Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Als Therese in den letzten Oktobertagen wieder nach Wien reiste, fühlte sie sich zwar körperlich erholt, doch innerlich verarmt. Sie war im besten Einvernehmen von ihrer Mutter geschieden und wußte tiefer als je, daß sie keine hatte. Die besten Stunden, deren sie sich aus ihrem dreiwöchigen Aufenthalt in Salzburg erinnerte, waren doch diejenigen gewesen, die sie auf einsamen Spaziergängen und in der Kirche verbracht hatte, wo sie kaum jemals betete und sich doch immer beruhigt und in guter Hut fühlte.

Therese trat nun eine Stellung bei einem Landesgerichtsrat an, der mit Frau und Kindern, zusammen mit einer anderen Partei, von der man nichts sah und hörte, ein kleines Haus in einer Gartenvorstadt bewohnte. Der Landesgerichtsrat war ein schweigsamer, unfroher, aber höflicher Mann, die Mutter beschränkt und gutmütig, die beiden Töchter, zehn und zwölf Jahre alt, nicht sonderlich begabt, aber sehr gutartig und leicht lenkbar. Man lebte sparsam, aber Therese hatte nichts zu entbehren, auch was man ihr an menschlicher Teilnahme entgegenbrachte, war gerade so viel, daß sie sich weder verwöhnt und beschenkt, noch aber zurückgesetzt oder vernachlässigt erscheinen durfte.

In der gleichen Wohnung lebte als Zimmerherr ein junger Bankbeamter, der in keinerlei Verkehr mit der 189 Familie stand. Therese sah ihn nur selten im Vorzimmer, auf der Stiege; bei flüchtigen Begegnungen grüßte man einander, gelegentlich wurden ein paar Worte über das Wetter gewechselt, trotzdem empfand sie es nicht als Überraschung, sondern fast als etwas längst Erwartetes, als er sie einmal spät abends, da sie im Vorzimmer zusammentrafen, heftig in die Arme nahm und küßte. In der Nacht darauf – sie wußte kaum, ob er sie darum gebeten, ob sie es ihm versprochen – war sie bei ihm, und von dieser Nacht an, manchmal nur auf Viertelstunden – denn sie hatte immer Angst, daß die beiden Mädchen, mit denen gemeinsam sie in einem Zimmer schlief, ihre Entfernung bemerken könnten – war sie allnächtlich bei ihm. Außerhalb dieser Zeit dachte sie seiner kaum, und wenn sie ihm begegnete, kam es ihr kaum zu Bewußtsein, daß er ihr Geliebter war. Trotzdem bereute sie oft genug, daß sie so viele Jahre ihres Lebens, wie sie sich nun sagte, versäumt, daß sie seit Kasimir Tobisch keinen Geliebten gehabt hatte. Als sie anfing zu merken, daß er eine ernstlichere Leidenschaft für sie faßte und Fragen an sie richtete, die Eifersucht auf ihre Vergangenheit verrieten, hielt sie es für angezeigt, mit ihm zu brechen. Sie machte ihn glauben, daß man in der Familie des Landesgerichtsrates Verdacht gefaßt habe, und spiegelte ihm immer wieder von neuem eine zuweilen auch echte Angst vor möglichen Folgen ihres Verhältnisses vor. Endlich machte sie ein rasches Ende, indem sie sich ohne sein Wissen nach einer anderen Stellung umsah und eines Morgens das Haus für immer verließ, ohne ihn verständigt zu haben. 190


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