mit dem Geliebten, der sich als kalt, stumpf oder treulos erwies. Von Zeit zu Zeit aber »vertaumelte« sie »in den seligen Oasen ihrer Liebeswüste« unvergeßliche Stunden.

Dann wurde sie unsagbar grotesk – aus einem halbverständlichen Gemurmel klang nur immer noch das Wörtchen: Li – i – ie – be!

Plötzlich hörte man mitten in dieses absonderliche Spektakel ein paar stählerne Stricknadeln flink und gemütlich vor sich hinklappern.

Bald darauf war der Vortrag beendet.

– – – – – – – – – –


 << zurück weiter >>