Heinrich Schliemann
Ithaka der Peloponnes und Troja
Heinrich Schliemann

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Einundzwanzigstes Kapitel

Die Stadt Yenitscheri. – Schöne Rundsicht auf die Ebene von Troja. – Schlaflosigkeit auf dem Dache eines Stalles. – Grab des Festus. – Alter Kanal. – Ruinen. – Neochorion. – Der liebenswürdige Demarch Georgios Mengiussis und der gelehrte verkrüppelte Kaufmann A. Kolobos. – Beschika-Tepe. – Udjek-Tepe soll das Grab des Propheten Elias sein. – Ruinen einer Stadt. – Inschrift. – Rückkehr nach Bunarbaschi.

Nun begab ich mich nach der Stadt Yenitscheri auf dem Vorgebirge Sigeum, dessen Plateau sich ungefähr 80 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Von hier geniesst man eine herrliche Aussicht über die ganze trojanische Ebene. Als ich mit der Iliade in der Hand auf dem Dache eines Hauses stand und hinausschaute, war mir, als sähe ich unter mir die Flotte, das Lager und die Versammlungen der Griechen, Troja und die Feste Pergamus auf dem Plateau von Hissarlik, die Märsche und Gegenmärsche und die Kämpfe der Truppen in der Ebene zwischen der Stadt und dem Lager.

Zwei Stunden hindurch liess ich so die Hauptbegebenheiten der Iliade an mir vorübergehen, bis die Dunkelheit und heftiger Hunger mich zwangen hinabzusteigen.

Ich ging in ein Kaffeehaus und entliess die fünf Arbeiter; gegen meine Erwartung hatte ich keine Gelegenheit gehabt, sie in Hissarlik zu gebrauchen; denn ohne auch nur Ausgrabungen zu versuchen, hatte ich die volle Ueberzeugung gewonnen, dass hier das alte Troja gestanden; auch war für grosse Ausgrabungen die Jahreszeit nicht günstig, weil im August das Klima in der Ebene pestilenzialisch und der Boden zu trocken ist. April und Mai sind die beste Zeit.

Da ich seit sechs Tagen nichts als schwarzes Gerstenbrod und Wasser genossen hatte, verlangte ich im Kaffeehause Fleisch. Man brachte schnell ein Huhn herbei, und wollte es zubereiten. Aber das arme Thier schien sein Schicksal zu ahnen und fing so heftig zu schreien an, dass ich Mitleid mit ihm hatte und mich erbot, das Geld dafür zu bezahlen, wenn man es in Freiheit setzte. Trotzdem erhielt ich eine recht gute Abendmahlzeit, denn man brachte mir acht Eier, frisches Brod und Wein. Letzterer war von der benachbarten Insel Tenedos importirt, da man in der Ebene von Troja den Anbau des Weinstocks völlig vernachlässigt.

Man hatte für mich in einer gut aussehenden Stube ein Bett zurecht gemacht. Als ich aber auch hier die Wände voller Wanzen fand, dieser Geissel Kleinasiens, mochte ich nichts davon wissen und schlug auf dem Dache eines Stalles mein Lager auf. Kaum aber hatte ich mich niedergelegt, so fielen Tausende von Flöhen über mich her, die mir die ganze Nacht hindurch keinen Augenblick Ruhe liessen.

Am folgenden Tage um 5 Uhr Morgens reiste ich gegen Süden ab, indem ich immer den Höhen auf der rechten Seite der Ebene folgte. Ungefähr 4 Kilometer von Yenitscheri, am Ufer des ägeischen Meeres, kam ich an einem andern kegelförmigen Grabhügel vorbei, der jedenfalls noch nicht aufgegraben worden war, und wie ich schon gesagt habe, nach meiner Meinung das Grab des Festus ist.

Das Ufer hat an dieser Stelle 33 Meter Höhe. Der Grabhügel ist 15 Meter hoch und hat 53 Meter im Durchmesser an seiner Grundfläche.

Unmittelbar darauf passirte ich einen 1 Kilometer langen, alten künstlichen Kanal, der mitten durch das Vorgebirge in den Felsen gegraben ist. Jetzt liegen wohl 5 Meter Erde im Bette dieses Kanals, der seit Jahrhunderten aufgegeben zu sein scheint; seine Ufer mögen ursprünglich eine Höhe von 33 Metern gehabt haben.

Ein wenig weiter kam ich an einen flachen Hügel von 14 Meter Höhe, der in einer Ausdehnung von 166 Meter Länge bei 40 Meter Breite mit den cyklopischen Ruinen eines grossen Gebäudes, einer Citadelle oder eines Tempels bedeckt war.

Darauf passirte ich das schöne und grosse griechische Dorf Neochorion und kehrte in dem Hause des Demarchen Georgios Mengiussis, eines sehr liebenswürdigen und interessanten Mannes, ein, der sich beeilte, mir das Dorf und mehrere alte Bildwerke von vollendeter Ausführung zu zeigen, die er einige hundert Meter von seinem Hause bei Ausgrabungen am Abhange des Meeresufers entdeckt hatte. Jedenfalls hat im Alterthume am Ufer unterhalb Neochorion, und vielleicht sogar auf der Stelle dieses Dorfes, eine Stadt gestanden.

An dem Kaufmann Constantin A. Kolobos fand ich eine zweite sehr interessante Persönlichkeit, ein wahres Wunder von Gelehrsamkeit für dieses Land. Er spricht und schreibt vollkommen Italienisch und Französisch und versteht alle alten griechischen Schriftsteller so gut, dass es fast Staunen erregt. Seine Gelehrsamkeit ist mir um so unerklärlicher, als er sie sich durch eigene Studien erworben hat, da er an beiden Beinen verkrüppelt ist und noch nie sein Dorf verlassen hat. Weder sein unglücklicher Zustand, der ihn zwingt, immer zu sitzen und sich tragen zu lassen, noch seine Gelehrsamkeit verhindern ihn, Handel zu betreiben, durch den er sich bereits ein grosses Vermögen erworben hat.

Ungefähr 6 Kilometer weiter gelangten wir an einen andern Grabhügel von 12 Meter Höhe und 50 Meter im Durchmesser an der Grundfläche, welcher Beschika-Tepe heisst und ebenfalls noch nicht aufgegraben ist. Von hier wandten wir uns nach Osten, um den schon beschriebenen künstlichen Kanal zu besichtigen, welcher das Wasser des Bunarbaschi-Su ins ägeische Meer leitet.

Dann besuchten wir den Grabhügel Udjek-Tepe, den falschen Grabhügel des Aesyetes.

Ich habe bereits früher die ungeheuren Ausdehnungen dieses Grabhügels angegeben, der allein den Raum eines grossen Kirchhofs, wie sie bei uns gebräuchlich sind, einnehmen würde. Da er auf einem hochliegenden Terrain errichtet ist, so sieht man ihn vom Meere aus in weiter Entfernung.

Dieser Grabhügel ist noch von Niemandem aufgegraben worden; doch bemerkt man Höhlen von Wölfen und Füchsen darin. Er wird von den griechischen Bauern Μνῆμα Ἰλίου genannt, da sie, durch die Aehnlichkeit des Namens getäuscht, glauben, der Prophet Elias sei darin begraben, und jedes Jahr kommt man am Feste dieses Heiligen in Schaaren, um an dem Grabe Gebete zu verrichten und Todtenopfer darzubringen, wie es die in grossen Massen vorhandenen Trümmer von Töpfergeschirr und die zahlreichen Feuerspuren auf dem Gipfel des Grabhügels bezeugen.

Ein Kilometer südlich kam ich an den Ruinen einer alten Stadt vorbei, welche schön und blühend gewesen zu sein scheint, denn ich fand dort zahlreiche Bruchstücke von marmornen Säulen und Bildwerken, ausserdem eine griechische, in einen Marmorblock eingegrabene Inschrift, die gegen das Ende der römischen Republik zurückzureichen schien. Unglücklicher Weise konnte ich sie nicht mitnehmen, denn der Marmorblock war zu gross und die Inschrift zu lang, um in wenigen Stunden eine genügende Abschrift zu nehmen.

Von hier kehrte ich nach Bunarbaschi zurück und übernachtete abermals auf dem Felsen neben den 34 oder 40 Quellen.


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