Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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95

Einige Tage später erwartete Therese Herrn Wohlschein, der sie um zehn Uhr vormittags mit dem Wagen abholen sollte, um mit ihr, wie schon einige Male vorher, Einkäufe zu besorgen. Es war ein warmer Frühlingstag, das Fenster stand offen, und es duftete aus den nahen Wäldern. Wohlschein pflegte pünktlich zu sein; als er eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit noch immer nicht da war, wunderte sich Therese. Sie stand wartend am Fenster, im Mantel, eine weitere halbe Stunde verging, sie wurde unruhig und entschloß 345 sich zu telephonieren. Es meldete sich niemand. Nach einer Weile rief sie wieder an. Eine unbekannte Stimme: »Wer ist dort?« – »Ich wollte nur fragen, ob Herr Wohlschein schon von Hause weggegangen ist.« – »Wer spricht?« fragte die unbekannte Stimme. – »Therese Fabiani.« – »Oh, Fräulein – leider – leider –«, jetzt erkannte sie die Stimme, es war die des Buchhalters – »Herr Wohlschein – ja . . . Herr Wohlschein ist plötzlich gestorben.« – »Wie, was . . .?« – »Er ist heute früh tot im Bette gefunden worden.« – »Um Himmels willen!« – Klingelzeichen – sie hing das Hörrohr hin und lief die Treppe hinab.

Sie dachte nicht daran, in die Trambahn zu steigen, sich einen Wagen zu nehmen; mechanisch, wie in einem dumpfen Traum, nicht eigentlich erschüttert, zuerst nicht einmal eilig, dann freilich immer geschwinder, nahm sie den Weg in die Zieglergasse.

Da war das Haus. Keine Veränderung zu bemerken. Ein Wagen stand vor dem Tor, wie es häufig der Fall war. Sie eilte die Treppe hinauf, die Tür war geschlossen. Therese mußte klingeln. Das Mädchen öffnete. »Küss' die Hand, Fräulein.« Es klang wie gewöhnlich. Einen Augenblick dachte Therese, es sei nicht wahr, sie hätte falsch verstanden oder man habe sich einen niederträchtigen Spaß mit ihr gemacht. Und sie fragte in der merkwürdigen Empfindung, als könnte ihre Frage noch etwas ändern: »Ist Herr Wohlschein –«

Aber sie sprach nicht weiter. »Ja, wissen denn Fräulein nicht?« – Nun nickte sie rasch, machte eine sinnlos abwehrende Bewegung mit der Hand, und ohne weiter zu fragen, öffnete sie die Türe in den Salon. Um den Tisch saßen der Buchhalter und zwei Herren, die sie 346 nicht kannte, einer empfahl sich eben. Zwei Damen saßen in der Nähe des Kamins, die eine war die Schwester des Verstorbenen. Auf sie trat Therese zu: »Ist es denn wahr?« Die Schwester nickte, reichte ihr die Hand. Therese schwieg hilflos. Die Türe ins Nebenzimmer stand offen, dorthin wandte sich Therese und fühlte, wie man ihr nachschaute. Das Speisezimmer war leer. Im nächsten, dem kleinen Rauchzimmer, standen zwei Herren am Fenster und redeten angelegentlich, aber leise miteinander. Auch die Türe ins nächste Zimmer war offen. Hier stand Wohlscheins Bett. Die Umrisse eines menschlichen Körpers waren sichtbar, ein weißes Linnen war über sie gebreitet. Da lag er also, tot und so allein, wie nur Tote sind. Therese spürte nichts als Scheu und Fremdheit, immer noch keinen Schmerz. Gern wäre sie niedergekniet, irgend etwas hielt sie davon ab. Warum ließ man sie nur allein? Die Schwester hätte ihr wohl folgen können. Ob das Testament schon eröffnet war? Dachte sie jetzt daran! Es war freilich nicht bedeutungslos, das wußte sie auch in diesem Augenblick, aber alles Übrige war wichtiger. Er war tot, der Bräutigam, der Liebhaber, der gute Mensch, dem sie so viel verdankte, Thildas Vater. Ah, nun würde wohl auch Thilda kommen müssen. Hatte man ihr schon telegraphiert? Gewiß. Unter diesem Tuch da sein Gesicht. Warum brannten noch keine Kerzen? Gestern um diese Zeit noch war sie mit ihm beim »Herrnhuter« gewesen, und sie hatten Bettwäsche bestellt. Was raunten sie neben an? Der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbart war wohl der Anwalt. Wußten die Leute überhaupt, wer sie war? Nun, die Schwester wußte es jedenfalls. Sie hätte doch wohl 347 etwas herzlicher sein können mit der Geliebten ihres Bruders. Wenn ich schon seine Frau gewesen wäre, so benähmen sie sich alle anders, das ist gewiß. Ich will wieder zu seiner Schwester hineingehen, dachte sie. Wir zwei sind ja die eigentlichen Leidtragenden, wir und Thilda. Ehe sie das Zimmer verließ, schlug sie ein Kreuz. Hätte sie nicht einen Blick auf das Antlitz des Toten tun sollen? Aber sie wünschte sich gar nicht, sein Gesicht noch einmal zu sehen – dieses etwas feiste, glänzende Gesicht; sie hatte eher Angst davor. Ja, er war etwas fett gewesen, darum wohl – – Aber er war doch noch nicht einmal fünfzig. Und sie war nun seine Witwe, ohne verheiratet gewesen zu sein.

Auf dem Tisch im Salon stand Backwerk, Wein, Gläser. »Wollen Sie nicht etwas nehmen, Fräulein Fabiani?« fragte die Schwester. – »Danke«, sagte Therese, nahm nichts, aber setzte sich zu den Damen. Die Schwester stellte vor. Den Namen der Dame verstand Therese nicht. Und nun kam der ihre: »Fräulein Fabiani, die langjährige Lehrerin von Thilda.« Die Dame reichte Theresen die Hand. »Das arme Kind«, bemerkte die Dame. Die Schwester nickte. »Jetzt wird sie wohl das Telegramm schon haben.« – »Lebt sie in Amsterdam oder im Haag?« fragte die Fremde. – »In Amsterdam«, erwiderte die Schwester. – »Waren Sie einmal in Holland?« – »Nein, noch nie. In diesem Sommer wollte ich hin – mit meinem armen Bruder.« – Kurzes Schweigen. – »Er war doch nie so eigentlich leidend gewesen«, meinte die fremde Dame. – »Manchmal ein wenig Herzschmerzen«, erwiderte die Schwester, und zu Theresen: »Wollen Sie nicht doch etwas nehmen, Fräulein Fabiani? Einen Schluck Wein?« – Therese 348 trank. Ein Herr kam; ältlich, in grauem Sommeranzug. Mit ergriffener Miene, runden Traueraugen, die im Zimmer umherirrten, schritt er auf die Schwester zu, drückte ihr die Hand, zweimal, dreimal. »Es ist ja furchtbar, so unerwartet.« – Die Schwester seufzte. Nun drückte er Theresen die Hand und merkte, daß er sie nicht kannte. Die Schwester stellte vor. Den Namen des Herrn verstand Therese nicht. Dann: »Fräulein Fabiani, eine langjährige Lehrerin meiner Nichte Thilda.«

»Das arme Kind«, bemerkte der Herr. Therese empfahl sich, man hielt sie nicht zurück.


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