Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Sie übernachtete wieder einmal bei Frau Kausik. Doch schon am nächsten Morgen sah sie ein, daß in diesen trübselig-dürftigen Verhältnissen ihres Bleibens nicht mehr sein konnte. Sie machte einen Überschlag. Da der Rest des kleinen väterlichen Erbteils an sie ausbezahlt worden war, hoffte sie bei einiger Sparsamkeit wohl ein Jahr lang auszulangen. Vor allem galt es, eine Zuflucht für die nächste schwere Zeit zu finden; aber was dann, fragte sie sich, wenn es sich nicht mehr um sie allein handeln würde? Gedanke und Atem stockten ihr, als wäre ihr nun erst, was ihr bevorstand, mit völliger Klarheit zu Bewußtsein gekommen. Und plötzlich, als wäre dies das einzige Wesen, bei dem sie Verständnis nicht nur für ihre äußere Lage, sondern auch für ihren Seelenzustand finden könnte, fiel ihr Frau Ruhsam ein, deren freundliche Erscheinung in ihrer Erinnerung wie eine neue Hoffnung auftauchte, und sie machte sich auf den Weg zu ihr, ohne sich einzugestehen, 130 daß auch noch eine andere Hoffnung sie dorthin zog als die, für die Dauer der schwersten Zeit ein Heim bei ihr zu finden.

Frau Ruhsam schien gar nicht erstaunt, Therese wiederzusehen. Als diese zögernd und ungeschickt mit ihren Fragen hervorrückte, ließ Frau Ruhsam einige Ungeduld merken, nahm offenbar an, daß ihr zu der eigentlich beabsichtigten Frage nur der Mut fehle, kam ihr zu Hilfe und erklärte sich bereit, ihr einen Arzt zu empfehlen, der die kleine Operation hier im Hause vornehmen könne. Die Kosten freilich – Therese unterbrach sie. Nicht darum war sie gekommen, an dergleichen denke sie nicht mehr. »Also, wegen der Wohnung«, meinte Frau Ruhsam. »Das wäre dann – sie maß Therese mit prüfenden Blicken – für Mitte oder Ende März.« Allerdings hätte sie einige Vormerkungen gerade für diese Zeit, aber sie wolle sehen, was sich machen ließe. Therese hatte zwar auch daran nicht gedacht, aber das Anerbieten lockte sie. Hier gab es Ruhe, Freundlichkeit, vielleicht sogar Güte; – alles, wonach es ihr so sehr verlangte. Sie erkundigte sich nach den Bedingungen; – ein Aufenthalt von drei Wochen hätte Theresens ganzes Vermögen aufgezehrt. »Es ist wirklich nicht übertrieben«, meinte Frau Ruhsam. »Vielleicht kommt die Dame einmal mit dem Herrn Gemahl herauf, und der Herr Gemahl schaut sich selber alles an!« Die Herrschaften würden gewiß nichts Besseres finden und überdies die absoluteste Diskretion. Sogar was die polizeiliche Meldung anbelange – auch in dieser Hinsicht habe man seine Verbindungen. Therese erwiderte, daß sie die Sache »mit ihrem Gemahl« besprechen werde, und ging.

131 So entschloß sie sich denn, vorläufig weiter bei Frau Kausik zu wohnen, und schickte sich bald wieder in die kleinen Verhältnisse, die sie dort vorfand. Frau Kausik war den ganzen Tag außer Haus; um so mehr war Therese mit den Kindern zusammen, und es war ihr lieb, indem sie ihnen bei den Aufgaben half und mit ihnen spielte, ihre eigenen erzieherischen Talente anfangs in einer gewissen Übung zu erhalten. Überdies empfand sie sich hier außerhalb jeder Entdeckungsmöglichkeit, wie in einer fremden Stadt, wie in einem anderen Land beinahe. Und allmählich, nicht nur in ihrer äußeren Existenz, auch in ihrer Redeweise, ja fast im Dialekt, paßte sie sich dem Ton der Leute an, unter denen sie jetzt lebte. Auf ihre Kleidung verwandte sie von Tag zu Tag weniger Sorgfalt, und die rasch fortschreitende Veränderung ihrer Gestalt förderte sie in einer Nachlässigkeit, die gleichfalls angetan war, sie von ihrer früheren Welt, von ihrem früheren Dasein gleichsam abzuschließen.

Um sich die Langeweile zu vertreiben, die sie oftmals überkam, nahm sie in einer vorstädtischen Leihbibliothek ein Abonnement, und wahllos, aber immer gespannt und oft ganz versunken in eine phantastisch-triviale Welt, durchflog sie ganze Bände während der zahlreichen Stunden, die sie allein in ihrer trübseligen Kammer verbrachte. Gelegentliche Unterhaltungen gab es nur, meist im Stiegenhaus, mit den kleinbürgerlichen Nachbarsfamilien, und wenn von irgendeiner Seite eine Bemerkung über Theresens Zustand fiel, so geschah das beiläufig, gutmütig, scherzhaft, ohne daß irgendwer in diesen Kreisen an Theresens Schwangerschaft etwas Besonderes gefunden oder gar daran Anstoß genommen hätte.

132 Doch gab es Augenblicke, besonders am frühen Morgen, wenn sie noch zu Bette lag, in denen sie, aus ihrer Dumpfheit erwachend, ihr ganzes Dasein als unbegreiflich und beinahe als unwürdig empfand. Aber kaum war sie wieder, meist schon nach der ersten unwillkürlichen Bewegung, zum Bewußtsein ihrer Körperlichkeit gelangt, da war ihr, als flute von dem neuen Leben, das sich in ihr entwickelte, durch alle ihre Glieder wie aus einem verborgenen Quell ein Strom süßen Erschlaffens, in dem ihr ganzes Wesen, einem naturhaften Geschick angstlos und demütig hingegeben, sich wundersam löste. Von all den Beschwerden, die die Schwangerschaft so vielen Frauen zu bringen pflegt, blieb sie vollkommen frei, ja eher befand sie sich in einem Zustand erhöhten Wohlseins. Nur eine gewisse körperliche Trägheit steigerte sich von Tag zu Tag, und es begegnete ihr, daß sie des Morgens, während sie auf dem Bett sitzend sich kämmte, minutenlang wie erstarrt blieb, den Kamm in den Haaren, und das fremde Gesicht anblickte, das ihr aus dem holzgerahmten Spiegel an der im übrigen kahlen Wand entgegensah –, ein bleiches, feistes, beinahe gedunsenes Gesicht mit halb offenen, etwas bläulichen Lippen und großen, staunenden, leeren Augen. Dann, aus ihrer Erstarrung zu sich kommend, schüttelte sie wohl den Kopf, kämmte sich weiter, sang leise vor sich hin, erhob sich schwer und trat näher zum Spiegel hin, so daß ihr Bild für eine kurze Weile im Hauch ihres Atems verschwand. Wenn es dann wieder erschien, lag eine seltsame Traurigkeit darin, von der Therese früher nichts geahnt hatte.

An einem klaren Febertag hatte die Lektüre eines Romankapitels, darin großstädtisches Treiben in 133 abendlich erleuchteten Straßen verlockend geschildert war, die Sehnsucht in ihr wachgerufen, selbst wieder einmal etwas so Fröhliches und Leuchtendes zu schauen; und es fiel ihr ein, daß nichts leichter war, als diese Sehnsucht zu befriedigen. Es genügte, das Gesicht hinter einem Schleier zu verbergen; an ihrer Gestalt, dessen konnte sie sicher sein, würde sie niemand erkennen. Am späten Nachmittag verließ sie das Haus, verspürte anfangs eine beträchtliche Schwere in den Beinen, die aber wie durch einen Zauber verschwand, als Therese auf eine Hauptstraße geraten war, deren lange wohlbeleuchtete Zeile ihr schon einen Gruß aus noch helleren und prächtigeren Regionen zuzuwinken schien. Sie fuhr mit der Trambahn bis zur Oper, ließ sich von der Menge weitertreiben, blieb da und dort vor Auslagen stehen und war von Licht, Lärm und Gedränge beunruhigt und beglückt zugleich. Sie besorgte einige kleine, längst notwendig gewordene Einkäufe, und es berührte sie merkwürdig, daß man sie zum erstenmal in ihrem Leben als »gnädige Frau« ansprach. Als sie das Geschäft verließ, überfiel sie eine große Müdigkeit, sie eilte heimzukommen und legte sich sofort zu Bett. Frau Kausik stellte beiläufig die Frage an sie, was sie denn eigentlich für die nächste Zeit für Absichten habe. Hier könne sie ja doch nicht bleiben, und es wäre hohe Zeit für sie, sich um ein geeignetes Quartier umzusehen. Frau Kausik ließ das Wort Findelhaus fallen. Therese erschrak, davon wollte sie nichts wissen, und am nächsten Morgen machte sie sich auf, ein Zimmer zu suchen. 134


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