Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Seit dem Herbst besuchte Therese die vorletzte Lyzealklasse. Sie faßte rasch auf, Fleiß und Aufmerksamkeit ließen zu wünschen übrig. Die Oberlehrerin brachte ihr ein gewisses Mißtrauen entgegen; obwohl sie in der Religionslehre nicht schlechter beschlagen war als ihre Mitschülerinnen und alle religiösen Übungen in Kirche und Schule nach Vorschrift mitmachte, stand sie im Verdacht, der wahren Frömmigkeit zu ermangeln. Und als sie eines Abends in Gesellschaft des jungen Nüllheim, dem sie zufällig begegnet war, von der Lehrerin gesehen wurde, benützte diese die Gelegenheit zu boshaften Anspielungen auf gewisse großstädtische Angewohnheiten und Sitten, die sich nun auch in der Provinz einzubürgern schienen, wobei sie einen nicht mißzuverstehenden Blick auf Therese warf. Therese empfand dies um so ungerechter, als man von viel schlimmeren Dingen, die mancher Schulkameradin nachgesagt wurden, keinerlei Aufhebens machte.

Der junge Nüllheim kam indes öfter in das Haus Fabiani, als es für das gemeinsame Studium mit Karl notwendig gewesen wäre, ja, ein oder das andere Mal auch, wenn Karl nicht daheim war. Dann saß er bei 18 Theresen im Zimmer und bewunderte ihre geschickten Hände, die farbige Blumen auf einen graulila Kanevas stickten, oder hörte ihr zu, wenn sie auf dem verstimmten Pianino schlecht und recht ein Chopinsches Nocturno spielte. Einmal fragte er sie, ob sie immer noch, wie sie gelegentlich geäußert, Lehrerin zu werden beabsichtige. Sie wußte nicht recht darauf zu antworten. Eines nur war gewiß, daß sie hier in diesen Räumen, in dieser Stadt keineswegs mehr lange wohnen würde; sobald als möglich wollte, vielmehr mußte sie einen Beruf ergreifen; lieber anderswo als hier. Die häuslichen Umstände begannen sich zusehends zu verschlechtern, das konnte auch für Alfred kein Geheimnis sein; doch nach wie vor – davon sprach sie nicht – empfing die Mutter ihre Freundinnen oder die sie so nannte, ein oder das andere Mal fanden sich auch Herren ein, und zuweilen dehnten sich die Gesellschaften bis in den späten Abend aus. Therese kümmerte sich wohl wenig darum; doch entfremdete sie sich ihrer Mutter immer mehr. Der Bruder aber zog sich sowohl von ihr als auch von der Mutter völlig zurück; bei den Mahlzeiten wurden nur die unumgänglichsten Worte gewechselt, und manchmal war es Theresen, als würde sie, gerade sie, ohne daß sie sich einer Schuld bewußt gewesen wäre, in unfaßbarer Weise für den Niedergang des Hauses verantwortlich gemacht.


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