Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Das Staatsexamen und der Sprung in die Chirurgie

Nun war es wirklich an der Zeit, an die Gründung irgendeiner bürgerlichen Existenz zu denken. Die gewöhnliche Zahl der Studiensemester hatte ich um Jahre überschritten, war ständig zwischen Wissenschaft und Künstlerboheme hin und her gependelt, die Familie drängte, die väterliche Kasse wurde reservierter; genug, dieses planlose Fischen im Meere des Lebens, was ja sehr schön, aber nur für mich befriedigend war, mußte endlich einmal ein Ende nehmen. Dauernde Pressionen meines Vaters fruchteten nichts. Da machte er kurzen Prozeß. Der Gute befreite sich für ein halbes Jahr von Praxis und festen Beziehungen aller Art zu Stettin und erschien eines Tages, ausgerüstet wie zu einer langen Reise, in Berlin auf meiner Stube in der Karlstraße. »Nanu, Väterchen?« »Ja, ich komme, um mit dir das Staatsexamen zu machen. Du willst ja nicht allein darangehen!« In der Tat, ich hatte einen ungeheuren Abscheu vor diesem offiziellen Schritt. Schien es mir doch wie eine gesellschaftlich grobe Taktlosigkeit, sich nach seinem Wissen ausfragen zu lassen, eine schlechte Sitte, die in gebildeten, guten Kreisen nicht üblich war. Auch verspürte ich mit meiner fast speziell pathologischen Ausbildung starke Lücken für eine universell ärztliche Vorbereitung. Der gute Vater hatte das alles bedacht und beschämte mich, wie immer. Die nötigen Lehrbücher für die Disziplinen, mit denen ich kaum in Berührung gekommen war, hatte er schon mitgebracht und forderte mich nun kategorisch auf, die Formalitäten der Anmeldungen fürs Examen zu besorgen. Dabei gab es einige Schwierigkeiten; denn, da ich verschiedene Kollegien zwar belegt, aber nie besucht hatte, fehlten mir die fürs Examen nötigen Testate. Das ging bei mehreren gnädigen Professoren gut ab, weil sie mich vom Seziertisch her kannten. Einige waren Freunde meines alten Herrn, der die Sache für mich übernahm. Bei Frerichs, den ich so gut kannte vom Obduzieren, glaubte ich die Sache schon selbst arrangieren zu können. Das hätte beinahe mein Examen noch für mindestens ein Jahr unmöglich gemacht. Ich kam mit meinem Testierbogen an und bat den Herrn Geheimrat, mir freundlichst meinen Besuch seiner Vorlesungen von vor zwei Jahren nachzutestieren. Er wurde einfach grob. »Das ist eine Unverschämtheit. Sie muten mir da eine Pflichtverletzung schwerster Art zu!« »Aber, Herr Geheimrat –« »Gehen Sie, ich bin ein Mann von Prinzip.« Betrübt schlich ich hinaus. Auf dem Flur traf ich seine schöne, sehr junge Frau, die der alte Knabe vor einigen Monaten geheiratet hatte. Ich kannte sie aus Gesellschaften, wir hatten musiziert und uns auch sonst gelegentlich gesehen; sie begrüßte mich freundlich: »Ah! Herr Doktor! Wie geht es? Was führt Sie hierher? Was ist mit Ihnen? Sie sehen so aus, als wären Ihnen alle Felle fortgeschwommen!« »Sind sie auch«, sagte ich bekümmert. »Ihr Herr Gemahl hat mir eine Unterschrift verweigert. Das kostet mich ein volles Jahr. Es ist furchtbar. Ich kann das Staatsexamen nicht machen!« Dann erklärte ich ihr die Sachlage und sagte: »Mit einem Namenszug Ihres Gatten an dieser Stelle (ich zeigte sie genau) ist mein Glück gemacht!« »Na, geben Sie mal her!« rief sie und nahm mir das Büchlein, Finger zwischen die betreffenden Seiten eingeschoben, aus der Hand und verschwand im Zimmer des einsamen Prinzipienbewahrers. Nach wenigen Minuten erschien sie stolz lächelnd in der Tür. »So«, sagte sie, »es ist alles erledigt.« Hätte ich das Geld dazu gehabt, ich hätte ihr ein Mühlrad von Blumen gespendet, so blieb's bei einem kleinen Rosenkorb mit einem Liedchen. Nun war alles vorbereitet, und es konnte ans Pauken für die einzelnen Disziplinen gehen. Es wird das medizinische Staatsexamen bekanntlich in einzelnen Etappen (Stationen) absolviert, zwischen denen Wochen liegen können, so daß man Zeit hat, sich auf die einzelnen Fächer extra zu rüsten. Das geschah denn auch mit Feuereifer, und der liebe Vater hat getreulich noch einmal mit mir Kinderkrankheiten, Geburtshilfe, Augenheilkunde, Medikamentenlehre usw. durchgeackert. »Weißt du«, sagte er einmal, »ich muß dir eigentlich noch dankbar sein für dein Zaudern, ich komme dadurch zu einer Art Revision der eigenen Jugend. Wie anders ist das alles geworden! Ich muß ja vieles förmlich umlernen. Es ist erstaunlich, wie weit voran ihr gekommen seid seit meiner Zeit in Prag, in Jena, in Bonn oder hier beim alten Johannes Müller, bei dem ich mit Wilms und Graefe zusammen famulierte. Aber manches war doch knapper, anschaulicher, faßlicher, wie es uns die Alten lehrten. Da sind wir gerade beim Studium der Ruhrkrankheit. Weißt du, wie der alte Krukenberg uns den ganzen gelehrten Kram in ein paar Worte zusammenfaßte? Er sagte: ›Meine Herren! Hosen 'runter, Hosen 'ruff! – Hosen 'rrunter, Hosen 'rruff – Hosen 'rrrunter, Hosen 'rrruff – – un nischt – wie'n Eßlöffel voll Blut – – dat is de Ruhr!‹;«

Tausend solcher Reminiszenzen flocht er in unsere Arbeitsstunden, bei denen er oft selbst las und ich Notizen machte. O du guter alter Rübezahl! Welch ein Opfer an den unbändigen Sohn, der so schwer zum Sprung durch den Reifen zu bewegen war und nur mit der Geduld eines Seehunddresseurs zum öffentlichen Auftreten zu bekommen war.

So wurde denn eine Station nach der anderen glücklich erledigt. In der Anatomie und pathologischen Anatomie bestand ich ohne Anstand, hatte ich doch vier Jahre kaum was anderes getan als präpariert; das Mikroskop war mir geläufig wie mein Cello, und Virchow prüfte mich gar nicht. Dennoch gerieten wir aneinander. Er zeigte mir ein Kehlkopfschleimhautpräparat unterm Mikroskop. Ich glaube noch heute, es war das vom Kehlkopf des Kaisers Friedrich. Als ich es für Karzinom hielt, sagte er: »Seien Sie nicht so leichtfertig. Ich habe zehn Tage daran 'rummikroskopiert, es ist Granulationsgewebe (harmlose Wundwucherung).« Ich suchte meine Diagnose zu begründen. Er wurde barsch und kribblig, die berühmte weiße Nase erschien. »Na, wenn Sie es durchaus besser wissen! Wenn Sie wüßten, was man mit so schnellen Urteilen alles anrichten kann!« In jener Zeit war gerade der Streit Bergmann-Mackenzie. Es handelte sich um eine Staatsangelegenheit, ob der Kaiser zu operieren sei oder nicht. Es war an dem Tage, an welchem die Staatsregierung Bergmanns Manifest herausgab, in welchem er öffentlich das Benehmen Mackenzies mit Schwerthieben geißelte. Er hielt am Nachmittag ein Kolleg ab. Ich war als sein alter Famulus mit im Operationsraum. Er stellte einen Fall vor: »Meine Herren! Ich habe die Ehre, Ihnen einen Kranken vorzustellen, bei dem die Sachlage genau dieselbe ist wie bei unserer bedauernswerterweise in unsachgemäßen Händen befindlichen Majestät, dem Kaiser Friedrich. Alles ist hier genau, nur besser (ein Hieb auf Virchow, von dem er sich nicht scheute, durchblicken zu lassen, er habe aus politischen Gründen fünfe gerade sein lassen und sich um die schwere Diagnose herumgedrückt) untersucht, mein Kollege Fränkel hat laryngoskopisch mit mir zusammen die Diagnose gestellt, das exzidierte Stück hat sich unter dem Mikroskop zweifelsohne als Karzinom erwiesen. Wir werden jetzt die Operation ausführen, welche allein geeignet gewesen wäre, auch S. M. dem Kaiser Thron und Leben zu erhalten, die Herausnahme des kranken, eventuell des ganzen Kehlkopfs! Es ist eine Art historischen Aktes, nämlich der Rechtfertigung der deutschen Wissenschaft, welche ich Ihnen hier zu demonstrieren Gelegenheit habe. So Gott will, nimmt alles den Lauf, wie ich es mit heißem Herzen S. M. zu leisten den Wunsch gehegt habe. Aber die Königliche Staatsregierung, fußend auf der Verblendung eines ausländischen Arztes, ist mir in den Arm gefallen. Wir schreiten zur Operation!«

Dieselbe begann. Sie zog sich recht lange hin. Nicht eine kleine Stelle hinter den Stimmbändern war krank, wie Bergmann und Fränkel diagnostiziert hatten, sondern immer tiefer zeigte sich in dem gespaltenen Kehlkopf eine wulstige, plastische Infiltration. Ja, sie griff über den Kehlkopf hinaus. Die Operateure suchten und suchten die Grenzen. Nach eineinhalb Stunden gab es ein Geflüster und Geraune am Operationstisch. Eine Entspannung trat ein; Bergmann richtete sich auf und sagte: »Meine Herren! Wir haben uns geirrt. Es ist gar kein Karzinom. Es ist eine diffuse Tuberkulose des Kehlkopfs. Ich breche die Operation ab!« Nach zwei Stunden war der Mann tot. – Ich muß sagen, daß mich selten etwas so erschüttert hat. Ich mußte immer denken: so etwas oder Ähnliches hätte nur bei der geplanten Operation des armen Kaisers sich ereignen sollen! Diese dann unausbleibliche ungeheure Aufregung der Öffentlichkeit, diese Angriffe auf die Chirurgie! O menschliche Voraussicht! O ärztliche, apodiktische Sicherheit! Es ist eigentümlich, wie oft sich die ärztliche Kunst blamiert, sowie es sich um königliche Häupter handelt: König Ludwig, Kaiser Friedrich, die Königin von Sachsen, die Königin Draga, die wahrscheinlich eine hysterische Schwangere war, der gelähmte Arm Kaiser Wilhelms! Je bescheidener, ihrer Grenzen sich bewußt, unsere Kunst der Öffentlichkeit gegenüber auftritt, um so sicherer wird sie ihren Ruhm bewahren. – Bei Dubois-Reymond im Examen gab es einen direkten Krach, bei dem mir mein Glücksengelein auf dem Wagenrad beistehen mußte. Ich hatte Nervenphysiologie gezogen und hatte manche Klippe leidlich passiert, als unglücklicherweise der Name Sympathikus fiel. Dubois, ein höchst pathetischer, etwas koketter, phrasenhafter Dogmatiker, den ich nie gehört hatte, fragte: »Was wissen Sie vom Sympathikus?« – »Der Sympathikus ist eine Art Zwischengehirn zwischen Zerebrospinalsystem und Sinnesapparat!« Da fuhr der Olympier hoch, seine Silbermähne durchwühlend, zornsprühend, mit der Zunge schnalzend, wie immer im Pathos, rief er: »Aber aus welchem Wolkenland haben Sie diesen fatamorganatischen Wahnsinn in sich eingesogen?« – »Ich habe es mir so gedacht, Herr Geheimrat!« – »Sie sollen hier nicht denken, Sie sollen etwas wissen! Lassen Sie das!« (Die Zunge knallte zweimal. Die Augen blickten stolz nach oben.) Komisch! Diesen »Unsinn« zum Sinn zu erheben, ist mein Lebenswerk geworden, er ist der Kernpunkt meiner ganzen neuen Psychologie, gilt heute schon Tausenden als eine bahnbrechende Erkenntnis und wird der Schlüssel der kommenden Psychologie sein. Aber der Papst hatte gesprochen und war mir von jetzt ab spinnefeind. Nur ein glücklicher Zufall rettete mich vor dem augenblicklichen Verderben. Als er mich nach der Schnelligkeit der Nervenleitung fragte und ich ihm nicht gleich mit seinen Zahlen kam, geschah das Unglück. Ich sagte: »Wie schnell die Nervenleitung geht, kann man daraus ersehen, daß der Tod vom Gehirn her oft so schnell in die Glieder fährt wie ein Blitz, so daß die Cholerakranken oft in der Stellung tot verharren, die sie eben noch eingenommen haben. Das gibt die berühmte ›Fechterstellung‹; der Choleraleichen!« Da brauste er auf. »Woher haben Sie wieder diesen hanebüchenen Unsinn?« Ich antwortete ganz ruhig: »Von meinem Lehrer Landois in Greifswald!« – »Das ist unmöglich! So etwas hat mein Kollege Landois niemals von sich gegeben!« – »Doch, Herr Geheimrat!« – »Das ist nicht wahr!« fuhr er beleidigend heraus. Jetzt wußte ich, meiner Sache ganz sicher, hatte ich Oberwasser. Ich erhob mich. »Herr Geheimrat! Ich bin Korpsstudent. Ich muß mich zwar examinieren, brauche mich aber auch von Ihnen nicht beleidigen zu lassen! Der Satz steht in Landois' Lehrbuch, ich glaube, auf Seite 216!« – »Es ist gut. Ich gehe, mich gleich zu überzeugen. Wehe Ihnen, wenn es nicht richtig ist!« Ich ließ ihn seelenruhig abziehen. Nach kurzer Zeit kam er wieder. »Ich habe mich geirrt. Es steht da. Sie haben das Examen mit ›Gut‹; bestanden!« Zweimaliger Knall durch den Zaun der Zähne. Tiefe Verbeugung meinerseits.

Vorher hatte sich in diesem denkwürdigen Examen schon ein Intermezzo abgespielt, an dessen Arrangement ich schwer beteiligt, ja, eigentlich der Regisseur war. Mein Freund Roehr und ich sollten beide bei Dubois das Examen machen, hatten ihn aber beide nicht gehört, sondern auf anderen Universitäten Physiologie studiert, was gefährlich war für das Bestehen bei Dubois-Reymond. Es war unerläßlich, einige vierzig hochpathetischer, manchmal sehr geistreicher Schlagsätze des Meisters der Physiologie wortwörtlich herzuleiern, sonst rasselte man. Wir hatten uns ein Exemplar dieser Stilblüten besorgt und saßen nun mit meinem Vater auf meiner Stube, um diesen Katechismus prunkender biologischer Weisheit in uns hineinzutrichtern. Solche Sätze lauteten: »Wenn das rote Blutkörperchen des Menschen die Größe eines Markstückes hätte, so müßte der dazugehörige Mensch den Chimborasso mit dem Scheitel küssen können!« Der Witzbold, der diese Aufzeichnungen gemacht hatte, hatte hinter jeden solchen Satz »Schnalz!« in Klammer geschrieben, denn also endete Dubois alle seine geistigen Feuerwerkskanonenschläge. Oder: »Wenn das Eisen, welches in dem Blute eines jungen Mädchens an das Stroma sklavengefesselt kreist, Form gewinnen würde, so müßte es etwa einer Stricknadel gleichen!« (Schnalz.) Oder: »Hätte der Mensch die proportionale Muskelkraft eines Flohs, so würde er seinen federnden Leib mit einem Satz auf die Spitze des Kölner Doms, ja auf den Montblanc zu schleudern vermögen!« (Schnalz.) Ich schlug mit der Faust auf den Tisch. Mein Vater lachte sich scheckig. »Ich will dir mal was sagen, Roehr, den Quatsch lerne ich auf keinen Fall in vierzig Paradigmen auswendig. Aber ich habe einen Vorschlag. Wir sind doch auch ein paar geistreiche Kerle. Wir wollen uns einen solchen Satz à la Dubois, coûte qui coûte, ausgrübeln und ihm mal was Neues in seinem eigenen Stil entgegenschleudern. Es wäre doch ulkig zu sehen, was er dann macht.« Gesagt, getan. Mit Hilfe von etwa zehn Flaschen Bier war der Satz fertig, und wir verpflichteten uns gegenseitig auf Ehrenwort, morgen beim Examen Dubois unsern stolzen Satz an die Jupiterstirn zu donnern, und wenn uns das Schicksal frikassieren sollte. Wer zuerst daran komme, sei auf Tod und Leben verpflichtet, den Satz anzubringen. Abgemacht. – Roehr hatte vor mir »Muskelphysiologie« gezogen. Aha! dachte ich, das paßt ja famos. Er begann: »Für gewöhnlich spricht man von einer quergestreiften Muskulatur. Sie ist aber auch längsgestreift durch Bindegewebsfasern, Fibrillen. Das sieht man am deutlichsten, wenn sich in der Muskulatur Trichinen befinden sollten, die –« Dubois unterbrach ihn: »Aber das gehört ja absolut nicht hierher – – « – »Einen Augenblick! Herr Geheimrat! Sollten diese Trichinen, wie so oft, verkalkt sein, so liegen sie wie weiße Flöckchen für Jahrzehnte in ihrem kristallenen Grab –« – »Aber, Herr Kandidat! Nochmals: das gehört absolut nicht hierher!« – »Einen Augenblick, Herr Geheimrat!« sagte Roehr äußerst verbindlich, »wenn nun eine solche Kalkdrüse in den salzsäurehaltigen Magen eines lebenden Individuums gelangte, so könnte man denken, daß diese Kalkhülse aufgelöst würde, die Trichine aus ihrem Barbarossaschlafe befreit würde und nunmehr einen neuen fröhlichen Lebenslauf begönne, so daß die Natur vor dem Gedanken einer Menschenfresserei nicht zurückzuschrecken scheint« – – Dubois sah ganz erstaunt auf, erhob sich, machte eine durchaus respektvolle Handgeste und knallte hervor: »Nicht übel! (Schnalz.) Fahren Sie fort!«

Sehr drollig war auch, daß ein anderer Kandidat vor mir, der »Generationswechsel« gezogen hatte, Frosch, Lurche usw. in ihren Metamorphosen schon erledigt hatte, aber sich nicht auf die Larven-, Puppen-, Imagozustände der Schmetterlinge besinnen konnte und festsaß. Dubois wurde unruhig und rief in gewohntem Pathos – ich glaube, er konnte nur festliche Drucksprache reden –: »Ich begreife nicht, daß Sie die Brücke nicht zu schlagen wissen zwischen dem Leben, das Sie umgibt, und der Wissenschaft, der Sie sich gewidmet und geweiht haben! Jeder Knabe spielt mit dem, was ich meine –!!« Der arme Kandidat hatte gar nicht zugehört, es blitzte ihm aber eben irgendeine Erinnerung auf, und er stieß jubelnd hervor: »Der Bandwurm!« Da aber ging Dubois hoch in die Luft. »Aber spielt denn jeder Knabe mit dem Bandwurm?!« rief er im Tone höchster Unwilligkeit und Entrüstung. Wir aber hatten später daraus einen Studentenpfiff geformt mit dem Text:


»der mit dem Band-wurm spie-len-de Kna-be!«

Die übrigen Stationen nahm ich – alles mit Hilfe meines treuen Eckehard – im Fluge, und endlich konnte ich meinem alten Vater meine Approbation in die Hand legen. Sogleich trat ich bei Senator im Augusta-Hospital als Volontär ein und habe hier bei einem Meister der inneren Medizin, einem der besten sicherlich, den Berlin besessen, ernste Studien fast eindreiviertel Jahre im engsten klinischen Dienst verbracht, was auch für meine Durchbildung in der medizinischen Chemie von großem Einfluß für die spätere Zeit gewesen ist. Auch hatte ich während der letzten großen Ferien als Kandidat der Medizin noch im Stettiner Krankenhaus den damaligen Chefarzt, den Nachfolger des »Rauhbeins« Wegner, einen mehr groben, überheblichen, als nachhaltig wirksamen Schüler Virchows und Langenbecks, vertreten, in unmittelbarer Nähe und mit Unterstützung meines Vaters und eines Dr. Boekh. Nun war leider bei Virchow keine reguläre Assistentenstelle frei, und ich entschloß mich, Virchows Angebot, nach Greifswald zu gehen, anzunehmen. Der Chef der dortigen Chirurgischen Klinik, Prof. Helferich, ein relativ noch junger, sehr begabter Chirurg aus Thierschs Schule, hatte um eine »in pathologischen Dingen perfekt ausgebildete Kraft« gebeten für eine Erste-Assistenten-Stelle, und Virchow redete mir zu, sie anzunehmen. Es könne gar nichts schaden, wenn ich, bevor ich zu ihm zurückkäme, erst einmal ein praktisches Fach gründlich durchgearbeitet habe. Das leuchtete mir ein, und so zog ich zum zweiten Male in die Tore des lieben, alten, aber langweiligen Greifswald, um für anderthalb Jahre in den Mauern der alten Chirurgischen Klinik den chirurgischen Drill zu lernen. Helferich, der in seiner akademischen Laufbahn, die zu den höchsten Hoffnungen berechtigte – er war ein Neffe des Historikers Ranke, aber aus sich heraus ein chirurgischer Meister –, ein tragisches Ende nahm, war ein ausgezeichneter Lehrer, und wenn ich mit ihm auch nie persönlich irgendwelche Annäherung gewann, so danke ich ihm doch eine sehr exakte Schulung. Bei ihm war ein mir schon von Berlin her gewonnener lieber Freund, Albert König, der jetzige oberste Medizinalbeamte Frankfurts a.M., der mir bis zum heutigen Tage eng verbunden geblieben ist. Wir beiden verwöhnten Berliner haben es freilich in Greifswald arg getrieben, wozu das Leben im akademischen Klublokal vis-à-vis der Klinik reichlich Gelegenheit gab. Auch meine Attachements mit den Korps – ich habe viel als Paukarzt funktioniert – boten Erholungen aller Art, die leider meist aufs Pokulieren und Kommersieren hinausliefen. Was sollte man auch tun in dem kleinen Nest, die paar Bälle, die vielen musikalischen Soireen, auch die Pension der im Klub lernenden Gutsbesitzertöchter aus der Umgebung füllten unsere freie Zeit doch nicht ganz aus. Freilich war der Dienst schwer und Helferich ein sehr gestrenger Chef. Hier sah ich Grawitz wieder, der hierher berufen war, und habe in seinem Hause schöne Stunden verlebt. Engbefreundet wurde ich mit dem Kurator der Universität, Geheimrat Steinmetz. Die Musik führte mich mit dem hohen Beamten zusammen, um dessen Wohlwollen ich viel beneidet und oft lächerlicherweise um Protektionen aller Art angegangen worden bin. Unsere Freundschaft stand aber ganz jenseits von Karriere und Akademie, uns beide interessierte die Musik viel lebhafter als die Alma mater. Was haben wir zusammen gefiedelt, gesungen, gespielt. In seinem Hause lernte ich Klara Schumann, die Gattin des großen Robert, kennen und – lieben. Wahrlich, eine noch im Greisenstand höchst aimable Frau, für die ich sehr warme Empfindungen hegte. Wie hinreißend wußte sie von dem Genius ihres Mannes zu sprechen. Ich hatte die Freude, mit ihr ihr eigenes Klaviertrio sowie alle drei Trios Robert Schumanns des öfteren zu spielen. Steinmetz sang bewundernswert mit einer noch sehr schönen Tenorstimme alle Lieder des größten unsterblichen Romantikers der Musik.

Hier bei Steinmetz lernte ich auch Althoff, den mächtigen Medizinminister, den Tyrannen der Universitäten, kennen und habe so lange eines Nachts mit ihm und Steinmetz gekneipt, bis wir alle Schmollis tranken und er mir schon für die nächste Woche Bergmanns Stelle und alle übrigen chirurgischen Residenzen anbot. Merkwürdig, daß er sich später dieser Versprechungen nie mehr erinnert hat. Ich mochte ihn auch nicht daran mahnen. Es verlohnte sich einmal, über meine Beziehungen zu Althoff eine Skizze zu schreiben. Er war ein höchst interessanter, in gewissem Sinne sehr gefährlicher Mensch, von einem psychologischen Blick, der an Genie grenzte.

Unsere Arbeit in Greifswald war enorm anstrengend, zu eigenen Studien blieb wenig Zeit. Immerhin habe ich hier einige Experimentalarbeiten gemacht, die nicht ohne Resultat waren, so über den Einfluß des Jods auf die Wund- und Knochenheilung und über den Blutschorf, über welche ich auf den verschiedenen Chirurgenkongressen berichtet habe. Auch habe ich hier meine Doktorarbeit gefertigt: über Knochenaneurysma. In meinen Thesen zur Doktordissertation steht eine merkwürdigerweise nie gewürdigte neue Entdeckung, nämlich die, daß man, wenn jemand den Rücken eines Patienten beklopft, den Anprallstoß einer verdichteten Lunge deutlich von dem einer lufthaltigen unterscheiden kann, wenn man den betreffenden Patienten vorn bei ausgestreckten Armen, leicht pendelnd, festhält. Mir tut die Methode bei Untersuchung Tuberkulöser noch heute gute Dienste.

Ich schied von Helferich (nicht in Frieden!), als bei Virchow eine Stelle frei wurde, weil der jüngste Assistent, von Hansemann, so hieß es, unheilbar erkrankt sei. Ich wurde als stellvertretender Assistent eingestellt, aber siehe da! Nach einigen Monaten erholte sich Hansemann und ist erst September 1920 verschieden.

Nun saß ich da, ohne Plan, ohne Stellung. Bei meiner Ausbildung praktischer Arzt werden, in Vaters warmes Nest zurückkriechen?! Das lag mir nicht. Von einem Tage zum andern entschloß ich mich, der pathologischen Anatomie und der akademischen Laufbahn, die immer meine Sehnsucht gewesen war, Valet zu sagen. Die akademische Laufbahn war mir, weiß Gott! durch tiefe Einblicke in ihre Bedingungen, reichlich vergällt worden; ich pfiff also auf Professorentum und die höchste Ehre, einmal den violetten Samt eines Rektors der Alma mater zu Dingsda schleppen zu können, und bewarb mich zur Ausfüllung einer letzten Lücke um eine Volontär-Assistenten-Stelle bei Olshausen in der Universitäts-Frauenklinik. Virchow ging persönlich zu Olshausen, und so bekam ich sie unter dreihundert Bewerbern.

Schon während ich hier den klinischen Vervielfältigungsprozeß von Grund aus studierte, bereitete ich die Eröffnung einer eigenen privaten chirurgischen Anstalt in der unteren Friedrichstraße vor, wozu mein Vater mir die nicht unerheblichen Summen unter der Bedingung vorstreckte, sie mit allen übrigen schon verbrauchten Studiengeldern einmal ihm bzw. den Geschwistern wieder zurückzuerstatten, wozu ich erst im Jahre 1907 in der Lage war. Bei meiner völlig unkapitalistisch orientierten Seele ist es mir wie ein Wunder, daß das überhaupt möglich geworden ist.


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