Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Die erste Nacht ihres Wiener Aufenthaltes verbrachte Therese in einem unansehnlichen Gasthof nahe dem Bahnhof, und am nächsten Morgen, nach einem vorgesetzten und genau überlegten Programm, machte sie sich vor allem auf den Weg nach der inneren Stadt. Es war ein heller Vorfrühlingstag; schon wurden Veilchen ausgeboten, viele Frauen trugen Frühjahrskleider; Theresen aber war es auch in ihrem einfachen, gutsitzenden Winterkostüm ganz wohl und sicher zumute, und sie war froh, aus Salzburg fort und allein zu sein.

Aus der Zeitung hatte sie sich Adressen aufgeschrieben, wo ein Kinderfräulein oder eine Erzieherin gesucht wurde, und wanderte nun den ganzen Tag, mit einer kurzen Mittagspause in einem wohlfeilen Restaurant, von Haus zu Haus. Öfters wurde sie zu jung befunden, öfters abgewiesen, weil sie noch nicht in der Lage war, Zeugnisse vorzuzeigen; einige Male behagten ihr selbst die Leute nicht, bei denen sie hätte Aufnahme finden können, endlich, in der Müdigkeit des heranbrechenden 70 Abends, entschloß sie sich, in einer Beamtenfamilie mit vier Kindern von drei bis sieben Jahren Stellung zu nehmen.

Im Verhältnis zu dem, was sie hier erfahren sollte, war das Leben daheim auch in der schlimmsten Zeit immer noch geradezu üppig gewesen. Die Kinder, stets hungrig, brachten in die armselige Wohnung nur Lärm, aber keine Fröhlichkeit; die Eltern waren verdrossen und bösartig; Therese, genötigt, mit eigenem Geld ihre Nahrung aufzubessern, war nach wenigen Wochen mit ihrer Barschaft zu Ende, und unfähig, den üblen Ton der Leute weiter zu ertragen, verließ sie das Haus.

In ihrer nächsten Stellung bei einer Witwe mit zwei Kindern behandelte man sie wie einen Dienstboten, in einer dritten war es die unleidliche Unreinlichkeit der Umgebung, in einer vierten die freche Zudringlichkeit des Hausherrn, die Therese bald wieder vertrieb. So wechselte sie ihre Stellung noch einige Male, nicht ohne zu fühlen, daß zuweilen ihre eigene Ungeduld, ein gewisser Hochmut, der wie anfallsweise über sie kam, eine ihr selbst unerwartete Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut waren, Mitschuld an ihrer Unfähigkeit trugen, sich unter einem fremden Dache einzuleben. Es war eine so mühe- und sorgenvolle Zeit, daß Therese kaum jemals zu einem richtigen Sichbesinnen gelangte; doch manchmal, wenn sie etwa in einem schmalen Bett an einer kalten Mauer liegend durch das Weinen eines ihrer Pfleglinge mitten in der Nacht geweckt wurde, oder wenn im Morgengrauen Stiegenlärm und Dienstbotengeschwätz sie aus dem Schlafe störten, oder wenn sie in einem traurigen, kleinen Garten vor der Linie mit fremden Rangen, die 71 ihr gleichgültig oder widerwärtig waren, müde auf einer Bank saß, oder wenn sie, gelegentlich allein im Kinderzimmer zurückbleibend, unerwünschte Muße hatte, über ihr Los nachzudenken, da ward ihr dessen ganze Kläglichkeit wie in einer plötzlichen Erleuchtung klar genug.

Die wenigen freien Nachmittage, die ihr vergönnt waren, pflegte sie erschöpft, wie sie war, meist an ihrem Dienstort zu verbringen, insbesondere, nachdem der einmalige Versuch eines gemeinsamen Spazierganges mit einem Kinderfräulein aus der Nachbarschaft in peinlicher Weise mißglückt war. Diese Person, die bisher immer von allerlei Anfechtungen zu erzählen gewußt hatte, denen sie in ihren verschiedenen Stellungen von seiten der Hausväter oder Haussöhne ausgesetzt gewesen und die sie siegreich abgeschlagen; – an diesem Sonntagnachmittag im Prater hatte sie sich auch die frechste Anrede von jungen Leuten jeder Art gefallen lassen und sich am Ende in ihren Antworten so wenig Zwang angetan, daß Therese in einem unbeobachteten Augenblick, von einem plötzlichen Ekel erfaßt, verschwunden und allein nach Hause gegangen war.


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