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5.

Lange vor Tag war der schlaflose Bauer von Tür zu Tür gepoltert. »Aufstehen, es ist Zeit!«

Da war das Leben auf dem Hofe erwacht. Die Mägde gingen an die Arbeit im Stalle, die Knechte fütterten die Pferde. Das Klirren der Ketten rasselte grell und aufdringlich durch das Haus. Jakob Sindig kam mit wuchtigen Schritten die Stiege herab. Er schritt auf den Hof hinaus an den Brunnen, riß das Hemd vom Oberkörper und ließ den kalten Strahl über Brust und Rücken rinnen.

Da fuhr der Bauer auf ihn drein. »Bist du unsinnig? Im Winter unter den Brunnen gehn!«

Jakob lachte. »Ich war nie krank. Man muß nicht auslassen, dann gewöhnt man sich an das kalte Wasser. Es ist nur im Anfange schwer. Du solltest es auch versuchen, Bauer. Mir scheint, es würde dir guttun. Du siehst müde aus und krank.«

Der Bauer knurrte und ging in die Stube. Da war sein Weib dabei, den Tisch zu richten. Sie erschrak, als sie ihren Mann sah.

»Bist du krank?« fragte sie ihn.

»Vielleicht, daß ich es werde,« entgegnete der Bauer, »es liegt mir in den Gliedern, und es fröstelt mich.«

Sie drang in ihn, sich wieder niederzulegen, aber der Bauer wehrte ab.

Er stand vom Frühstück auf und setzte sich wieder. So etliche Male. Jakob Sindig fragte er, was er heute an Arbeit vorhabe. In das Holz zu fahren, dazu sei wohl heute das Wetter zu schlecht, meinte Jakob. Das bestätigte der Bauer hastig. Sie sollten heute nicht in den Wald gehen, ja nicht. Bei dem Wetter! Es gäbe andere Arbeit.

Ja, da sei das Getreide umzuschaufeln, schlug Jakob vor, und etliches sei in Säcke zu fassen. Das war der Bauer zufrieden. Er stieg mit Sindig auf den Getreideboden, schaufelte, ging wieder hinab, kam zurück und tappte wieder nach der Stube.

Obschon es gegen den Mittag ging, war es doch düster und halbdunkel. Es schneite und schneite. Der Bauer setzte sich vor sein Schreibpult und versuchte zu schreiben und zu rechnen.

Da trat sein Weib hinter ihn.

»Johann,« begann sie, »ich muß dir etwas sagen.«

Der Bauer fuhr erschrocken zurück. »Was, was willst du mir sagen?«

Die Bäuerin war betroffen. »Es ist nichts Schlimmes,« sagte sie leise.

Da ließ sich Heidecker wieder nieder. »Was ist es?«

»Wir – werden ein Kind haben.«

Das flog auf den Bauern zu wie ein Licht, vor dem man die Augen schließen muß, weil es grell und unvermittelt aus Nacht kommt.

»Ein Kind, sagst du? Ein Kind?« Er lachte. »Das ist gut. – Dann hat der Hof einen Erben. Das ist gut!«

Die Bäuerin ließ sich am Tische nieder. Ihre Lippen lagen schmal und blutleer aufeinander.

Der Mann aber rannte förmlich in das Licht hinein und war außer sich. Er nahm seines Weibes Hände in die seinen.

»Sag, glaubst du, daß ich ein – schlechter Mensch sein könnte?«

»Johann, was hat das mit dem zu tun, was ich dir sagte? Wie magst du so fragen?«

In des Bauern Augen flackerte es wie Irrlichter. »Es ist zwischen uns nicht, wie es sein müßte, Gertrud, vielleicht lag es an mir. Ja, an mir. Vergiß das, ich bitte dich! – Ich brauche einen Menschen, der mit mir geht, weil ich sonst allein bin, einen, der weiß, daß ich ihn brauche, und der gerne mit mir geht, ob es hell ist oder finster.«

»Ich bin dein Weib.«

»Ah, das war ein gutes Wort. Wie du das sagst! Du bist mein Weib, ja, das bist du.«

»Und ich stehe zu dir.«

»Immer?«

»Ja, das will ich. Das ist fest geworden in mir.«

»Ah, das ist gut. – Es ist schwer, für den Hof dazusein und zu sorgen, daß er wächst. Da kann es geschehen, daß man einem weh tut, aber dir will ich nicht weh tun. Sag, wüßtest du etwas, das dich freut?«

»Gar keinen Wunsch habe ich. – Ich wußte nicht, daß es dir so nahegehen würde, was ich dir sagen mußte.«

»Es reißt an mir, und ich will daran denken, wenn ich dir einmal etwas tun kann. – Ja, du bist mein Weib, und wir werden ein Kind haben, und was war, das war und bleibt draußen. Es soll nichts über die Schwelle. Der Hof ist groß, und wir werden ein Kind haben! Es wird schreien, und dann wird es durch das Haus gehen und wird ›Vater‹ sagen, und – was draußen ist, bleibt draußen. – Droben auf dem Boden steht die Wiege des Binsenhofes. Ich will sie suchen. Vielleicht, daß einiges daran zu bessern ist. Man hat sie lange nicht gebraucht. Ich will sie suchen.«

Er tappte hastig die Treppe hinaus.

Gertrud Heidecker aber saß am Tische. Sie sah elend aus. ›Warum fragt er nicht?‹ dachte sie. Und dann: ›Ich müßte es ihm sagen. Nein, ich tue es nicht. Nichts sage ich ihm. Es ist mein, mein allein. – Aber mir ist, als müßte ich mich fürchten. Was redet er von dem, das draußen bleiben soll? Es ist, als lehne er sich an mich. Das hat er nie getan, und er ist schwer. Er hat nie nach mir gefragt. – Marlene sagt, es schliche etwas um das Haus, und der Totenwurm klopfe. Ich fürchte mich. Es ist etwas in dem Bauern, das mir Angst macht.‹

Marlene hatte die Arbeit draußen getan. Von der Tenne her klangen die Dreschflegel, aber die Altmagd nahm nicht teil an der Arbeit.

Sie kam in die Stube, zog das Spinnrad aus der Ecke und begann zu spinnen. Dazu summte sie leise. Es war ein altes Weihnachtslied von Maria, die ein Kindlein geboren.

Da sagte Gertrud langsam: »Wir werden auch ein Kindlein haben.« Marlene schob das Spinnrad beiseite, erhob sich, legte feierlich die Hände auf das Haupt der jungen Bäuerin und murmelte einen alten Segensspruch. Dann machte sie drei Kreuze.

»Gott segne dich, Bäuerin,« sprach sie leise.

Gertrud aber fror. »Es ist ein trüber Tag heute,« begann sie, »und es kommen einem schwere Gedanken.«

Marlene ließ sich wieder am Spinnrade nieder. Sie trat und das Rad schnurrte. »Es kommt Weihnachten, Bäuerin, da wird es hell, und du mußt froh sein. Ich will dir ein Wiegenlied singen.«

Das Lied klang lieblich und froh, und auf einmal brach die Sonne in breiten Streifen durch die Schneewolken. Da lächelte Gertrud. »Wie man doch froh wird, wenn die Sonne da ist.«

»O,« lachte Marlene lustig, »es kommt bald eine Sonne, die lange, lange da sein wird, länger als du selbst.«

»Gott walte es,« entgegnete die Bäuerin, zog sich Annedores Spinnrad heran, begann zu treten und plauderte leise mit der Altmagd. –

Heidecker stieg auf den Boden. Bald würde ein Kind in der Wiege liegen. Es würde schreien. Der Bauer legte lauschend die Hand an das Ohr. Der Kinderschrei übertönte einen anderen. Was drohend mit gerecktem Arme neben ihm schritt, das rückte in weite, zerfließende Fernen, und heraus trat im Lichte ein Kind, ein Bube, ein Junge! Wie hell seine Augen waren, wie er lachte! So mit goldener Stimme, als ob flinke Wassertropfen niederfielen. Und das Grauen kroch zurück, wie wenn sich ein giftiger Wurm in der Erde verbirgt. Eine Weichheit ging über den Bauern, wie er sie nie gekannt. Er schritt weiter. Die Wiege! Wie lange stand sie schon da droben in der hintersten Bodenecke? Darin hatte er gelegen und sein Vater und Großvater und andere vor ihnen. Nun würde wieder ein Hoferbe darin liegen.

Zwischen allerlei altem Hausrat schritt Heidecker über die knarrenden Bodendielen. Da hinten in der Ecke mußte die Wiege stehen. Er räumte einen wurmstichigen Tisch zur Seite, etliche Stühle, alte Kleider, dann ganz zuhinterst im Dunkeln sah er ein buntbemaltes Brett. Es war geschweift und ging nach unten schmäler zu. Das war die Wiege. Er zog sie heran. Sie war schwer, und da hing etwas daran, das klirrte und schlurfte wie Eisen. Jetzt stand sie im Lichte. Am Fußbrette las Heidecker die Jahreszahl 1736. Sie war alt, die Binsenhofwiege. Bunte Rankrosen in stark gedunkelten Farben bildeten Gewinde an den Seiten herauf. Zwischen ihnen waren zwei pausbäckige Engel gemalt, die einen Schleier über ein Kind hielten. Die Malerei war kaum erkennbar, aber sie war wohl schön und sinnvoll. Man würde die Wiege nach Niederau schaffen müssen. Der Schreiner konnte sie herrichten und der Maler das Bildwerk auffrischen.

Der Bauer ging um das alte Erbstück herum. Da hing etwas, fest geschnürt an den Wiegenbogen. Das hatte vorhin geklirrt. Wunderliche, schuhähnliche Gebilde aus Eisen, mit Riemen daran. Heidecker sann und schaute darauf nieder. Das sah aus wie Schuhe. Eine Eisenplatte, zur Seite halbmondförmige, sichelähnliche kleine Bogen, wie Messer, an der Eisenplatte Riemen.

Wie ein Blitz fuhr es vor dem Bauern nieder. Das Blut raste ihm zu Kopfe, er sah rote Ringe vor sich tanzen. ›Das – das sind – die Schuhe eines – Binsenschnitters! An die Wiege gebunden! Die Schuhe des Binsenschnitters!‹ Der Bauer sank zusammen. Er barg das Gesicht in den Händen. Seinen Vater sah er vor sich. Das hagere gelbe Gesicht, die kleinen scharfen, unruhigen Augen. Den hatten sie draußen am Getreidefelde gefunden. Nichts an ihm, kein Hieb, kein Stich, nur das Gesicht blau angelaufen. Und die Leute hatten scheu zur Seite gestanden. Es hatte es keiner laut gesagt, aber es war durch die Luft geflogen wie eine huschende Fledermaus. Das Ende eines Binsenschnitters! Und der Hof hieß der Binsenhof! Der Name ist einst ein Schandmal gewesen. Geschlechter haben sterben müssen, Geschlechter, die wußten, warum der Hof auf der Höhe den Namen führte. Jetzt sprachen ihn die Leute gedankenlos aus, und auch der, der heute als Herr auf dem Gute schaltete, hatte nie versucht, ihn zu deuten. Nun verstand er ihn. Der Binsenhof! Ein Schandmal war der Name und wird es bleiben. Es will ein Kind kommen! Das wird das Erbe der Vater antreten. Da liegt es vor des Bauern Füßen. Die Schuhe des Binsenschnitters, angebunden an die Erbwiege!

Heißer Zorn fuhr in dem Bauern empor. Er bückte sich, die Riemen zu lösen. Da packte ihn das Entsetzen wieder. ›Wer hat die Schuhe getragen?‹ Sein Vater? Wer vor ihm? Ist es nicht grausam, sie an die Wiege zu binden?

Mit hastenden, zitternden Fingern knotete Heidecker die Riemen auseinander. Das Leder war alt und brüchig, die Schnallen, die Eisenplatten, die Sicheln waren verrostet, aber es ging davon aus wie ein blutiges Gleißen. Und der Bauer nestelte und zog. Da war die Schnalle gelöst, da lagen die Schuhe. Mit den Füßen schleuderte sie Heidecker in die Ecke. Liegt! Der jetzige Herr des Hofes wird euch nie anrühren! Aber das Grauen schlug auf ihn los. Er warf sich nieder und schluchzte. Hohl stieg es aus der Tiefe herauf. Schuldig! Draußen liegt einer! Konnte es anders sein, wenn solch ein Fluch auf dem Hofe lastete? Angstvolles Jammern ging über den weiten Boden.

Drüben schaufelte Jakob Sindig Getreide. Er hörte die wunderlichen Laute, stützte die Schaufel auf und lauschte. Dann ging er hinüber nach der andern Seite. Da lag der Bauer über – einer Wiege.

»Bauer,« fragte ihn Jakob Sindig, »warum heulst du? Was ist das? Eine Wiege? Was willst du damit?«

Heidecker richtete sich auf. Vornüber geneigt stand Sindig, aber dem Bauern schien, er stehe wie ein Pfahl.

Mit irren Augen schaute der Bauer auf ihn. Wie ein Lallen war seine Stimme. »Wir werden ein Kind haben.«

Ein Ruck ging durch den Riesen. Der Bauer achtete es nicht. »Die Bäuerin hat es mir vorhin gesagt, und das ist die Wiege des Bin –, des Hofes. Die wollte ich holen.«

»Ein Kind werdet ihr haben?« fragte Jakob heiser ins Leere. »Ein Kind? – Das hat dich gepackt, und du hast heulen müssen?«

»Ja. Ich freue mich, aber es ist stark, es schüttelt einen durcheinander. Du kannst das nicht verstehen. Da habe ich – –«

»O ja, das kann ich verstehen. – Ich will die Wiege hinabtragen.«

Der Bauer wehrte nicht ab. Es dünkte ihn gut, daß Jakob Sindig die Wiege unter den Arm nahm. In dessen Händen wurde sie entsühnt, die waren rein.

Und Jakob Sindig trug die Wiege des Binsenhofes hinab. Schwer lastete sie auf seinen Armen. Ein Kind wird geboren werden! Wie das an ihm riß! Fragen weckte es und wuchtete doch: ›Halte die Hände davon! Es geht um eines Weibes Heiligstes?‹

Er trat in die Stube. »Da ist die Wiege.« Die Bäuerin fuhr auf. Jakob Sindig brachte die Wiege! Jakob Sindig! Sie drückte die Lippen fest aufeinander. Ihr Herz ging in starken Stößen. – ›Es hat niemand ein Recht an das, was mein ist, mein allein!‹

Hinter Jakob war der Bauer eingetreten. Sindig hatte einen fragenden Blick auf Gertrud Heidecker geworfen, er zitterte, schrie um Antwort, aber ihre Augen gaben keine Antwort. Sie blickten hart in Abwehr. Wie ein Drohen lag es in ihnen, und Jakob Sindig fragte umsonst.

Nun wandte sich Gertrud ihrem Manne zu. Da erschrak sie. In des Bauern Augen lag Entsetzen. War er gekommen, zu richten, nachdem er mit Jakob Sindig gesprochen? Hatte der zu dem gestanden, was zurücklag, weil er meinte, nun müsse er das?

»Geht hinaus, Marlene und Jakob,« gebot die Bäuerin, »ich muß mit dem Bauern reden.« Und Jakob Sindig, der sich gegen jeden Zwang bäumte wie ein edles Roß gegen die Peitsche, neigte den Rücken und ging hinaus.

Draußen legte ihm Marlene die Hand auf den Arm. »Hast du der Bäuerin Augen gesehen? Wie damals, als sie sagte, die Drude habe sie gedrückt. Es ist nicht die Drude, es ist nicht die Drude! Und – im Hause pocht der Totenwurm!« Die Altmagd schlug die Schürze vor das Gesicht und rannte in ihre Kammer hinauf.

Jakob Sindig trat in die Haustür. Der Himmel war weit, und die Sonne lag sieghaft auf dem Schneelande. Er drückte die Lippen hart aufeinander. Den Bauern hatte es umgeworfen. Ihn rüttelte es, wie wenn der Sturm eine Eiche in den Arm nimmt. Es mußte doch nun irgend etwas kommen. Er wartete darauf.

Von der Stube her vernahm er die Stimmen der Sprechenden. Hart die der Bäuerin, wie ein Jammern die des Bauern.

Gertrud trat vor ihren Mann. Sie war bleich, aber kein Zittern war an ihr merkbar.

»Es ist dir etwas widerfahren; über deinem Gesicht liegt ein Schreck. Wir wollen miteinander reden. Ich warte auf das, was du sagen mußt.«

»Ich kann es nicht sagen,« winselte der Bauer. »Wie Schrecken, sagst du? Aber ich kann es nicht sagen. – Die Schande!«

»Schande?« Die Bäuerin sprach langsam »Schande? Hm. – – Rede. Dann will ich dir antworten.«

»Ach Gott! Ja, ich will davon reden, weil ich sonst auch damit allein bin. Ich sagte dir, daß draußen bleiben soll, was draußen ist. Nun ist es doch hereingekommen. Die Schande war schon lange auf dem Hofe, schon zu meines Vaters Zeiten, schon viel, viel länger, und – ich habe es nicht gewußt.«

Gertrud Heidecker horchte auf. Das war etwas anderes, als sie zu hören erwartet hatte. Es gab nichts zu verteidigen, kein Sich-wehren. Der Bauer hob keinen Stein auf. Ihre Gedanken gingen auf falschem Wege. Ein anderes war in des Mannes Leben gesprungen, ein anderes, als sie vermeint. Und das mußte schwer auf ihm liegen; denn er brach schier darunter zusammen. Sie brauchte nichts zu rechtfertigen mit Worten, die Gericht gewesen wären für den Mann und – kein Freispruch für sie.

Der Bauer saß am Tische und sah grau und verfallen aus. Dann und wann schüttelte ihn ein Frost. Sein Weib sah, wie es ihn drängte, sich zu offenbaren. Da kam sie ihm zu Hilfe. »Ich bin dein Weib,« ermunterte sie ihn, »gib mir die Hälfte von dem, was dich ängstigt.«

Sie setzte sich neben den Mann. Der Bauer legte den Kopf hilflos auf ihre Schulter. Er schluchzte auf wie ein Kind und erzählte stockend, daß er die Schuhe des Binsenschnitters gefunden habe, angebunden an die Wiege. So grausam sei das, so ausgesonnen grausam!

Gertrud Heideckers Augen wurden weit und starr. Die Schuhe des Binsenschnitters an des Binsenhofes Erbwiege? Einer, der früher den Hof regiert, war ein Binsenschnitter gewesen? Einer? Nur einer? So war der Binsenhof groß geworden? Und – das Herz stockte schier – der Fluch war an die Erbwiege gebunden?

Der Mann hatte sich von seines Weibes Schulter gelöst. Er lag halbleibs über dem Tische, fragte nicht, stierte auf die Wiege und dann hinauf zu den Deckenbalken.

Da stieg es warm in der Frau empor. Sie strich mit der Hand über die Augen, die Starrheit löste sich, und eine entschlossene Zuversicht wuchs in ihr.

Ihre Stimme war hell. »Was soll es uns schaden? Du bist nicht, was vielleicht einer vor dir war, hast nichts gewußt von dem Fluche des Hofes. Ist er lebendig gewesen? Ist der Hof nicht gewachsen unter deinen Händen? Sagst du nicht selbst, daß es aufwärts gehe? Du hast viel vor in der kommenden Zeit. So geht es hinauf, nicht hinab und geht auf geradem Wege ohne Schuld. Du wirst die Schuhe nicht berühren. Ja, ich kenne einen, der überhaupt nicht an den Binsenschnitter glaubt, Jakob Sindig. Er sagt, sie wüßten drunten in der Ebene nichts von ihm. Vielleicht, daß es nur ein Märlein ist.«

»Gertrud,« sagte der Mann düster, »du bist in den Bergen geboren und kennst unsern Glauben und glaubst selbst, was wir glauben. Jakob Sindig ist fremd hier. Wie kann er unser Inwendiges kennen? Er fürchtet sich nicht vor Menschen und nicht vor anderem. Ich kann nicht sein wie er. Und, ohne Schuld, sagst du, ginge es aufwärts? Es nutzt nichts, sich zu wehren. Wem es bestimmt ist, der wird hineingeworfen in die Not, so oder so.« So war er fortgeglitten von des Hofes Schuld in die eigene.

Der ungestüme Jammer weckte Gertruds Kraft. »Es ist keinem bestimmt, in selbstgemachte Not zu geraten, und wenn es geschieht, weil man einmal schwach war, so muß man inwendig damit fertig werden. – Rühre nicht an den Fluch des Hofes. Er ist gestorben, er soll tot bleiben.«

Nun hätte der Bauer gerne auch das letzte vor seinem Weibe ausgebreitet, das, was still gewesen war, als das Kind im Lichte vor seiner Seele stand, und stärker wiedergekehrt war, als ihm des Hofes Schande offenbar wurde. Vor ihren entsetzten Augen hätte er es vielleicht gekonnt. Da war sie mit ihm im gleichen Gleise geschritten. Jetzt hatte sie sich herausgeschnellt auf ebene Bahn; sie spannte die Flügel. Da vermochte er ihr nicht zu folgen, kroch auf holperigem Wege weiter, schleppte weiter und schwieg.

»Und die Wiege?« fragte er dumpf.

Gertrud Heideckers Zuversicht war so stark, daß sich das junge Weib aufrecken mußte. »An dem Holze haftet kein Fluch. Das Kind soll darin liegen wie du und andere vor dir.«

Der Bauer erhob sich. »Die Wiege soll nach Niederau. Der Schreiner soll sie aufbessern.«

Er ging aus der Tür, rief Jakob Sindig, und sie stiegen auf den Getreideboden, aber sie sprachen nur selten ein Wort. Trug jeder schwer an eigenen Gedanken. –

Am Nachmittage bestieg Jakob einen der schweren Ackergäule und ritt nach dem Hofe des Vorstehers von Bergroda. Es war ein weiter Weg. Erst an der Lokwa entlang, die in ihrem Bette schäumte und über die hochragenden Felsköpfe hinweg starke Wellen schlug, dann nach rechts hinüber, aus dem Bärengraben in das Tal des Horlabaches, der sich mit der Lokwa vereinigte. Das Tal war weiter als die anderen. Wo es gegen die Eibenwand anstieg, da stand des Vorstehers Hof.

Der Vorsteher übersah von seinem Hause aus die weiten Äcker gegen den Ausgang des Tales und an den hereinlangenden Waldlehnen die Hanghäuser, deren Besitzer ihm verpflichtet waren und zur Arbeit auf den Hof kommen mußten.

Wer vom Binsenhofe zu Fuß nach dem des Vorstehers wollte, konnte auch über den Bergrücken gehen und mußte dann seinen Weg über Hänge und durch Wälder nehmen.

Der Vorsteher hielt die Schmiede. Jakob wollte das Pferd beschlagen lassen, stieg vor der Schmiede ab und führte das Tier in den Notstand.

Da trat der Schmied heraus. Die zwei Männer sahen sich zum ersten Male. Meister Fröhlich war ein älterer Mann mit einem weißen Barte, einem kahlen Schädel und stark behaarten Armen. Das lederne Schurzfell rasselte bei jedem Schritte, wie wenn einer auf ein Brett klopft.

Er fand Gefallen an dem starken Sindig, und während er die Arbeit tat, unterhielten sie sich. Von den Soldaten sprachen sie, und es gab da viel, worüber sie beide gerne redeten. »Du solltest Schmied werden,« sagte Meister Fröhlich, »und würdest einer von denen sein, die schwere Hämmer brauchen.«

»Meister,« widersprach Jakob, »die Kraft allein macht es nicht, und zu seinem Werke hätte ich nicht das Geschick und die Geduld.«

»Auf dem Binsenhofe bist du?« fragte der Schmied, obschon es ihm Jakob bereits gesagt. Als Sindig abermals bejahte, redete der Schmied weiter. »Die Bäuerin ist des Morheimers Tochter. Das ist einer von denen, mit denen ich gerne einmal zusammensitze und ein vernünftiges Wort rede, aber das hätte er doch nicht tun sollen, daß er sein Kind dem Heidecker gab. Es ist ein ungleich Gespann. Der Bauer ist einer der härtesten unter den Hofherren und ist nicht klug genug, mit Geschick zu tun, was er tut. So ist sein Griff schmerzhafter als der der anderen. Die lockern ihn dann und wann einmal und gehen langsamer zu Werke. Er versteht das nicht.«

»Meister,« sagte Jakob, »es ist ein sonderbares Land und sind da merkwürdige Leute. Sie fürchten sich vor dem, das nicht da ist, und verstehen, wie es mir scheint, nicht, mit dem fertig zu werden, das ist. Aust, der Flößer, sprach drohende Worte, als ich ihn bei dem Wirte traf.«

Meister Fröhlich stützte den Zuschlaghammer auf. »Den Aust hast du kennengelernt? Der ist kein übler Mann.«

»Er scheint hitzig zu sein.«

Der Schmied lachte. »Tut wild, aber er reißt es nicht durch. Redet vom Dreinschlagen und vom Teilen und betreut seinen Hangacker wie nur einer. Ein wenig ist er den anderen voraus. Er ist keinem verpflichtet. Die Flößerei hat ihn frei gemacht.«

»Sie sollten alle tun wie er.«

»Dann wären es ihrer zu viele. Sein Gewerbe braucht starke Leute, und sie sind das nicht alle. – Muß dir wunderlich verkommen bei uns in den Bergen, ich glaube das.«

»Ja. Man muß Mitleid mit den Leuten haben.«

Der Schmied sah ihn prüfend an. »Mitleid ist gefährlich. Du kannst ihnen nicht helfen. Das kann keiner, und wenn einer die Hand dazu anlegt, so schlägt ihn ein anderer auf die Finger, der klüger ist als alle und stärker.«

»Wer ist das?«

Fröhlich neigte sich ihm zu. »Der Vorsteher,« sagte er leise. »Eines will ich dir noch sagen. Hast du den Schneider kennengelernt?«

»Ja.«

»Vor dem nimm dich in acht.«

Da lachte Jakob Sindig laut auf. »Meister, du machst einen Spaß! Vor dem Schneider? Wenn ich die Hand ausstrecke, so kann er drauf tanzen.«

Der Meister nickte. »Das könnte er, aber ich sage dir, es tanzen viele nach seiner Pfeife, die das nicht meinen.«

»Meister Schmied, mir scheint, es ist hierzulande alles behext. Ihr fürchtet euch alle ein wenig.«

»Ich fürchte mich nicht. Zu fürchten ist überhaupt nur einer. Der weiß, was er will, ist klug, hat auch so weit ein Herz, aber er ist wie Eisen. Nur das kriegt auch der nicht fertig, daß er einen Ring schweißt um das, was sie Bergroda nennen. Wenn er meint, er habe den letzten Hammerschlag getan, so ist der Ring an einer anderen Stelle wieder geborsten. Das kommt daher, daß auch er auf falschem Wege geht. Sie können sich nicht losreißen von den verfluchten Schindäckern. Nicht die Großen und nicht die Kleinen. Die Leute haben ihn zum Wächter gemacht, zum Ersten in Bergroda. Nun steht er vor den Tälern wie ein Klotz und läßt nichts von draußen herein. Dreimal hat ihm der Sägemüller von Niederau angelegen, ein Sägewerk bauen zu dürfen an der Lokwa oder sonstwo. Gibt ihm keiner einen Fußbreit, weil er davorsteht. So jagen die Wasser wie immer und tun keine Arbeit. Dafür die Leute um so mehr. Vielleicht, daß einmal ein Tag kommt, an dem sich einer die Wasser dienstbar macht. Dann kann es wohl sein, daß sie zuvor rot gegangen sind vom Blut. Aber Aust wird es nicht sein, der den Tag macht. Der nicht. – Hast du die Hanghäuser an den Bergen gesehen? Ich sage dir, da kommen viele Menschen zusammen, viel zu viele. Ist gut die Hälfte übrig, damit die Bauern zu Verstande kommen und die andere Hälfte leben lassen, wie es sich gehört. – He, wahrhaftig, du mußt dem, der wie ein Klotz vor den Tälern steht, zwischen den Fingern durchgeschlüpft sein oder er hat geschlafen. Dann und wann muß er das auch einmal.«

»Meister,« sagte Jakob Sindig, »manches von dem, was du sprichst, verstehe ich nicht.«

»Du sollst das auch nicht. Ich will dich nicht lehren.«

Die Arbeit war getan. Es dunkelte, und Jakob Sindig machte sich auf den Heimweg, aber er hätte gern gewußt, wann er wieder einmal mit Meister Peter zusammentreffen könne, und fragte ihn darum.

»Am Dreikönigstage ist der Tanz bei dem Wirte,« sagte der Schmied, »da komme ich.«

Als Jakob vom Hofe ritt, begegnete er im Tore einem kurzen, gedrungenen Manne, der in Gang und Haltung etwas Besonderes hatte. Er trug eine Joppe, und eine dunkle Fellmütze war weit in den Hinterkopf gerückt. Die starke, ein wenig hakenförmige Nase war schmalrückig, und die braunen Augen blickten scharf und forschend. Der rasche, feste Schritt und die aufrechte Haltung redeten von Kraft und Selbstbewußtsein. Er hatte einen derben Stock in der Hand, stützte ihn vor sich in den Schnee, legte die Linke über die Rechte und lehnte sich leicht vornüber. Die Hände waren sehnig, griffen fest zu und lagen in sicherer Ruhe übereinander. Das breite, gefurchte Gesicht war unbewegt, nur die Augen lebten. Der daherkam, war der Vorsteher von Bergroda.

Er blieb stehen und fragte: »Du bist der Neue vom Binsenhofe?«

»Ja,« antwortete Jakob. »Woher kennst du mich?«

Der Mann lachte. »Du scheinst nicht zu wissen, daß man von dir spricht.«

»Das nimmt mich wunder. Ich habe doch nichts getan, worüber man reden könnte.«

»Ich habe allerlei von dir gehört. Du führst Neues auf dem Hofe ein.«

»Was wäre das? Ich weiß es nicht.«

»Du besserst die Wege und willst im Walde anders wirtschaften, als es bisher geschah. Das gefällt mir.«

»Warum hat man dem Bauern nicht längst gesagt, was er hätte tun sollen?«

»Es ist bei uns nicht Brauch, daß sich einer um den andern kümmert.«

»Vorsteher, das gilt wohl nur für die Bauern unter sich. Ich habe dies und das gehört, das nicht dafür spricht, daß ihr euch nicht um andere kümmertet.«

Der Vorsteher stutzte. »Du meinst die Häusler?«

»Ja.«

»Hm. Da sei vorsichtig. Auf dem Binsenhofe tu, was du magst und soweit es der Bauer zuläßt. In der Häusler Sache mische dich nicht. Da müßte ich dir in den Weg treten, und das könnte nicht gut für dich sein.«

Jakob Sindig lachte. »Sehe ich aus, als ob ich mich fürchtete?«

»Es haben auch andere keine Furcht. – Was schert dich, wie die Leute in Bergroda leben?« Der Vorsteher sprach barsch.

»Warum wirst du grob, Vorsteher? Du kennst mich ja noch nicht einmal.«

»War ich grob, so hast du Schuld. Es liegt etwas in deinen Worten. Wir sehen uns heute das erstemal, und schon greifst du in das, was kaum ein Einheimischer sich anzurühren getraut. Du kannst friedlich deines Weges gehen, unangefochten und gern gesehen, und du kannst dir Feinde machen. Wie du willst. Gute Nacht.« Er ging in den Hof, und Jakob Sindig ritt das Tal hinab.

Die Nacht sank rasch, und es begann wieder zu schneien. Das neu beschlagene Pferd ging langsam den Weg, den es kannte und den es fand, ohne daß einer am Zügel zog. Jakob Sindig saß zusammengehockt auf dem Rücken des Tieres. Er schneite förmlich ein. Und wie Schneeflocken stürzten die Gedanken über ihn. Bäuerin und Wiege, Schmied und Vorsteher. So viel Leben! Er sah grübelnd tief in sich hinein. Was für ein schönes Reiten durch den Wald hätte es sein können. Der Weihnachtszauber wob um Bäume und Hecken, aber er war tot vor lauter heißem, drängendem Leben. –

Während Jakob durch die Finsternis ritt, schlich einer zitternd um den Binsenhof.

Jeremias hatte einen jämmerlichen Tag hinter sich. Er war nahe daran, körperlich zusammenzubrechen. Wenn er durch das Haus ging, so erschrak er vor dem Schall, den seine Füße auf den Steinfliesen weckten. Der Wind blies lang hallend über das Moor. Wie in Trauer standen die Birken auf dem tückischen Grunde; die dürren Binsen raschelten, und es ging ein Stöhnen über die schwarzen Wasser, die noch immer nicht zufroren. Jeremias getraute sich nicht, wieder an das Moor hinauszugehn. Er fürchtete, daß da ein Leib hochgekommen sei, und ein bleiches Gesicht heraufschaue. Lisa Buschreuter klapperte lauter als sonst mit Eimern und Blechgeräten. Am Mittagstische, der dürftiger als je bestellt gewesen war, hatte sie erst eine Weile vor sich hingestarrt, dann jäh zum Messer gegriffen und mit raffigen Zähnen gegessen, und mitten im Essen war sie aufgestanden. Da hatte sich auch der Bucklige erhoben, und Lisa hatte es nicht wahrgenommen, daß er nichts genossen.

Jeremias wartete, wartete mit brennender Seele, wußte, daß Lisa ihn belogen, und klammerte sich doch an die Lüge. Kaspar war nach dem Hofe gegangen, wie er das zuweilen tat. Wann kam er wieder? Jeremias wartete, schaute vom Bodenfenster auf den Weg hinaus, hielt die Hand über die Augen und schielte darunter hervor, um das Moor nicht sehen zu müssen. Der Tag starb, und Kaspar kam nicht. Lisa kümmerte sich nicht um den Buckligen, und als es finster war, da rannte der in hilfloser Angst durch den Wald nach dem Binsenhofe.

Er brachte es nicht über sich, in das Haus zu treten, umschlich es wie ein Fuchs und lauerte darauf, daß er Jakob Sindig sähe. Nach dem schrie seine Seele, aber er sah sie alle über den Hof gehn, Lorenz, Wilhelm, auch Annedore, mit der zu reden er sonst keine Gelegenheit vorübergehen ließ, Jakob Sindig sah er nicht.

Da machte er sich an Wilhelm heran. Der erschrak, als der Bucklige jäh vor ihn trat, aber Jeremias wisperte: »Sei still, ich bin es, der Jeremias. Ist Jakob da?«

»Nein,« sagte der Knecht. »Der ist nach der Schmiede.«

»Kommt er bald zurück?«

»Ich weiß es nicht. Es ist weit und ein schlechter Weg. Hättest du ihm etwas zu bestellen?«

»Nein,« log Jeremias, und seine Zähne klapperten. Wilhelm ging seiner Arbeit nach, und Jeremias schlich gebrochen davon.

Während er den Weg nach dem Moorgute hinaufstolperte, ritt Jakob Sindig die Höhe heran, aber der Schnee verschlang das Schlagen der Rosseshufe.

Als Lisa Buschreuter inneward, daß Jeremias fort war, graute es ihr in der Einsamkeit. Hatte sie auch nicht mit dem Buckligen gesprochen, so war er doch hin und wieder gegangen, und es war Leben um sie gewesen. Nun gingen ihre Gedanken auf langer Fahrt rückwärts und vorwärts. War ein schwerer Weg und führte über viel Scherben, und zuletzt war es ihrer ein ganzer Haufen. Der Wind bellte, und es klang daraus wie eine harte, trockene Stimme, die etliche Jahre neben ihr gegangen war, dann und wann aufgefahren war und nun irgendwoher aus dem Wesenlosen aufbäumte.

Sie wurde zornig auf Jeremias, der sie verlassen. Als er in das Haus schlich, wurde sie es gewahr und fuhr auf ihn los, ihn zu schlagen.

Der Krüppel aber sprang zur Seite, stand mit sengenden Augen vor ihr und schrie: »Rühr' mich nicht an, ich rate dir! Ich bin auch ein Mensch! Jakob Sindig sagt es!«

Da ließ Lisa die Hand sinken. ›Jakob Sindig sagt es.‹ Und Jakob Sindig reckte sich hinter dem Buckligen auf.


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