Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18.

Drei Tage hielt Gertrud Heidecker die Totenwacht, als Jakob Sindig auf dem letzten Lager ruhte. Drei Tage sprach sie mit ihm und klagte und bat um Vergebung. Alle die hundert Tage durchlebte sie, die vergangen waren. Den ersten, da Jakob Sindig am Hoftore gestanden und sie das Rätsel in ihm gefühlt, den anderen, da sie beide schuldig geworden waren. Dann war sie stolz gewesen, daß er an ihr zerbrochen und an ihr gewachsen war zu schier übermenschlicher Größe, in der seine Seele auf starken Fittichen hinaufgeflogen war über die anderen.

Und dann den letzten Abend, da er die Mörder kommen horte, ihr die Hand reichte und bat: »Bleibe! Es ist der letzte Sturm auf unsern Frieden. Sie können es noch nicht begreifen, daß ich nun mir selber leben will. Ich will es ihnen sagen; hernach ist es vorüber für immer. Bleib!«

So war er von ihr gegangen.

Dann hatte sie über ihm gelegen, hatte nichts von sich gewußt, hatte die toten Lider, die schwer auf den traurigen, guten Augen lagen, geküßt und hatte nach niemandem gefragt, und als sie Marlene am Arme gerührt: »Bäuerin, was tust du? Du bist von Sinnen,« da hatte sie sich aufgerichtet: »Was wißt ihr, was er mir war! Laßt mich allein mit ihm.«

Sie redete mit ihm, wenn die Nacht still und weich über die Erde ging, und redete mit ihm, wenn die Sonne draußen den Segen in die Fluren senkte.

Ihr Kind hatte sie auf dem Schoße und ließ seine kleinen Hände die großen, guten, kalten des Toten streicheln.

So traf sie Wilm Larns. Der war von dem Lager seines jungen Weibes hergeeilt, das ihm den ersten Sohn geboren hatte.

Wilm Larns kniete nieder. »Mien Bröer, mien armer, armer Bröer!« Der starke Friese weinte und legte die Hand auf des Bruders Augen, sah das Blutmal auf seiner Stirn, legte die Hand darauf und wollte schwören, den Toten zu rächen.

Da warf sich ihm Gertrud Heidecker in den Arm und riß die Schwurhand herab. »Du hast Jakob Sindig nicht gekannt, Wilm Larns! Schände ihn nicht!«

Dann saßen sie und erzählten. Das Kind ging vom einen zum andern, und Gertrud Heidecker ließ Jakob Sindig lebendig werden in Schuld und Größe. Wilm Larns gab ihr die Hand. »Nun wet ik, wat ihn da halten hät. Dat he god war, dat hev ik van Tag müßt, aber dat he so grot war, dat hev ik nich denkt. Aber noch wet ik ens nich, warum ji da nich'n Strich makt hevt und seid to Wilm Larns kommen. Dat wet ik nich.«

Und Gertrud Heidecker klagte, daß sie klein gewesen sei, gewachsen sei einzig Jakob Sindig. Bis ihr der Moorbauer die Hand auf die Schulter legte. »Lüg' nich, Wiv. Dat sollst du nich tun. Ik will di seggen, wat dat war. Dat is Schicksal un kommt von einem, dem wir nich up die Finger gucken können, weil dat Unbegreifliche sien Ort is. Nu is Jakob dod. Der war te god für die Welt, die kene Hilligen bruken kann, un sie dodschlägt, solang as die Erde steht. Nu wird dat Kind wassen. Hüt ehm, dat he en Mensch wird, ken Hilliger, und God bewahr ehm davor, dat he en find, die ihn tum Hilligen maken möcht aus lauter Lev. Du mußt nich flennen, Wiv. Dat is ken Anklage wider dich. Du hast dat gut ment un he ok. Un dat Starven, dat is dat Schlimmste nich. Dat is man so en körten Övergang, denn so is alles wieder god. Nu gah ik na'n Vorsteher. Wir wull'n Jakob Sindigs Erbe up feste Fot stellen.«

Der Vorsteher war in seinem Leben nie so erschüttert gewesen. Ganz auseinander war der Mann, hielt sich allein und ging abseits. Und der steife, feste Mensch, der sich selbst vor Gott selten gebeugt hatte, der lag auf den Knien, rang die Hände und klagte: »Jakob Sindig ist tot!«

Er ging mit sich ins Gericht. ›Nun ist er tot, und der ihn totschlug, das bin ich. Vergib mir, Gott, daß ich einen erschlug, der besser war als wir alle.‹

Dann trat eine feste Entschlossenheit in seine Augen. ›Ich will ihm ein Denkmal setzen in Bergroda.‹ –

Wilm Larns reichte ihm die Hand. »Dag, Vorsteher. Nu is he dod, mien Bröer, un ik kam to spät. Ik bin Tag un Nacht fahren. Mien Erstgebornen hev ik kaum in't Oogen sehn un mien Wiv die Hand drückt. Der Bucklige hat all to laut geschrien; dat hat gellt bis in't Moor. Nu is he dod.«

»Ja,« sagte der Vorsteher düster, »und der ihn totschlug, das bin ich.«

»Du?« fragte Wilm Larns verwundert, »hast du den Stein up ehn schmeeten?«

»Der Stein? Das war nur das letzte. An dem hing es nicht. Ob Stein, ob Kugel, ob Keule, das ist gleich.«

»Vorsteher, ik will di wat seggen. Ik kumm von en Wiv, die an Jakob Sindigs letztem Lager sitt, un die seggt ok: Ik hev ehn dodslan, un wenn ik dat recht bedenk, denn so kann ik ok seggen: Ik hev ehn dodslan. – Is alles falsch wessen: Dat ik den Lüten de Schulden bezahlt, dat ik sie mit na'n Moor nahm, alles. Alle sind wir schuld un doch ok nich. – Vorsteher, da is kommen, wat kommen mußte. De Menschen dulden ken Hilligen. Ik wet, dat sie nu in all den Häusern un up all den Höfen in denselben Gedanken gehn: Ik hev ehn dodslan, weil dat sich jeder schuldig wet. Wat geschah, is von en annern, un der wet, wat ji tut. – Ik bitt di, Vorsteher, hülp mi, dat wir Jakob Sindig en Denkmal setten, wo he litten hat un starven mußt. Ken Stein, dat is to wenig for Jakob Sindig. En Denkmal mut dat sin, dat Leven hat un ewig is as de Barge un as dat Wasser und as die Wälder up den Bargen.«

Der Vorsteher reichte ihm die Hand. »Das ist mir lieb, daß du gekommen bist und helfen willst. Wir gehen auf gleicher Straße und wollen deinem Bruder ein Denkmal setzen, ein lebendiges. Ich habe die Leute für heute abend zum Wirte bestellt. Es wird eine schwere Stunde für mich werden, Wilm Larns, eine, die richtet über viel Irrtümer. Aber ich bin es dem Toten schuldig, den Punkt zu setzen hinter sein Werk. Nun kann ich es. Als er lebte, glaubte ich, es sei unmöglich.« –

Scheu kamen die Leute zum Wirte. Sie redeten leise und ängstlich von Furchtbarem. Aust hatte sich dem Gericht gestellt, Heubacher war in der Lokwa ertrunken.

Als der Vorsteher und Wilm Larns eintraten, schwiegen die Leute. Der Vorsteher war blaß und vermochte anfänglich kaum zu sprechen.

»Jakob Sindig ist tot,« begann er rauh und rostig. »Es hat ihn einer totgeschlagen, der ihn liebhatte. Der hat den Stein nach ihm geworfen und hat sich nun dem Gericht in Niederau gestellt, weil er ein wackerer, aufrechter Mann ist. Jakob Sindig hat um Guttat sterben müssen. Ich muß euch aufzählen, was er euch getan hat; denn ihr habt es vergessen. Er hat damit angefangen, daß er auf dem Binsenhofe eine rechte Wirtschaft einrichtete. Für die Steinert hat er sich verbürgt, und dem Eberlein hat er das Heim erhalten, hat die Heimatlosen am Moore aufgenommen und denen, die den Mut fanden zu einem neuen Leben, Land zu eigen gemacht durch des Freundes Milde. Über Heidecker, den ihr unter euch gerichtet habt in liebeleeren Herzen, hat er eine helle Flamme des Erbarmens leuchten lassen, hat die Hungernden gespeist und sich derer angenommen, die um ihrer Gebrechen willen ein Gespött waren. Hat einer von euch es in der letzten Zeit recht bedacht, was er euch tat? Keiner. Ihr hattet euch darein verrannt, daß auch Jakob Sindig eine kleine, eigensüchtige Seele gehabt, weil euch das Niedrige natürlich ist. Tut die Augen auf! Was ich daherzählte, das sind Blüten, zwar duftend wie die Blüten unserer Linden, an dem Stamme, der Jakob Sindig hieß; aber sind sie auch schön, und ist jede einzelne ein Köstliches, so ist das alles doch nur klein. Größer ist das, was verborgen liegt. Das hat unter unser aller Füßen gelebt, so wie eines Baumes tiefstes Leben kämpft und sich nährt, wohin kein Auge zu sehen vermag. Wir haben gespürt, daß es da ist, und haben es für nichts geachtet oder uns dagegen gewehrt. – Jakob Sindig hat den Irrtum erkannt in dem, wie wir schaffen und uns nähren, und in dem, was unseres Wesens eigenste Art ist. Bauern, ich rede zuerst zu euch, Jakob Sindig hat die Hangäcker gehaßt. Habe ich auch keinem gesagt, es selber vor mir nicht Wort haben wollen lange Zeit, es ist doch wahr: Jakob Sindig bin ich gefolgt, als ich meine Hangäcker verpflanzte oder zu Wiesen machte. Tut es mir nach. Wir wollen dem Toten ein Denkmal setzen, das steht, wie die Berge stehen. Los von der Knechtschaft der Hangäcker! Die Bergwiesen sollen der grüne Sockel sein am Sindig-Denkmal. Wir wollen umlernen und unser Leben in andere Richtung leiten. Es muß eine neue Welt werden in den Bergen. In dieser neuen Welt sollen neue Menschen gehen. Leute, Häusler, Flößer, Jakob Sindig hat euch zu Menschen machen wollen. Meint nicht, ihr seiet Menschen gewesen. Daß ihr Not littet, das erweist nicht euer Menschentum. Ihr ginget unter der Knechtschaft des Aberglaubens und der Fron der Lieblosigkeit. Beider Zeit ist gewesen. Fürchtet nicht, was außer euch ist; was in euch ist, das fürchtet und herrscht darüber. – Wir haben uns verschlossen vor dem, was draußen lebt. Von nun an sollen die Täler offen sein. Dreimal schon bin ich angegangen worden, zu helfen, daß die Wasser dienstbar gemacht werden, ich habe es geweigert bis gestern. Gestern habe ich einen Vertrag unterschrieben. In einem halben Jahre wird das erste Sägewerk an der Lokwa stehen. Die Täler wären nie zu enge gewesen, hätten wir das Leben hereingelassen. Weil wir uns davor stellten, darum rächte es sich und gebar Härte und Auflehnung. – Bauern, ich schlage die Faust auf den Tisch. So schlage ich die Losung zusammen, die die Niedertracht zeugte. Geht unter der Liebe, seid Menschen, nicht Knechte, alle untereinander. Ihr Häusler, die Häupter hoch, es kommt eine neue Zeit. Frei gehe jeder, aber er sei gebunden an das Gute. Solange unsere Augen die Berge schauen und die Wälder, so lange wollen wir an dem bauen, wofür Jakob Sindig starb, und unsere Kinder sollen das Denkmal immer höher führen und sollen daran Zierat um Zierat meißeln. Alles Gute, das unter uns wächst, wird es zieren. Die Hände her, Männer, Jakob Sindig soll nicht umsonst gestorben sein!«

Des Vorstehers Augen leuchteten wie Sonnen. Es ging wie Sturmwind über die Herzen. Die Flößer drängten sich polternd an seinen Platz. »Vorsteher, Vorsteher!« Er griff hinein in den Haufen, hierhin und dorthin. Die Sonne in seinen Augen lag auch über den Bauern, und die Gewalt, die den Mann erschütterte, riß sie mit, daß auch sie ihm ihre hartrindigen Hände entgegenreckten.

Der Kreuzbauer stand dicht an seiner Seite, hatte einen hellen Tropfen im Auge und sagte leise: »Vorsteher, mußte Jakob Sindig sterben!?«

Er erhielt keine Antwort, aber als sich der Vorsteher einen Augenblick an ihn lehnte, da wußte er, wie es in dem Manne aussah.

Es folgte eine schwere Stille, und es war, als ginge Jakob Sindigs Seele durch den Raum. In die Stille hinein sagte Wilm Larns leise: »Mien Bröer, mien lever, lever Bröer.« Dann laut: »Nun starvt mien Bröer up ewig nich.«

Da richtete sich der Vorsteher abermals hoch. »Männer, dem Treuen seid ihr aus treuen Händen geglitten und seid einem in die Finger gefallen, den Gott gerichtet hat. Der euch in das Elend hetzte, der Jakob Sindigs Totschläger war, dem ihr folgtet, ob ihr es schon kaum wußtet, der war Valentin Heubacher. Ich muß noch dem Toten den letzten Fetzen vom Leibe reißen. Das gebietet die Gerechtigkeit. Er war der Röder, er war der Binsenschnitter, das Gespenst der letzten Tage, der Brandstifter auf dem Kreuzbauernhofe, und –« er wischte sich den Schweiß von der feuchten Stirne, – »ich habe es gewußt und ihn mir in vielem dienstbar gemacht.« Er sprach langsam und ließ die Worte niederfallen wie Keulenhiebe. »Das ist das Letzte, das ich zu sagen hatte in dem, was der Gemeinde Sache ist – – Es kommt eine neue Zeit. Die braucht keinen Heubacher mehr. Ich kann euch nicht hineinleiten in die neue Zeit; denn das Vergangene liegt zu hart auf mir. Bauern, ihr seid vollzählig da, – meine Zeit ist aus. Wählt einen neuen Vorsteher. Der Kreuzbauer hat sich als ein gerader, aufrechter Mann erwiesen. Da steht er. Kreuzbauer, du sollst uns in das Neue hineinführen.«

Der stutzte und wehrte ab. Der Vorsteher aber schlug allen Widerspruch und alle Einwände nieder.

Er reichte dem Kreuzbauern die Hand: »Du wirst keinen Jakob Sindig totschlagen lassen müssen und keinen Heubacher brauchen. Glück zu!«

Wilm Larns ging mit nach des Vorstehers Hofe. Er fragte unterwegs: »Willt du nun ganz abseits stahn?«

»Nein,« antwortete der Vorsteher lebhaft, »nein, ich will mich zu ihnen halten und sie mitreißen, wenn es not tut – es ist mit heute nicht abgetan, die grauen Tage kommen wieder – aber der Erste unter ihnen kann ich nicht mehr sein. Das kann nur einer, der gerecht ist in sich selber. Es gilt nichts, daß er einen Heubacher braucht, es gilt auch nichts, daß er einen aus dem Wege werfen muß, wenn nur sein Inwendiges laut und hell ja dazu sagt. Das aber, Wilm Larns, tut es in mir nicht mehr. – Der Kreuzbauer hat mich gefragt, ob Jakob Sindig sterben mußte. Du siehst, er ist nachdenklich. – Ich hoffe, es soll nun ein rechtes Leben unter uns werden.« –

Als ihm Wilm Larns zum Gutenachtgrüße die Hand reichte, wußte er nicht mehr zu sagen als: »Vorsteher, du bist 'n Bur.« Das schlichte Wort aber klang wie eine Huldigung. – –

Und wieder ging es durch die Häuslein und durch die Höfe: Jakob Sindig. Wie sie vorher übertrieben hatten, ihm Leides zu tun, so übertrieben sie jetzt, ihn zu ehren. Sie verklärten ihn, woben einen Heiligenschein um sein Haupt, klagten sich an.

Am andern Tage ging der Trauerzug aus dem Binsenhofe. Acht Häusler trugen den Sarg bis zur Lokwabrücke. Dann gaben sie ihn an die Flößer.

So trugen sie Jakob Sindig zu Grabe, und als sie Erde auf seinen Sarg geworfen hatten, da war er darunter begraben, ehe noch einer die Schaufel geschwungen.

Die Moorleute weinten wie Kinder und warfen Blumen und Hände voll schwarzen Moorlandes, das sie in den Taschen getragen hatten, hinab.

Wilm Larns rannen die Tränen in großen hellen Tropfen über die Wangen. Er wehrte ihnen nicht. Der Vorsteher stand ernst und eisern und sah lange sinnend in das Grab.

Gertrud Heidecker aber hatte keine Tränen mehr. Sie hielt ihr Kind an der Hand, und ihr Herz ging in starken Schlägen. »Du bist bei mir,« sagte sie leise. – – –

Die Jahre sind ihren Weg gezogen. Wer heute durch die Täler wandert, sieht kaum noch einen Hangacker. Üppige Wiesen stehen voller Blumen. Zwischen ihnen hier und da Häuslein, die aus blanken Fensteraugen schauen. In den Vorgärten prunken Sonnenrosen und Georginen, und der wilde Wein läßt lange Freudenwimpel flattern. Ziegen springen an den Abenden in die duftenden Gräser, rupfen und schmausen. Auf den Höhen stehen kleine, reiche Höfe. An den Wassern klappern die Mühlen, Sägen kreischen noch in das Abendwehen hinein.

Es steht keiner mehr wie ein Klotz vor den Tälern. Eine gut gehaltene Straße führt von Niederau durch den Saugraben, am Binsenhofe hin in den Wald, vorüber am »Sindig-Moore«, auf dem vier Gütlein stehen. Eine andere kommt aus dem Bärengraben herauf und biegt nach links hinüber, in das Horlatal.

Auf dem Binsenhofe wohnt einer als Herr, der größer ist als alle die Männer in den Tälern. Der hütet als besten Schatz ein schmächtig Mütterlein mit unendlich gütigem Gesicht unter schlohweißen Haaren.

Enkel spielen um ihre Knie, und dann und wann fragt eines: »Großmutter, warum tragen wir immer Blumen auf das Grab, auf dem steht: Jakob Sindig?«

 


 << zurück