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7.

Das Weihnachtsfest war vorüber. Es war keine rechte Freude auf dem Binsenhofe gewesen. Zwar auch keine Trauer – ein Baum hatte gebrannt – aber es war düster geblieben. Der Bauer ging wie im Zorne durch das Haus. Er schalt, und seine Worte waren noch härter als sonst. Die Knechte begannen zu murren. Von den Mägden lief des öfteren eine mit verweinten Augen umher, und Gertrud hatte viel gutzumachen hinter ihrem Manne her. Jäh, wie sein Zorn aufsprang, brach er wieder zusammen. Dann war der Bauer von widerlicher, kriecherischer Freundlichkeit.

Er hatte eine harte Auseinandersetzung mit dem Vorsteher gehabt. Es war um Jakob Sindig gegangen, von dem man allenthalben redete und den der Vorsteher kennengelernt. Als sie sich zum ersten Male getroffen, da habe der Neue gleich nach dem gelangt, was wie ein Fels über ihnen hinge. Der Fels habe einen Riß erhalten durch die Flößer und die Köhler. Das sei nicht gefährlich; stemme sich aber einer dahinter von der Art des Langen, dem die Gemüter zuflögen wie die Motten dem Lichte, dann könne der Block ins Stürzen kommen, und niemand könne sagen, ob die Bauern stark genug sein würden, ihn aufzuhalten. Es wäre gut, wenn er den Sindig fortschicke.

Heidecker hatte sich gewehrt. Er war trotzig geworden. Jakob Sindig gehe still und ernst seiner Arbeit nach, sei ein kindguter Mensch und ein Arbeiter wie kein zweiter in den Bergen. Wäre der Mann bei dem Vorsteher, dann würde der nicht so reden, wie er jetzt täte. Dazu hatte der Vorsteher gelächelt. »Nein, das würde ich nicht tun. Es wäre aber dann auch etwas anderes und nicht nötig. – Ich habe erwartet, was du sagst. Tu, was du magst und mußt, aber – stelle dich nicht außerhalb der anderen. Es geht nicht um Kinderspiel, sondern um die Höfe und um Leben und Sterben. Du kennst mich.« Bei den Worten hatte der scharfblickende Mann stark wie ein Baum vor dem Binsenhöfer gestanden, seine Stimme war wie Stahl gewesen, und auf der breiten, eisenharten Stirne hatte ein trotziger, bewußter Wille gelegen.

Da hatte Heidecker nicht den Mut zu einem Widerworte gefunden. »Ich will es mir überlegen mit dem Jakob Sindig,« hatte er entgegnet. – –

Zur festgesetzten Zeit und fast zur Minute trat Jakob vor die Bäuerin. »Ich will an das Moor.«

Gertrud sah ihn prüfend an. »Um meinetwillen?«

»Nein.«

»Um der Leute willen, die man dort hinaufsetzen könnte?«

»Um des Moores willen,« warf ihr Jakob vor die Füße.

Gertrud Heidecker aber strich ihm rasch über die Hand.

»Du – Tier! – Komm, wir wollen es dem Bauern sagen.«

Der fuhr auf, als sein Weib von der Abmachung mit Jakob sprach. Nicht eben viel sagte sie, nur, daß er hinauf an das Moor wolle. Das ginge nicht, widersprach der Bauer, er brauche Jakob zur Arbeit auf dem Hofe, und es sei gegen das, was sie vereinbart hätten. Sindig lachte. Da sei nichts vereinbart; er gehe, wann und wohin er wolle, aber bei dringender Arbeit auf dem Hofe helfen, das wolle er wohl auch vom Moore aus.

Das war dem Bauern schließlich ein willkommener Ausweg. Es fiel ihm ein, daß er auf die Weise täte, was der Vorsteher für notwendig gehalten, daß er Jakob los sei und ihn doch behielte. Er knurrte noch ein wenig, aber es war mehr um den Schein zu wahren, gab sich drein und ging murrend hinaus.

Als es nun zwischen dem Bauern und Jakob erledigt war, begann die Bäuerin von Lohn und Kosten zu reden. Es geschah stockend. Sie wußte, daß sie Jakob Sindig damit leicht verletzen würde. So stand sie vor ihm schier als Bittende. »Geld habe ich nicht, Jakob. Bestimme dir selber den Lohn. Du mußt ihn aus dem Ertrage des Gütleins nehmen, aber wenn du darangehst, das Moor trockenzulegen, so ist die Hälfte des Bodens, den du gewinnst, dein.«

Da wurden Jakob Sindigs Augen dunkel. Gertrud Heidecker legte ihm die Hände auf die zornig geballte Faust. »Jakob, mache es mir nicht so schwer.« Es lag ein Schwanken in ihrer Stimme, als stiegen langsam Tränen auf. »Willst du mir die Freude nicht lassen? Ist es denn ein Geben? Ist es nicht ein redliches Verdienen? Ich bitte dich, laß es gelten. Heute ohne Vertrag, nur auf Treu und Glauben, später nach Gesetz und Recht.« Sie löste Jakob Sindigs verkrampfte Finger und legte ihre Hand darein. »Es gilt.« Dann lachte sie fröhlich auf. »Wir verschachern, was wir noch nicht haben.«

Der Mann aber sah auf sie, schüttelte den Kopf und maß sie mit sinnenden Augen, aber sein Blick hatte nichts Unreines und Verletzendes, er war nur traurig und verwundert.

»Weib, Weib,« sagte er, »und das machst du aus Jakob Sindig, der ein – Tier war.«

»Nein, ein Mensch, ein armer,« rief die Bäuerin lebhaft, »und jetzt soll er reich werden.« –

Zunächst ging Jakob Sindig noch nicht nach dem Moore. Erst nach dem Dreikönigstage wollte er einziehen, nach dem Dreikönigstage und Tanze. So hatte es Gertrud Heidecker vorgeschlagen. –

Der Tag war das Ereignis des Jahres für Bergroda. Da war der Gemeindetanz, und die Festgeber waren die Bauern. Das einzige Fest des Jahres war er und entzündete in Winterkälte Johannisglut. Joseph, der Händler, war mit seinem Kasten dagewesen. In den Truhen der Mädchen lagen bunte Bänder und Tücher. Die Burschen hatten sich protzige Uhrketten gekauft, und Meister Valentin Heubacher saß in Stoffbergen bis über die Ohren.

Das war Hermine Heubachers gute Zeit. Sie war ein klein, verhutzelt Weiblein mit rot unterlaufenen Augen, ein gut Teil älter als ihr Mann, aber weit über ihre Jahre hinaus verkrümmt und zusammengeschrumpft.

Valentin Heubacher war ein frommer Mann, o ja. Wenn er in der Schneiderhölle saß, dann sang er geistliche Lieder. Und sein Weib mußte ihn gut halten. Wie käme die Frau dazu, etwas für sich zu begehren? Arbeitete sie? In der Wirtschaft und auf dem Äckerlein? Das ist doch keine Arbeit. Wozu wäre ein Weib sonst da, wenn sie das nicht einmal tun wollte? Wenn einer sie im Hochsommer oder im Frühjahre fragte, warum sie sich denn so ganz allein plage, da sagte sie leise wie ein schüchternes, verliebtes Mädchen: »Der Meister hat so arg viel zu tun daheim. Er kommt schier nimmer durch.« Dann und wann aber kam auch der Meister nach draußen. O ja, er mußte doch mitreden können bei dem Wirte, wenn sie davon sprachen, daß das Futter heuer dünn sei und es am Bodengrase fehle, und dann hatte er ein Recht, sich in den Stuhl zu werfen und zu sagen: »Heute bin ich rechtschaffen müde. Ist ein Hundeleben das. Einen Schnaps habe ich heute verdient und ein Bier.«

Und sein Weib diente ihm demütig wie eine Magd. Was hatte sie auch für einen Mann! Der war Zuschneider gewesen bei Beier und Kompanie, der saß im Bergrodaer Gemeinderate, den fragten die Leute um Rat, wenn sie nicht wußten, ob ihnen Blau besser stünde oder Grün. Der hatte die Welt gesehen, wußte, daß es drunten in der Ebene Türme gäbe, so hoch, daß man fünfzig Hanghäuslein aufeinanderstellen müsse, um nach der Wetterfahne auf der Turmspitze langen zu können, daß sie Schiffe bauten aus Eisen, ganz aus Eisen. Ja, aber, kann denn Eisen schwimmen? Na, wenn es der Schneidermeister Valentin Heubacher sagt, dann ist es wahr, heilig und wahrhaftig. Ein großer Mann ist er, alles, was wahr ist, wenn er auch noch nicht einmal mit aufgereckter Hand an die Deckenbalken seiner niedrigen Stube reicht. Zwischen den Bergen kannte er sich aus, wußte alle Sagen, hatte einmal einen Binsenschnitter gesehen und ihn – gegrüßt, und der Mann war selbiges Jahr gestorben. Und in der heiligen Zeit ging er an den Kreuzweg, stand und lauschte und sagte hernach zu einem und dem anderen: »Du, man kann nicht wissen, was das Jahr wird. Stirbt mancher, ehe er's denkt.« Und wenn der also Ausgezeichnete nicht starb und den Schneider daraufhin anredete, so sagte der: »Habe ich dich gemeint? Ist die Rosa Kleinert nicht gestorben und der August Heinbauer? Kann man das denn sagen?«

So war der Schneider ein angesehener Mann, und sein Weib diente ihm. Wenn er nur nicht so oft das Halleluja gesungen hätte und das Kyrie. Das ertrug die Heubacherin wirklich auf die Dauer nicht.

Wenn der Meister einen Ärger hatte, so langte er die scharfkantige Elle vom Tische und schlug auf sein Weib los. Dazu sang er: ›Halleluja‹, und dann, wenn sie wimmerte: ›Kyrie.‹ Und das arme Weib zitterte, betete am Morgen, dass der Tag vorübergehe ohne Halleluja und Kyrie, und dankte am Abend, wenn sie den Rücken ohne Blutstriemen auf das Lager strecken konnte. –

Weil Jakob Sindigs Joppe unscheinbar wurde, wollte er sich bei dem Bergrodaer Kleiderkünstler eine neue bestellen. Gewöhnliches, grobes Zeug, nichts Besonderes und auch nicht etwa auf den Dreikönigstanz. Er wußte noch nicht, ob er hingehen würde, und tat er es, dann geschah es nur, um die Bergrodaer endlich einmal gründlich kennenzulernen. Ihm schien, da zeigten sie sich erst, wie sie wirklich waren.

So schritt er denn gleich nach den stillen Festtagen den Hügel hinab, ging an der Lokwa entlang bis zur Einmündung des Saugrabens und wandte sich dann links hinüber. Das dritte Hanghäusel zur Rechten sei das des Schneiders, und es stehe ein wenig näher der Talsohle als die anderen, hatten sie ihm auf dem Hofe gesagt. Es war eine bitterkalte Nacht, die Sterne glitzerten, und die Lokwa gurgelte nur eben noch zornig wie im Erliegen unter den zwingenden Griffen des Frostes.

Schon von weitem hörte Sindig ein krächzendes, widerwärtiges Halleluja. Es kam aus Meister Heubachers Schneiderhäuslein.

Hermine Heubacher hatte mitten in der Arbeit, über der es doch sonst schon wie Festglanz lag, einen Hallelujatag.

Was konnte sie dafür, daß der Meister gestern, als er von dem Buchenhofe kam, seine Schere verloren hatte? Aber wenn Valentin Heubacher die Schere verloren hat, so hat sie sein Weib zu suchen und – zu finden. Von Mittag an war die Frau mit den von chronischer Entzündung triefenden Augen unterwegs gewesen. Nach dem Buchenhofe, von dem Buchenhofe. Immer hin und wider. Als es dunkelte, kehrte sie heim und beugte demütig den Rücken. Ihr Gang war vergeblich gewesen, nur ihre Augenentzündung war in dem grellen Schneelichte schlimmer geworden. Meister Valentin hatte geduldig gewartet. Er war kein Unmensch und hatte seinem Weibe reichlich Zeit gelassen, das Verlorene wiederzuschaffen. Nun sie aber vor ihn trat, ohne es gefunden zu haben, war er doch im Rechte, wenn er nach der Elle griff. –

Jakob Sindig schritt rascher. Zwischen dem auf Augenblicke aussetzenden Halleluja hörte er ein Wimmern und ein Klatschen. Mit etlichen Sätzen war er an des Schneiders niedrigem Fenster, schaute hinein und sah, wie das Weib in der Stube kauerte und die Hände gegen die Dielen stemmte. Der Schneider schwang die Elle und sang Halleluja.

Da riß Jakob die Stubentür auf, rannte gegen einen Deckenbalken und gab dem Schneider einen Stoß, daß der wie ein Sack unter die Schneiderhölle rollte.

Als er sich erheben wollte, schrie Sindig: »Hund, du bleibst!«

Er hob das Weib empor, und als er das schwankende Häuflein Elend in den Armen hielt, da lag ein tiefes Mitleid in seinen Augen. Hermine Heubacher war rascher wieder auf den Füßen, als er erwartete. Sie hockte hinter dem Tische nieder und schlug die Hände vor das Gesicht in Scham und Schreck.

Der Schneider aber schrie unter der Hölle hervor: »Hier bin ich der Herr, das sage ich, du!«

Da langte der Riese nach dem keifenden Männlein und zog es hervor. Der Schneider wehrte sich und zappelte. Jakob Sindig aber hielt ihn frei in der Luft, schüttelte ihn und sagte halb im Zorne, halb unter Lachen: »Du Lump!« Und immer schüttelte er ihn, daß dem Schneider die Glieder schlotterten. Durch den Griff verengte sich des Schneiders Rockkragen und fing ihm die Luft ab, so daß sein Gesicht blau anlief, und er zu jappen begann.

Da sprang das Weib auf den Riesen ein, kniff ihn und wollte ihm ihre wackligen Zähne durch das Joppentuch in den Arm schlagen. Jakob Sindig gab der Frau einen gelinden Stoß, so daß sie auf der Diele saß. Den Schneider stellte er auf seine zwei Beine und ließ ihn los.

Das Weib aber geiferte auf ihn ein: »Was geht's dich an, was wir miteinander haben?«

»Ja,« krähte der Schneider, »du, du Hergelaufener,« und als Jakob die Faust hob, »zu dienen, ja, du – – du – – vom Binsenhofe.«

»Das tut dir wohl, wenn er dich schlägt?« fragte Jakob hinab zu dem Weibe, das sich nicht entschließen konnte, von der Diele aufzustehen.

»Wohl oder nicht, niemand geht es etwas an, niemand, und ehe ich meinen Mann zum Krüppel machen lasse, eher – – Wenn wir zwanzig Jahre zusammengelebt haben in Frieden und Eintracht – –«

»Und Halleluja – –« warf Jakob grimmig ein.

»Eheleutssachen gehen niemand nichts an,« rief der Schneider.

Jakob Sindig stand breitbeinig in der Stube. »Zwei, wie ihr seid, sind selten,« rief er und wußte nicht, sollte er lachen oder zornig sein.

»Ja, zwanzig Jahre in Frieden und Eintracht,« zeterte Hermine und erhob sich. Nun hüpften die zwei wie Ameisen um Jakob Sindig herum, geiferten ihn an und waren einträchtig wie Liebesleute.

Und Sindig stand und lachte. »So zwei, so zwei!«

»Was willst du überhaupt hier?« keifte das Weib.

»Eine Joppe habe ich mir machen lassen wollen.«

Da wurde Heubacher Geschäftsmann. Das andere war ja schließlich nur ein Scherz. Man war in den Waldtälern auch derbe Scherze gewöhnt.

Er rannte nach dem Maße. »Zu dienen, grau oder grün? Stoffe habe ich, oh, Stoffe – –«

Jakob Sindig ergriff den Meister am Arme. »Schneider, ob auch das Weib schon nach den Prügeln verlangt und sie darum verdient in ihrer hündischen Art, so ist sie doch ein Mensch und was für ein Häuflein Jammer, und wenn du die Hand noch einmal aufhebst gegen sie, dann,« er legte ihm die Faust auf den Kopf, »schau, ein einziger Druck, und du bist breit wie ein schlecht geratenes Backwerk. Schneider, noch einmal! Das Weib ist zu dumm, für die müssen andere denken. Und jetzt lasse ich mir die Joppe nicht von dir machen. Setz die Mütze auf. Jetzt führst du mich zum Niederauer Schneider.«

»Zum Niederauer?« schrie Hermine. »Es gefriert Stein und Bein draußen! Auf den Tod erkältest du mir den Mann!«

Jakob Sindig achtete nicht darauf. Seine Stimme klang drohend. »Mach rasch, Schneider, es ist ein weiter Weg.«

Der Schneider sauste hin und wider wie eine Brummfliege, zeterte und barmte, aber Jakob gebot noch einmal: »Mach rasch!«

Da fühlten die zwei, seit zwanzig Jahren in Frieden und Eintracht lebenden Leute, daß es ernst wurde. Hermine warf ihrem schlotternden Manne eine Joppe über, schlang ihm den dicken Schal um den Hals, setzte ihm die Mütze auf und wuselte um ihn herum in heißem Eifer. Noch einmal gegen Sindig zu schimpfen, wagte sie nicht. Nun stand der Schneider, eingeschnürt wie ein Wickelkind, vor dem leichtgekleideten Riesen. Der lachte verächtlich, dann gingen sie, und Hermine Heubacher stand unter der Tür, rang die Hände und weinte bittere Tränen.

Eine Weile schwieg der Schneider. Als sie aber an das Bleiloch kamen, wollte er Gespenstergeschichten erzählen. Jakob Sindig jedoch zürnte: »Halt das Maul, du Tier! Schlägt so ein Weib!« –

Hermine Heubacher stand Todesangst aus. Endlich, nach Mitternacht, kam ihr Mann heim, still, betrübt, und ließ sich auch von seinem Weibe nicht trösten. Er schlüpfte in sein Bett. Das war warm. Hermine Heubacher hatte drin gelegen und es gewärmt. Sie selber huschte in das kalte andere, klapperte mit den Zähnen und wimmerte: »Valentin, so vergib mir doch, es ist nicht meine Schuld, du hast gesehen, wie ich auf ihn gesprungen bin, auf den Langen. So vergib mir doch!«

Valentin Heubacher aber antwortete nicht. –

Drei Tage danach ging Jakob in der Abenddämmerung wieder nach Niederau, um die bestellte Joppe anzuprobieren. Da sah ihn Valentin Heubacher. Er wartete an die zwei Stunden. Dann warf er die warme Joppe über und lief die Straße hinab, die Sindig vorhin gegangen war. Eine kleine Stunde vom Schneiderhäuslein war das Bleiloch. Es war ein alter Stollen, in dem man einst nach Erz gegraben hatte. Er war lange, lange verlassen, und niemand wagte sich hinein; denn es ging die Sage, daß, wer da hineinschritte, in bodenlose Tiefe versänke. Dazu war die Seele des Röder dahin verbannt. Kein Bergrodaer ging ohne Bangen und Herzklopfen an dem Stollen vorüber, und den Weg in der Nachtzeit zu machen, das war eine Sache, die auch herzhafte Burschen nur zu zweit oder zu dritt unternahmen.

Jakob Sindig hatte sich in Niederau länger verweilt, als er vorgehabt. Nun schlenderte er ohne Hast heimwärts, den Saugrabenweg hinauf und dachte so an allerlei. Als er am Bleiloche vorüberging, prasselte ein Steinhagel gegen ihn los. Vor ihm, hinter ihm schlugen die Steine nieder, und einer traf ihn in das Genick.

»Teufel!« schrie Jakob und sprang gegen das Bleiloch zu. Es flogen noch etliche Steine, dann hörte das Werfen auf, und es begann in dem Stollen ein Stöhnen und ein unheimliches, hohles Wimmern. Da rief Jakob in den Stollen hinein: »Mich hättest du gehen lassen sollen, du Narr! Komm heraus. Ich weiche nicht vom Flecke, bis du herausgehst, dauere es so lange, wie es mag.«

Das Stöhnen wurde hohler, setzte aus, setzte ein, klang hoch, klang tief, war wie ein Belfern, wie ein Murren, wie ein verrücktes Jauchzen. Jakob Sindig schritt wie eine Schildwache vor dem Stollen auf und ab. Die Sterne glitzerten, die Luft war schneidend, und durch den Forst ging ein lautes Klingen und Knacken, als wenn das Mark in den Stämmen gefröre. Brocken kollerten von den Saugrabenfelsen herab; dumpf rumpelten sie durch die Stille. Und Jakob Sindig wartete. Wie ein letztes Sichwehren kam das Wimmern aus dem Berge. Sindig schrie hinein: »Gib dir keine Mühe. Ich gehe nicht fort, und du erfrierst eher als ich.«

Mitternacht war lange vorüber, aber Sindig wich nicht.

Da kam den Gang entlang ein langsames Schlurfen und Scharren. Sindig pflanzte sich breit vor den Eingang. Immer näher kamen die Tritte, zögernd, ungleichmäßig wie zwischen Angst und jähem Aufraffen, und dann lag einer vor dem Riesen auf den Knien und winselte: »Jakob Sindig, schlage mich nicht tot!«

Jakob schüttelte den Schneider. »Du Röderseele, du Narr, du Hallelujasänger! Totschlagen müßte ich dich! Was seid ihr für Menschen!« Dann stellte er den Schneider auf die Füße und grollte: »Tust du es noch einmal, so maure ich dich ein! – Nun will ich dich bei deinem Weibe abliefern.« Heubacher flehte um Vergebung, tausendmal, in tausend Wendungen, bettelte, daß Jakob schwiege und ihn nicht um Ehrenamt und Ansehen bringe, versprach, ihm ein treuer Helfer in allem zu sein, und prahlte vor lauter Angst wie ein Kind.

Sindig antwortete nicht. ›Das sind die Geister, vor denen sie sich fürchten,‹ dachte er, ›die armen Menschen. Und der Schneider gilt in Bergroda für einen Ehrenmann.‹

Hart klopfte Sindig an des Schneiders Fenster.

Da schlurfte Hermine heran und öffnete die Haustür. Jakob schob den erstarrten Meister in seines Weibes Arme und rief: »Da bringe ich dir deinen Mann wieder.«

Hermine hatte eine Lampe in der Hand. Ihr Mann sah aus, als wäre er dem Grabe entstiegen. Da schrie sie auf: »Was hast du ihm angetan?«

»O,« lachte Sindig, »es war ein schweres Werk. Den Röder haben wir erlöst im Bleiloche.«

Dann ging er davon. Der Schneider warf sich in seiner Stube über den Tisch und ächzte. Da hub Hermine an zu weinen und zu trösten. »Was tat er dir?« drängte sie auf ihren Mann ein. »Wir zeigen ihn morgen in Niederau beim Gericht an, Valentin, du Lieber, Lieber!« Sie holte die Elle aus der Schneiderhölle. »Schlag mich, das hat dir immer gutgetan.«

Heubacher aber ließ die Elle, die ihm sein Weib in die Hand drücken wollte, fallen. »Gegen den hilft kein Wehren.«

– – In Bergroda ging die Freude in hohen Wellen. Dreikönigstanz! In dem Worte lag ein Zauber. Das schuf duftende Blumen in Eiseskälte. Einen einzigen Festtag hatte das Jahr, einen einzigen. Und da ging es über die Menschen wie ein wilder Rausch. Keiner fragte nach Kommendem. Die Leute waren wie Kinder. Die sich ständig steigernde Erwartung der letzten Tage vor dem Feste erhitzte das Blut zum Sieden. Was nachher, was später! Am Dreikönigstage lebten sie, war alles feil, mühselig gespartes Geld, die Liebe, – der Leib. Mochte der Niederauer Pfarrer eifern, daß ihm die Lippen kraus wurden vor lauter Reden, Dreikönigstanz war Dreikönigstanz. Jeder war ein König, nahm und gab alles, alles!

Auch auf dem Binsenhofe wogten die Freudenwellen. Lorenz hatte eine neue Joppe, Wilhelm ebenso, Marlene und Annedore und die Kleinmagd hatten bunte Bänder und Tücher in den Truhen liegen. Dreikönigstanz, Dreikönigstanz!

Jakob Sindig lachte vor sich hin. Daß die Leute im kalten Winter so heiß werden konnten! Es lag in aller Augen ein Erwarten, so groß und so freudig, daß es unmöglich erfüllt werden konnte. Da standen zwei und lehnten sich aneinander, und dort hielten sich zwei umschlungen. Dreikönigstanz, ja, Dreikönigstanz, dann – –

Annedore, die hübsche, muntere, ging unsicher durch das Haus. Es brannte ihr etwas auf der Seele, seit Wochen, heißer von Tag zu Tag, und sie getraute sich in Mädchenscham nicht, die Lippen aufzutun. Nun aber ging es auf das letzte, nun mußte es sein. Sie schlich hinter Jakob Sindig drein. Es war finster im Hausflur, da fragte sie zögernd: »Jakob, wirst du auf den Dreikönigstanz gehen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, daß ich es tun werde; das muß ich sehen, scheint mir.«

Da drängte sich die scheue Annedore an ihn heran, ihr Atem wehte heiß zu Jakob hinüber. »Ich möchte mit dir tanzen!«

»Tanzen?« sagte Jakob verwundert, »das tue ich nicht.«

»Du tanzest nicht?«

»Seit Jahren nicht.«

»Es schadet nichts,« wisperte Annedore, »du kommst!«

Sie huschte davon, und Sindig blieb betroffen im dunklen Flur stehen. Es kam eine Liebe auf ihn zu, und der, der einst mit beiden Händen zugegriffen hätte – erschrak.

Er stampfte mit dem Fuße auf. »Sie sind verrückt geworden!«

Schwer stapfte er die Treppe hinauf in seine Kammer. Es war ihm heiß. Er warf die Joppe ab. Sein Blut ließ rote Kreise vor den Augen tanzen, Annedore! Jung war sie, hatte ein weiches, rundes, frisches Gesicht, zwei volle braune Zöpfe, schlanke, feste Arme, das Mieder wogte auf und ab, und – sie warf sich ihm an den Hals.

»Herrgott,« rief er laut und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das geht wie ein Brand durch die Knochen. Ich will nicht, ich gehe nicht hin zu ihrem verrückten Dreikönigstanze. Das Mädel! – Und ich gehe doch nicht! Nein! Ich will nicht kleiner sein als das Weib, das unter seinen blonden Haaren geht wie eine Königin und ein Vertrauen zu mir hat wie ein Kind. Einem Kinde kann ich nicht lügen, das kann ich nicht schlagen!«

Er zündete eine Kerze an und entfaltete die Blätter, die ihm Gertrud Heidecker gegeben hatte. Nach der ersten Durchsicht hatte er sich kaum wieder ernstlich mit ihnen beschäftigt. Er wußte überhaupt nicht, ob er planmäßig am Moore werde arbeiten können, nur das Riesenhafte des Werkes reizte ihn, und daß da einmal vier Gütlein sein sollten. An die achtundneunzig Morgen Moorland einen Menschen stellen, einen einzigen, und ihm sagen: Zwinge das auf die Knie, das störrige Land, das war eine Arbeit für Jakob Sindig. Plan? Hat Jakob Sindig je planmäßig gehandelt? Er glühte förmlich, und es stieg in Winterkälte wie ein Rauch von ihm auf.

Nun begann er langsam zu lesen, suchte die Angaben in der Zeichnung auf, las von einem Durchstechen des Dammes, der als Wall am Wege hin ging, der nötigen Senkung der Gräben, ihrer Tiefe und Breite. Tief mußten sie sein. Fünf Meter, drei Meter, je nachdem. Jakob Sindig fraß sich hinein in die Arbeit, und sie lag ihm hart zwischen den Zähnen. Riesengroß war sie. Er fing an zu frieren, warf die Joppe wieder über und fror noch immer. Das Frieren kam von innen heraus. Wie ein Erschauern ging es über den Rücken hin.

Tausend Kubikmeter, zweihundert Kubikmeter! Und das alles ein Mensch, ein einzelner Mensch! Je mehr er sich in die Zeichnung hineinlebte, um so zager wurde er, um so weniger verstand er sie zuletzt.

Und im zermarternden Grübeln sah er einen vor sich, mit dem er drei Jahre lang den schweren Dienst am Geschütz getan hatte. Das war Wilm Larns, der blondhaarige Friese, der Moorbauer, der Jakob Sindig an Länge nicht viel nachgegeben hatte und sein Freund geworden war.

Das war wie ein Licht. Wilm Larns! Der hatte gesprochen von Torfstich, von Moorwirtschaft, von Entwässerung. Jakob Sindig ging an seinen Schrank. Aus der Ecke langte er eine abgegriffene Brieftasche und wühlte mit hastigen Fingern zwischen knitternden Papieren. Da war der Militärpaß, und in den blauen Umschlag hatte er Wilm Larns' Adresse gesteckt. Nun hielt er sie zwischen den Fingern. »An den Moorbauern Wilm Larns auf Moorhof Birkenfeld am Hardunger Moor.«

Jakob Sindig stieg hinab. Nur die Bäuerin saß noch und spann. Er bat um Briefpapier und einen Umschlag. Gertrud Heidecker war verwundert. Jakob hatte nie einen Brief geschrieben.

Sie ging langsam an ihres Mannes Schreibpult und gab Jakob, was er verlangte. Und als Jakob das junge Weib schreiten sah, da mußte er an Annedore denken. ›Ach tue das nicht,‹ wallte es in ihm auf, und als ihm Gertrud das Papier reichte, sagte er mit ungewohnt leiser Stimme: »Ich will an Wilm Larns schreiben, mit dem ich zusammen bei den Soldaten war. Der ist ein Moorbauer und soll mir Rat geben.« Er hatte so das Gefühl, als dürfe er in der Bäuerin keine falsche Meinung aufkommen lassen. Und Gertrud Heidecker nickte.

»Schreibe den Brief in der Stube, droben ist es zu kalt,« riet sie.

»Es ist mir nicht kalt,« wehrte Sindig ab, »und der Brief dürfte lange dauern. Briefschreiben ist ein schwer Werk, schier so schwer als ein Moor trockenlegen.« Dabei lachte er, und auch Gertrud Heidecker lächelte. –

Nun waren nur noch zwei Tage auf den Dreikönigstanz. Annedore suchte oft Gelegenheit, an Jakob Sindig heranzukommen, und lachte ihm verheißend in das Gesicht. Jakob aber war schroff, so daß das Mädchen erschrocken seitab ging. Dann tat sie ihm wieder leid, und er war freundlicher. So war es eine bittere Zeit für die Werbende, und sie ging zuweilen mit rotgeweinten Augen umher.

Da wanderte der Gemeindebote von Bergroda von Hanghäusel zu Hanghäusel, von Hof zu Hof. »Am Dreikönigstage wird das Haus des Adam Eberlein im Bärengraben öffentlich meistbietend versteigert werden. Haus, Schiff und Geschirr und zwei Morgen Ackerland.«

Sie hörten es und schüttelten die Köpfe. ›Der Adam Eberlein. Jetzt hat's den auch. Nun ist er dem Kreuzbauern verfallen. Der Adam Eberlein! Und am Dreikönigstage ist die Versteigerung! Das hätten sie nicht tun sollen. Am Dreikönigstage! Wann war die letzte Versteigerung? Vor etlichen Jahren? Hm, ja, vor etlichen Jahren. Aber am Dreikönigstage! Das hätte der Vorsteher nicht tun sollen.‹

Dann gingen sie an ihre Arbeit ohne Murren und fast ohne Mitleid. Der Schleier, der eines Atems Länge über den Augen gelegen hatte, sank, die Augen wurden wieder blank, werbend und verheißend.

Auch Jakob Sindig hatte die Botschaft gehört. Am Tische hatten sie gesessen, als der Bote kam. Da hatte Jakob die Faust geballt. »Die Unmenschen! Wenn sie einen abtun, tanzen sie! Da will ich hin.« Das klang drohend, und die anderen erschraken.

Der Bauer, der vor sich hingestarrt hatte, sagte grob: »Sieh zu deinen Sachen, Jakob, und laß die Hände von dem, was dich nichts angeht.«

Die Bäuerin aber war bleich und hatte angstvolle Augen. –

Der Kreuzbauer war bei dem Vorsteher gewesen.

»Den Eberlein möchte ich austun. Er hat mich nun schon zehnmal aufsitzen lassen und ist nicht gekommen, als er mußte. Hat immer zuerst zu dem Seinen gegriffen. Nun ist es genug. Was meinst du, wann wir es machen?«

Der Vorsteher hatte einen Augenblick gesonnen und dann rasch erklärt: »Am Dreikönigstage.«

Darüber war der Bauer erschrocken. »Am Dreikönigstage? Warum da?«

»Um der anderen willen. Es will etwas in das Kraut schießen, das wir niederhalten müssen. Sie sollen sehen, daß wir uns nicht fürchten. Also am Dreikönigstage!«


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