Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Die Nacht nach dem Begräbnis schreckte ein leiser Wehlaut Erika aus dem Schlaf. Sie fuhr auf. Im verschwommenen Licht des ersten Morgengrauens, das die Fenstervierecke bereits weißlich in das Dunkel malte, sah sie etwas Schwarzes neben ihrem Bette auf dem Boden liegen. Sie schrie laut auf vor Schrecken. Da regte sich's. Es war ihre Mutter, die neben ihr auf der harten Diele lag. Sie mußte lange da gelegen haben, denn als Erika sie berührte, war alles an ihr eiskalt. Erika streckte die Arme nach ihr aus und zog sie zu sich in ihr warmes, weiches Bettchen. Sie sprachen beide kein Wort, aber ihre Herzen schlugen aneinander – der letzte Mißklang zwischen den beiden war ausgelöscht.

Sie hatte ihr Kreuz von sich geworfen, sie atmete auf, sie wollte sich aufrichten. Da merkte sie, daß sie eine Last schwerer als je zu Boden zog, daß ein neues Band sie an den Mann knüpfte, den sie jetzt, die letzte beschönigende Täuschung fallen lassend, verabscheute. Das Bewußtsein ihres Unglücks kam ihr langsam, sie wollte erst nicht daran glauben, und als sie daran glauben mußte, da war ihr's, als sollte sie wahnsinnig werden.

Erika merkte sehr bald, daß es nicht allein der Schmerz um den toten Knaben war, der ihr Unglück ausmachte. Nein, der Schmerz stimmte sie mild und weich. Ein anderer Druck lastete auf ihr, etwas, gegen das sich ihr Innerstes zornig aufbäumte, etwas, unter dessen Einfluß ihr Wesen sich verfinsterte und eine krankhafte Härte und Feindseligkeit annahm, unter der ihre Tochter allein nie zu leiden hatte. Dieser bezeigte sie seit dem Tode ihres Söhnchens eine unsagbare Zärtlichkeit, und das heranwachsende, liebebedürftige Mädchen wurde es nicht satt, sich an sie zu schmiegen, sich von ihr liebkosen zu lassen, mit tiefer Dankbarkeit, fast mit Andacht. Manchmal lächelte ihr die Mutter zu, mitten aus ihrer Trauer heraus, strich ihr die leuchtenden Haare aus dem blassen, großäugigen Gesichtchen. »Sie sehen es alle nicht,« murmelte sie, »aber ich seh's, wie hübsch du wirst. Arme Erika! Du hast eine traurige Jugend gehabt, aber das Leben wird dir's einbringen, wenn ich nicht mehr bin!«

»Sag nur das nicht,« rief das Mädchen und umschlang die Mutter mit ihren langen, schlanken Armen, »als ob ich das Leben aushalten könnte ohne dich! Mutter! Mutter...!«

»Du ahnst nicht, was man alles aushält!« sagte die Mutter bitter. »Man fügt sich – lern' dich fügen, lern's so bald als möglich. Verlang' nicht zuviel vom Leben, kein ganzes, in sich abgeschlossenes Glück – das ist Verblendung. Du wirst freilich einmal berechtigt sein, andere Ansprüche zu machen als eine arme, häßliche Frau, wie's deine Mutter war, mein schönes, begabtes Kind!« Sie sprach die Worte fast feierlich. Etwas von der Romantik, die sie quer durch alle Stadien ihrer prosaischen und erniedrigenden Existenz schleppen sollte bis ans Ende, brach sich jetzt Bahn in dem Kultus, den sie mit ihrer Tochter trieb.

Sie vor allen anderen impfte der jungen Erika die Überzeugung ein, daß sie ein Ausnahmegeschöpf sei, und obgleich sie dem Mädchen von früh bis Abend predigte, daß es nichts vom Leben verlangen solle, gab sie ihr doch zugleich zu verstehen, daß das Leben eigentlich verpflichtet sei, ihr etwas durchaus Besonderes zu bieten. Im ganzen hätte sich damals Erika, trotz des Schmerzes, den ihr der Tod des kleinen Bruders bereitet hatte, glücklich gefühlt wie noch nie, hätte sie nicht eine täglich wachsende Besorgnis um die Mutter gequält. Die Gesundheit derselben wurde mit einemmal sehr schlecht. Ihre Tatkraft war gänzlich gebrochen. Sie, die sonst vom frühen Morgen an bis spät in die Nacht hinein geschafft, die Zügel, die der Ritter lässig aus seiner Hand hatte gleiten lassen, so sicher und energisch geführt, die auf dem Gut und im Hauswesen überall gleich tätig aufmunternd und fördernd die Arbeit von fünf anderen geleistet, kümmerte sich um nichts mehr.

Erikas bemächtigte sich ein Angstgefühl, das um so quälender war, als das junge Mädchen sich nicht klar darüber wurde, auf was es sich eigentlich bezog.

Gegen ihren Gatten legte Emma eine peinliche, mit jedem Tage wachsende Reizbarkeit an den Tag. Er ließ sich dadurch in seinem Gleichmut nicht stören. Dank seiner in selbstbeschönigender Richtung sehr ergiebigen Phantasie, wußte er für das feindselige Wesen seiner Frau tausend Gründe herbeizuschaffen, die seine bedrohte Selbstgefälligkeit vor jeder Verletzung schützten. Dies alles, so teilte er seiner Vertrauten, Miß Sophy, mit, erkläre sich hinlänglich aus ihrem Zustand! Hierauf ließ er sich von Miß Sophy bewundern und bedauern, was übrigens schon seit längerer Zeit seine Lieblingsbeschäftigung geworden war.

Emma wohnte jetzt allein in einem großen Zimmer, in dem sich außer ihrem Bett und Waschkasten nichts als ein paar Bücherschränke befanden, ein paar steiflehnige Roßhaarstühle und ein runder Kachelofen, um den sich ein in rohem Basrelief ausgeführter Zug irrsinniger Bacchantinnen herumschlang, während sein plattes Dach mit einer großen Graburne geziert war. Die Dielen des Zimmers lagen bloß. In einer der ungewöhnlich tiefen Fensternischen stand ein Lehnstuhl. In diesem saß die Verzweifelnde täglich stundenlang, stumm, gerade, die Ellenbogen auf den Armlehnen des Stuhls, die Hände gefaltet, und blickte teilnahmlos vor sich hin.

Ringsum lag der Schnee ellenhoch auf dem Garten, in den man aus dem Fenster hinaussah, auf der Wiese, die sich vom Garten aus sanft talabwärts bis zu dem breiten, gefrorenen Fluß hinzog, auf der Eiskruste des Flusses lag er so dick, daß man den Fluß von der Wiese nicht mehr unterschied, auf den schwarzen Fichtenwäldern, die den Horizont umsäumten, auf allem lag er kalt und drückend. Alles kalt – alles weiß! Große Hügel und Mulden von Schnee, keine Straße kenntlich, nirgend ein Vogel, der sang, nirgend ein Blatt, das sich regte – alles kalt, alles weiß! alles still, ohne Pulsschlag, ohne Hauch – tot – die ganze Erde eine schöne, starre Leiche.

Und auf dieser weißen Eintönigkeit ruhten die Augen der Gepeinigten.

Der Frühling kam! Die erhabene Ruhe des Todes löste sich auf in die fiebernde Qual, in den zwischen Schönheit und Häßlichkeit, zwischen Feinheit und Schmutz herumirrenden Wechsel des Lebens.

Die Erde verschlang den Schnee – nur an wenigen Stellen, besonders in den Hohlwegen waren noch ein paar große weiße Fetzen hängengeblieben, die sich langsam in Schlamm auflösten.

Emma saß noch immer alle Tage stundenlang in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß, aber sie blickte nicht mehr teilnahmlos vor sich hin, ihre starren Augen hatten ein Ziel. Dort zwischen dem fahlen Grün der kürzlich schneebefreiten Wiese zog sich der Fluß – dunkel, hoch angeschwollen. Wie laut und unbändig er dahinjauchzte, froh, von dem drückenden Eisjoch erlöst zu sein. »Freiheit!« schrie es aus seinen Wellen, »Freiheit!«

Auf diesen Fluß richteten sich ihre Augen.

Tage vergingen – Wochen; das Wetter wurde lau, das Fenster, an dem sie zu sitzen pflegte, stand jetzt offen, so daß die laute Stimme des Stromes deutlich zu ihr drang.

Eines Nachmittags war's, Ende April. Die Pflüge knarrten über die Straße, ein Geruch von frisch aufgewühlter Erde schwängerte die Luft, und ein weißlicher Schimmer zog sich über die Äste der Obstbäume hin.

Die Sonne war untergegangen, das Licht glanzlos, im Westen hing die Mondsichel schmal und blaß.

Erika stand an der niedrigen Gartenmauer und blickte auf die Wiese hinab. Ihr junges Gemüt war wie erdrückt von der großen Angst, die auf nichts Bestimmtes hindeutete, dem sie ausweichen hätte können, sondern sie mit verbundenen Augen vorwärts zu schleppen schien in etwas, das unentwirrbar war.

Ihre Mutter war heute besonders zärtlich mit ihr gewesen, dabei aber so traurig wie noch nie. Sie hatte von sonderbaren Sachen gesprochen, so als ob der Tod ihr nahe stünde. Dann hatte sie lange Zeit damit verbracht, Briefe zu schreiben.

Plötzlich erblickte Erika etwas Dunkles sich rasch hinbewegen durch die taufeuchte, blasse Abendluft, eine hohe Gestalt in einem schwarzen Kleide, das der Südwind enger um ihre Glieder hüllte. Sie erkannte ihre Mutter.

Wie rasch sie dahinschritt über das jetzt schon lange und üppige Wiesengras, das im Winde zitterte! Wie seltsam ihr Gang war! Erika hatte noch nie jemanden so gehen sehen, mit großen Schritten, hastig und doch unbeholfen; sie ging, als ob sie Eile hätte und zugleich eine Zentnerlast mit sich schleppe – gerade auf das trübe, schnell fließende Wasser zu.

Mit einemmal erriet Erika, was sie vorhatte. Sie wollte schreien. Im ersten Augenblick versagte ihr die Stimme, im zweiten blieb sie stumm aus Geistesgegenwart – jener Hellseherei des Schreckens.

Sie schwang sich über die niedrige Mauer des Gartens und flog der Mutter nach. Ihre Füße berührten den Boden kaum, ihr Atem versagte, die Brust schmerzte sie.

Die dunkle Gestalt hatte das Ufer des Stromes erreicht – sie war am Ziel ... neigte sich vor ...

Da gruben sich zwei schmale, aber starke Mädchenhände in die schwarzen Falten ihres Kleides ... »Mutter!« schrie Erika außer sich.

Sie wandte sich um. »Was willst du?« fuhr sie die Tochter an, hart, fast grausam. Dann ... ein Zittern durchlief ihre Glieder und sie brach in krampfhaftes, wimmerndes Schluchzen aus – ein Schluchzen, das kein Ende nehmen wollte.

Die Tochter legte den Arm um sie, schmiegte sich an sie und küßte ihr die Tränen von den Wangen. »Mutter,« rief sie zärtlich, »Mütterchen!« Weiter sprach sie kein Wort, sondern wendete die Unglückliche nur sanft von dem Wasser ab. Die Mutter ließ es geschehen, sie war todesmatt und stützte sich schwer auf den schlanken, unfertigen Körper des vierzehnjährigen Mädchens.

Langsam wanderten sie nach Hause. Ein weißlich durchsichtiger Abendnebel zog feucht an der Erde hin, und mit schwerfälligem, sich tief senkendem und nur matt emporhebendem Flügelschlag zog eine Schar häßlich krächzender Raben an ihnen vorbei.

 

In der Nacht darauf fuhr Erika plötzlich aus dem Schlafe, ohne daß es ihr zum Bewußtsein kam, was sie eigentlich geweckt habe. Sie rieb sich die Augen, schloß sie wieder und wollte sich von neuem zum Schlafen zurechtlegen. Da hörte sie draußen vor ihrer Tür »Jesus, Maria und Joseph!« schreien. Sie sprang aus dem Bett und eilte bloßfüßig und im Nachtkleid hinaus. Sie erblickte die Köchin, die durch den Korridor der Richtung zujagte, wo sich das Zimmer der Mutter befand. »Was gibt's?« schrie das junge Mädchen. Die Köchin sah sich um, zuckte die Achseln und eilte weiter.

Erika merkte jetzt erst, daß die Füße der Köchin nackt in den Pantoffeln staken, und daß sie im Laufen ihren Rock zusammenknüpfte. Sie mußte plötzlich aus dem Bett aufgeschreckt worden sein.

Erika wollte ihr nach. Da kam Strachinsky aus der Biegung des Ganges, in der die Köchin verschwunden war. Sein Gesicht war verschlafen, er trug einen saloppen Schlafrock und hielt einen niedrigen Leuchter in der Hand. Neben ihm ging Minna totenbleich.

Strachinsky stellte den Leuchter auf einen langen, niedrigen, mit mehreren Lampen und anderem Gerät beladenen Schrank.

»Lassen Sie sofort einspannen,« befahl er, »man soll den Verwalter nach K ... schicken um den Arzt.«

»Möchten der Herr Baron nicht selber fahren? Man kann sich nicht immer verlassen auf die Leute,« bemerkte Minna mit einem sonderbaren und bezeichnenden Seitenblick auf den Ritter.

»Ach nein, der Verwalter wird das ganz gut besorgen, und dann – Sie begreifen, daß ich mich in dieser Stunde nicht trennen möchte von meiner Frau, sie wird mich brauchen, wird nach mir verlangen.« – Und da die Augen Minnas sich mit immer sonderbarerem Ausdruck auf ihn richteten, setzte er mit seiner überschnappenden, kindisch klingenden Stimme wütend hinzu: »Und dann – dann – geht Sie das alles nichts an – dumme Gans!« Damit kehrte er ihr den Rücken.«

Minna zuckte mit den Achseln und wendete sich gegen die Treppe, offenbar um in den Hof hinunterzueilen, die nötigen Befehle zu geben.

Weder sie noch der Ritter hatten Erika bemerkt. Diese aber lief der Wärterin nach und zupfte sie beim Ärmel. »Minna, was gibt's?« fragte sie beklommen, »die Mutter ist krank?«

»Ja!«

»Was fehlt ihr denn, sag's mir doch, Minna, so sag's!«

Immer heftiger drang sie in Minna hinein. Diese aber schüttelte das junge Mädchen von sich ab. »Laß mich, Kind, weiß Gott, daß ich Eile habe,« murmelte sie.

Erika machte ein paar Schritte vorwärts, so wie sie war, dann wendete sie sich in ihr Zimmer zurück. Dort stand Miß Sophy, sehr bekümmert, den Kopf voller Papilloten, die sie alle Abende aus der »Neuen freien Presse« schnitt und mit denen sie halb wie eine Medusa und halb wie ein Stachelschwein aussah.

»Wo wollen Sie hin?« fragte sie, da sie bemerkte, wie Erika sich hastig anzukleiden begann.

»Zu meiner Mutter,« erwiderte Erika, »sie ist krank.«

Miß Sophy hielt sie sanft zurück. »Gehen Sie nicht,« sagte sie leise, »man würde Sie nicht hineinlassen, Sie würden nur stören – warten Sie ein wenig – Ihre Mama kann Sie nicht brauchen dort – «, und sie wiegte ihren stacheligen Kopf schwermütig hin und her, dann leise und feierlich setzte sie hinzu: »Ich glaube – ich meine, Sie werden ein Brüderchen bekommen, oder vielleicht eine Schwester.«

Erika sah sie groß an. Also das war's! Unter all dem vielen Traurigen, das Erika zu erleben bestimmt war, sollte es nichts geben, das der Unruhe und dumpfen Aufregung, der Todesangst, gemischt mit etwas Unheimlichem, unaussprechlichem, gleichgekommen wäre, das sie in jenen Stunden bewegte.

Sie fuhr fort sich anzukleiden, ohne jede Sorgfalt, nur um bereit zu sein – wie man sich ankleidet, wenn es im Nebenhause brennt. Dann setzte sie sich Miß Sophy gegenüber an einen wackligen runden Tisch, auf dem eine Kerze mit einem großen Räuber stand, von der das Stearin alles nach einer Seite hinfloß.

Eine Weile war es still, dann hörte sie Lärm draußen. Sie sprang auf – eilte hinaus, sah eine ältere Person mit einer großen schwarzen Haube, sehr dick, mit dem phlegmatischen aufgedunsenen Gesicht eines Mönchs, auf das Zimmer der Mutter zuschreiten. Erika kannte sie längst als die unbemittelte Witwe eines Steinmetzen, die im ganzen Dorf an Mensch und Vieh herumquacksalberte. Sie hieß Frau Jelinek. Eine Küchenmagd war hinter ihr drein.

Rasch und geschäftig gingen sie vorüber an Erika, die ihnen, vor Angst und Spannung außer sich, nachblickte.

Zwei Stunden verflossen. Miß Sophy war eingeschlafen, Erika wachte noch immer.

Ein leichter Regen hatte angefangen zu fallen, die Tropfen brachen sich klirrend an den Scheiben.

Noch einmal stand Erika auf und schlich in den Korridor hinaus. Langsam, an allen Gliedern zitternd, kam sie bis an die Tür des Zimmers vor der Schlafstube ihrer Mutter. Sie war halb offen. Durch den Spalt drang Licht. Sie blickte hinein. Der Ritter saß vor einem Tisch und spielte mit drei Strohmännern Whist. Das war seit einiger Zeit seine Lieblingsbeschäftigung. Die Köchin stand in einem Winkel und legte Weißzeug zusammen. Erika wollte eben das Wort an sie richten, als die Frau Jelinek schwerfällig und phlegmatisch, die schwarze Ledertasche noch immer über dem Arm, aus der Schlafstube der Mutter heraustrat.

»Darf ich denn nicht zu Mama hinein – nur einen Augenblick?« rief das junge Mädchen aufgeregt.

Da öffnete sich wiederum die Tür der Schlafstube.

»Bist du's?« fragte Minna.

»Ja,« antwortete Erika ängstlich.

»Störe deine Mutter nicht. Bleib in deinem Zimmer, bis man dich ruft,« gebot sie.

Und aus dem Zimmer tönte die Stimme der Mutter matt und sanft: »Leg' dich nieder, meine Alte, mach' dir nicht unnütz den Kopf schwer, leg' dich zu Bett, mein Kind.« Eine Weile blieb Erika still stehen, dann küßte sie das harte kalte Holz der Tür, die sich ihr nicht öffnen wollte, und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie legte sich auf das Bett, so wie sie war – diesmal schlief sie ein. Mit einemmal fuhr sie auf – die Kerze brannte noch immer auf dem Tisch. Bei ihrem Licht sah sie, daß Miß Sophy, die sich auf das Sofa gelegt hatte, nun ebenfalls aufsaß und mit erschrockenem Gesichtsausdruck horchte.

Erika eilte hinaus. Auf dem Korridor begegnete ihr Minna – im selben Moment rollte der Wagen in den Hof.

»Der Doktor!« schrie Minna, »gottlob!«

Da kam der Verwalter die Treppe hinauf.

»Wo ist der Doktor?«

»Er war nicht zu Hause,« meldete der Verwalter.

»Haben Sie nicht gefragt, wo er ist?« drängte die sehr erregte Minna in ihn, »sind Sie ihm nicht nachgefahren?«

»Nein,« entgegnete der Verwalter, seinen struppigen Lodenhut zwischen den Händen drehend, »aber ich hab' zurückgelassen, er möge kommen, sobald er nach Hause zurückkehrt.«

»Trottel!« fuhr ihn Strachinsky an, der jetzt ebenfalls in den Korridor hinausgetreten war, und drohte dem Verwalter mit der Faust. »Sie sind entlassen,« setzte er großartig hinzu; dann sich an Minna wendend, sagte er: »Mein Gott, wenn ich ein Pferd hätte, könnte ich nach K... reiten!«

Ohne auf ihn zu achten, eilte Minna die Treppe hinab.

Um weniges später rollte von neuem ein Wagen aus dem Schloßhof hinaus.

 

Minna war selbst nach dem Doktor gefahren. Ehe sie gegangen, hatte sie Erika beschworen, sich ruhig zu verhalten, sich nicht zu ihrer Mutter heranzudrängen. Man würde sie rufen, sobald es anginge. Damit solle sie sich zufriedengeben.

Erika gehorchte. Ruhig und starr saß sie in ihrem Zimmer. Alles in ihr Schmerz und Todesangst um ihre Mutter!

Daran, sich auszustrecken, dachte sie nicht mehr. Gerade aufrecht saß sie an dem Tisch inmitten des Zimmers, auf dem die Kerze tiefer und tiefer niederbrannte. Anfangs hatte sie, um sich die Zeit etwas zu kürzen, versucht zu stricken. Aber die Nadeln glitten ihr in den Schoß.

Miß Sophy saß ihr gegenüber, die Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf zwischen den Händen, und horchte.

Wagenrollen tönte aus der Ferne. Es kam näher und näher bis in den Schloßhof hinein – Gott sei Dank! ... Minna war's, die den Doktor brachte. Ein irres Hin- und Herrennen – dann alles still – still – totenstill!

Die Morgendämmerung schlich durch die Fenster. Die Flamme der Kerze, bei der Erika wachte, wurde rot und glanzlos. Der Regen hatte aufgehört, durch die von der Feuchtigkeit verschwommenen Scheiben sah man triefende weiße Blütenbäume und hinter ihnen einen blaßblauen, fast grünlichen Morgenhimmel, in dem langsam die letzten Sterne verlöschten.

Da öffnete sich die Tür. Minna trat ein. »Komm, Erika,« sagte sie kurz mit heiserer Stimme. Erika erhob sich eilig, »Habe ich wirklich ein Brüderchen?« fragte sie beklommen.

Minna schüttelte den Kopf. »Es ist tot!« murmelte sie.

»Und die Mutter?«

»Ach, komm schnell ...«

Sie zog das Mädchen mit sich fort durch den langen, weißen Korridor. In dem Gemach vor dem Zimmer der Sterbenden stand Strachinsky neben dem Arzt. Der Arzt hielt den Kopf tief gesenkt, der Ritter weinte.

Erika trat an das Bett ihrer Mutter. Die Haare der Sterbenden waren von den Schläfen zurückgestrichen, die Schläfen waren gelb, die Lippen bläulich. Erika kniete neben ihr nieder und versteckte ihr Gesicht in den Bettrand. Die Mutter legte die Hand auf den Kopf des Mädchens und streichelte ihn – ach, wie matt! Aber es tat doch wohl.

In einer Ecke kniete die alte Minna und betete.

Draußen wurde es heller und heller, ein goldener Glanz verbreitete sich über die Erde. Die Vögel zwitscherten, erst vereinzelt, dann laut, schrill, rücksichtslos. Ein Blütenzweig pochte ans Fenster. Die Sterbende erhob sich etwas aus den Kissen – noch einmal hörte Erika die liebe Stimme der Mutter.

»Mein Kind, mein armes liebes Kind – ich habe schlecht für dich gesorgt – «

»Aber Mütterchen ...!«

»Mein Tod wird alles ins Geleise bringen – schreibe an...« In diesem Moment klopfte Strachinsky an die Tür. »Emma!« flüsterte er.

Ein unaussprechliches Grauen schüttelte die sterbende Frau.

»Laß ihn nicht herein!« rief sie.

Erika flog auf die Tür zu und drehte den Schlüssel um – als sie sich wieder neben das Bett hinkniete, rang die Mutter nach Atem.

Offenbar qualvoll bemüht, ihrer Tochter eine letzte Mitteilung zu machen, fand sie keine Worte dazu. Noch einmal fuhr sie Erika über den Kopf, ein letztes Mal – dann... Die Hand auf dem Scheitel des jungen Mädchens wurde schwer und kalt; – es war keine Liebkosung mehr, sondern eine Last.

Erika entzog sich derselben – blickte auf. Die Tränen blieben ihr in den Augen stehen, so wundersam war das Gesicht ihrer Mutter. Der Kampf war vorbei!

Der Schmerz des Lebens, der süße Schmerz höchsten Entzückens, der uns zu dem Himmel emportreibt, den wir nicht erreichen können – ebenso wie jener andere bittere Schmerz, der uns in das Grab hinunterzieht, vor dem uns schaudert, beides gleichermaßen für sie ausgelöscht!

 

Erika warf sich über den Leichnam und bedeckte ihn mit Küssen. Mit Gewalt mußte man sie von der Toten losreißen. Man schleppte sie hinaus. Sobald sich die Tür des Sterbezimmers hinter ihr geschlossen, wurde sie sanft und fügsam. Sie begriff nicht mehr; mit kleinen, ängstlichen Schritten, den Kopf tief gesenkt, ging sie neben Minna. Einmal noch sah sie sich um.

Ein dünner, wehmütiger Schall drang durch die stille Morgenluft. Es war die Stimme des Sterbeglöckchens, das sich unruhig in dem kleinen Schloßturm hin und her warf.


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