Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Erinnerungen an Rudolf Virchow

Das war ein merkwürdiger Klimawechsel, der sich in der altehrwürdigen Chirurgischen Klinik in der Ziegelstraße vollzog, als Bernhard von Langenbeck, dessen letzter Famulus ich gewesen war, und unter dem ich unzählige Narkosen zu vollziehen und damit tiefe Blicke in den früheren Mißbrauch des Chloroforms zu tun die erste Gelegenheit hatte, die Stätte seiner bahnbrechenden chirurgischen Kunst verließ und dem soviel jüngeren Genius Ernst von Bergmanns den Platz räumte.

Alte und neue Welt, Mittelalter und Neuzeit, wie oft verschmelzt ihr ineinander, wenn man alt genug wird, um von euch zu erfahren, daß jede Periode der Erkenntnis und des Könnens immer zugleich alt und zugleich jung ist und immer in der Mitte zwischen einer sogenannten abgetanen und sogenannten kommenden Zeit steht! Es ist Sache der Phantasie, sich bei jedem Fortschritt diese doppelte Beziehung zum Aufstieg aus der Vergangenheit und zu dem sicheren Überholtwerden durch die Zukunft recht klar zu machen. Bergmann kam wie ein diktatorischer Sieger und sah fast höhnend auf die freilich noch wenig antiseptischen Methoden von Langenbecks herab, und heute, kaum vierzig Jahre später, sehen wir schon deutlich, daß seine, von Bergmanns, Leistungen sowohl dem technischen Erfindungsgeist Langenbecks als dem des universell vorstürmenden Reformators August Bier, seines Nachfolgers, erheblich unterlegen sind.

Nachdem ich etwa noch drei Vierteljahre, Sommer und Herbst 1883, bei von Bergmann in der Chirurgischen Klinik verweilte, hörte ich, daß im Pathologischen Institut der Charité zwei ähnliche Stellungen frei seien; so traten mein Freund Hermann Bindemann und ich auf Fürsprache meines immer für mich auf der Lynkeuswarte spähenden guten Vaters ein bei einem Mann von ungeheurem Namen in der Medizin, der über das Gebiet seines engeren Berufes weit hinwegragte an allgemeiner Bedeutung für die Lehre vom Menschen, ja vom Leben und seiner politischen Betätigung durch Völker und Individuen, Rudolf Virchow.

Als ich mich bei von Bergmann verabschiedete, entließ er mich mit den Worten: »Nun, junger Mann, jetzt kommen Sie in die erste und hervorragendste Schule, welche die Welt hat. Benutzen Sie das, und wir sehen uns sicher wieder!« Wie sich das Wiedersehen gestaltete, wird an anderer Stelle ausführlich zu schildern sein. Solch ein in diktatorisch scharfem, baltischem Dialekt vorgetragener, tief respektvoller Hinweis auf den großen Mann, sein Weltruf und ein allgemeines Tuscheln und Zischeln von der strengen und sarkastischen Schärfe dieses Schöpfers und Begründers einer absolut neuen medizinischen Denkform ließen uns beide Novizen vom Herzen bis in die Knie erschauern, als wir in Frack und weißer Binde nebst Handschuhen und Zylinderhut vor dem hochberühmten Gelehrten standen. Bindemanns köstlicher Humor, den ich von dem Stralsunder Gymnasium her allen Lebenslagen gewachsen wußte, half auch hier über eine gewisse Peinlichkeit hinweg. Noch vor der Tür zum Allerheiligsten flüsterte er mir zu: »Ik glöw ja nich, dat son Mann 'n richtigen Pommer is; is hei't äwer doch, denn nachher segg ick einfach: Gudd'n Dag, min Jung! Dat ward hei likers verstahn!« Die Tür ging auf, Oberwärter Hübner, Virchows alleinherrschendes Faktotum, winkte uns »Medizinlehrlinge«, wie er alle Kandidaten nannte, hinein, und wir standen vor dem Allmächtigen, einem kleinen, gelbhäutigen, eulengesichtigen, bebrillten Manne mit dem eigentümlich stechenden und doch leicht verschleierten Auge, an dem die Armut von Wimpern auffiel. Die Augenlider waren papierdünn, wie pergamenten. Sehr fein geschnitten war die Nase, die den Stolz ihres Trägers in zwei sehr graziös geschweiften Nüstern, die leicht beim Sprechen wie halb hohnvoll zitterten, bekundeten. Schmale, blutlose Lippen, nicht allzu üppiger grauer Vollbart. Er zehrte gerade an einer belegten Berliner Schrippe. Neben dem Teller stand eine kleine Weiße. Das war das einzige Frühstück, welches dieser Heros des Beobachtens und Registrierens nach dem Morgenimbiß bis in die späten Nachmittagstunden trotz Kollegabhaltens, Empfängen, Examen, Sektionsprotokollen, anthropologischen Messungen, Parlamentssitzungen usw. einnahm. Seine Gattin, welche in Bewegungen, Sprache, langsam und still aneinandergereihten Worten und Manieren völlig den Rhythmus des Gatten übernommen hatte und ganz im Banne seiner Bedeutung stand, hat mir später selbst erzählt, daß Virchow fast regelmäßig dazu noch bis 1 Uhr nachts und länger zu Hause arbeitete und spätestens um 6 Uhr aufstünde. Trotzdem hat er während der sechs Semester, welche ich seinem Institut angehörte, außer Ferien- oder wissenschaftlichen Reisetagen nicht einmal gefehlt, was ich von meiner freilich amüsierlicheren Gehilfen- und Kandidatentätigkeit nicht behaupten kann. Genug, nun standen wir vor ihm, und als er ernst auf uns zukam, uns eine etwas kühle Hand reichte, die Brille auf die Stirnhöcker schob und uns ganz nahebei visitierte, da flüsterte Bindemann, dem sein: »Min Jung« doch wohl im Halse steckenblieb, scheinbar unhörbar: »So geit dat doch nich!« Sofort fragte Virchow: »Meinten die Herren etwas?« Ich tat einen Atemzug und stammelte einiges von Dank und Freude über den Eintritt in die neue Tätigkeit. Huldvolle Überweisung in die Arbeitsräume.

Nun saßen wir beide im großen Mikroskopiersaal an angewiesenen Plätzen, jeder vor einem eigenen Mikroskop, als Beaufsichtiger der Arbeiten der Studierenden. Wir hatten selbst gar wenig Übung in der Handhabung des verlängerten Auges und waren durchaus angewiesen auf die studentenfreien Nachmittagsstunden, um Vorsprung vor den gleichfalls Lernenden zu erhalten. Ich muß sagen, daß mich Virchow darin wahrhaft rührend unterstützte. Wie oft kam er plötzlich in den Saal, wenn Assistenten und Personal längst das Institut verlassen hatten, und fragte freundlich, was ich da tue! Dabei erwischte er mich einmal auf einer groben Unwissenheit, welche zu denjenigen Blamagen führte, über welche der Mensch später in stillen Morgenstunden einsam im Bette zeitlebens erröten kann, trotzdem es niemand sieht und weiß.

Ich hatte Trichinenfleisch vor mir. Und Virchow fragte mich: »Haben Sie schon welche gesehen?« – »Ja, im Mikroskop!« sagte ich stolz. »Nein, ich meine mit bloßen Augen!« Ich lachte höchst belustigt und hellauf; denn ich dachte, Virchow wolle mich, den Neuling, uzen. Da sprach er mit ganz strengem Blick: »Sie müssen sich dies Lachen dem Ihnen Neuen gegenüber gänzlich abgewöhnen, es ist das Dümmste, was man machen kann!« Und nun zeigte er mir, daß man in der Tat die Trichinen bei seitlicher Beleuchtung, falls sie in verkalkter Hülle liegen, als weiße feine Pünktchen im Muskelfleisch mit bloßem Auge deutlich erkennen kann. Es ist dann meine Spezialität geworden, bei Obduktionen nach dem Zufallsbefund von Trichinen in den Hals- und Rückenmuskeln zu fahnden, und ich habe dabei statistisch festgestellt, daß unter 100 Leichen 20-30 einige verkalkte Trichinen bei sich haben, ohne je direkt an Trichinose erkrankt gewesen zu sein. Sehr wohl und ungezwungen kann aber mancher Muskelrheumatismus und mancher Hexenschuß (mit leichtem Fieber) auf eine relativ spärliche Einwanderung von Trichinen vom Darm her bezogen werden. Einige Trichinen erwischt vielleicht jeder. Das mit dem Lachen vor den Toren des Unbekannten habe ich mir aber gründlichst hinter die Ohren geschrieben und bin mit diesem Vermächtnis meines großen Lehrers allen Lebensneuheiten gegenüber sehr gut gefahren.

Man muß äußerst tolerant und vorsichtig sein auch dem scheinbar belachenswertesten Neuen gegenüber. Freilich war ich Zeuge, als es einst Virchow selbst passierte, daß er diese Vorsicht des »Erst Prüfens, dann Lachens« außer acht ließ, gelegentlich des ersten Anblicks der Kochschen Cholerabazillen unter dem Mikroskop. Er lachte auch und meinte: »Es ist unmöglich, solche bunten Kommachen machen keine Seuche. Pettenkofer hat eine ganze Bakterienkultur als Brühe geschluckt und hat nicht einmal Diarrhöe bekommen!« Und doch wäre man jetzt ein arger Ketzer, wenn man die Allmacht der spezifischen Bakterien anzuzweifeln wagte. Freilich hätte Virchow doch im Grunde recht behalten können, wenn er seine Forschungen darauf gerichtet hätte, die alle Bakterien zur Ansiedlung befähigenden Vorbedingungen genau zu erkennen. Die meist immer noch nebelhafte »Disposition« – ja da steckt doch wohl das eigentliche Problem der Bakteriologie, welche sich eine Zeitlang so hoch und kühn über Virchows Schulter emporgeschwungen zu haben glaubte.

Jedoch zurück zu den Erlebnissen! Täglich war ich bei Sektionen, Schädelmessungen, Examensabhaltungen, kniffligen mikroskopischen Studien zugegen, auch mußte ich oft Protokoll führen bei wissenschaftlichen Gutachten Virchows, die von ihm, als höchster Instanz, nicht selten gefordert wurden. Dabei passierte es mir oft, daß ich technische Ausdrücke nicht kannte. So z.B. begann sein berühmt gewordenes Gutachten im Szegediner Ritualmordprozeß mit dem diktierten Worte: »Denata«. Ich sah ihn überrascht und fragend an; er durchschaute mich sofort und sagte: »Das heißt: die Verschiedene, natus = geboren, denatus – ja, wie soll man sagen? – abgeboren, verstorben!« Überhaupt war in ihm eine heftige philologische Leidenschaft, was seine starke Neigung zu sprachlichen Spitzfindigkeiten verriet. Seine scharfen Unterscheidungen zwischen Synonymen, wie »hypertrophisch« und »hyperplastisch«, Ex- und Transsudat usw. usw., mußten uns absolut geläufig sein, sonst kam sein Hohn und seine weiße Nase, die auch chamäleontisch erblaßte, wenn jemand mit ihm stritt, ja, auch wenn ein leidlich geistreicher Gedanke außerhalb des Bannkreises Virchowscher Wissenshorizonte von jemand anderem aufblitzte. Sein Aufsatz »Über Barbarismen in der Medizin« allein beweist, wie peinlich scharf er Sprachwurzeln nachspürte und bis in den Tod Verbindungen von lateinischen mit griechischen Lehnsgliedern haßte. Auch falsche Adjektivbildungen waren ihm schwer zuwider. (Peripherisch und peripher, Diphtherie und Diphtheritis.) Dann konnte er ungemein heftig werden. Ich war Zeuge und Protokollant, als er einen Unglückswurm von Examenskandidaten bei solchen kriminellen Entgleisungen unterbrach mit den Worten: »Halten Sie ein! – Wem sehen Sie ähnlicher, Ihrer Mutter oder Ihrem Vater?« Verblüfft stotterte der Kandidat: »Ich glaube meiner Mama!« Darauf Virchow zu unserem Entsetzen: »Die arme Frau!« Als Selbstsühne ließ er den mäßig Vorbereiteten durch das Examen, der seinerseits wohl vor Freude über sein kaum erhofftes Glück Ähnlichkeiten Ähnlichkeiten und tödliche Kränkungen kleine Scherze sein ließ. Einmal aber irrte sich der große Wortanalytiker sehr verblüffend. Er ließ einen älteren Arzt durch das Kreisphysikusexamen fallen, weil er nicht wußte, woher das Wort »Serum« (in Blutserum) komme. Bei einem Fakultätsdiner von von Bardeleben interpelliert, wie er seinen Neffen deshalb »rasseln« lassen könne, nannte Virchow obigen Grund. Worauf Rundfrage am Tisch. Keiner der anwesenden Koryphäen wußte die Ableitung des Wortes. Worauf Virchow überlegen lächelnd erklärte: »Das kommt von Serus, a, um – klar!« Inzwischen war der sogenannte Knochen-Wegner, sein erster Assistent, ein derber Grobian, an das Konversationslexikon gegangen, kam zurück und sagte scharf: »Das ist falsch. Serum ist griechischen Ursprungs und kommt von to serron = die Blutflüssigkeit!« Staunen – und Virchow saß selbst in der philologischen Mausefalle, ließ den Kandidaten noch einmal kommen, zerriß sein Dokument, prüfte von neuem und schrieb hin: »Mit I bestanden. Virchow!«

Wie genau erinnere ich mich einer wundersamen Szene im Mikroskopiersaal! Alles war zu Tisch gegangen, nur drei japanische und ein chinesischer Arzt, die sehr gut Deutsch konnten, waren zugegen. Virchow hatte sein neben dem Saal liegendes Arbeitszimmer, in dem etwa 30 der seltensten Skelette, Ausgrabungen aller Menschenmöglichkeiten, eine schaurige Garde bildeten, nach Diktator Hübners Aussage schon lange verlassen, um im Parlament zu reden, und ich begann den Herren des Ostens über Wagners Musik einen belehrenden Vortrag zu halten mit Demonstrationen, d. h. ich sang mit meiner nicht üblen Tenorstimme (man vergleiche meine Bühnenerlebnisse in Zürich und Mailand) Stellen aus »Lohengrin«, »Tristan« usw. Als ich dann die Stolzing-Arie aus den »Meistersingern« begonnen hatte – ich sehe noch die staunenden gelben Gesichter der asiatischen Kollegen vor mir –, öffnete sich die Virchowtür, und er selbst, der Chef, trat ein mit ungeheuer ernstem und neugierigem Blick. »Ich habe eigentlich gemeint, diese Stätte, die dem Tode und dem wissenschaftlichen Ernst gehört, sei kein Raum für Bühnenreminiszenzen.« Als ich, mich freiwillig denunzierend, ihm entgegentrat, sagte er: »Ich weiß schon! Wir haben nur den einen Johann, den munteren Seifensieder! – Aber machen Sie das künftig lieber auf der Kegelbahn!« Längst waren die Söhne des Ostens hinter die Mikroskope geflohen, und ich stand wie ein begossener Pudel. »Johann, der muntere Seifensieder!« Hätte Virchow ahnen können, daß ich der Erfinder der Marmorseife wurde, die er in späteren Jahren noch sogar selbst benutzt hat! Vielleicht ein Fall von Verbalsuggestion, der mich eventuell noch das Leben kosten kann; denn ich habe geschworen, mich aufzuhängen im Kleiderschrank meiner Frau, wenn ich durch die Seife ein berühmter Mann werden sollte! Nach Sternen vergeblich langen und durch Seifensiedertum glänzen – nein, das geht doch nicht, wenn's auch ein Virchow so ansah. Eine andere Humorszene leistete sich Freund Bindemann, das prächtige Heimatoriginal. Wir wollten einem Kaninchen irgendeine Injektion unter die Haut applizieren und hatten zu diesem Zwecke das Kaninchen sehr ungeschickt auf den Operationsblock gebunden – aus Mangel an Übung. Darüber zu kam Virchow und sagte ärgerlich: »Aber so quälen Sie ja das Tier! Geben Sie her, ich werde Ihnen das zeigen!« Bindemann band das niedliche Tierchen ab, nahm es unter die Achseln wie eine Puppe, reichte es so baumelnd dem Meister und sagte ganz zärtlich: »Na, dann geh du mal zu dem Onkel!«, was der Gestrenge gnädig überhörte. Ich muß gestehen, es war leider das einzige Mal, wo mir einer meiner vielen Lehrer einen tiefen, nachhaltigen Eindruck von Mitleid mit der Kreatur, von der Idee der Schonung, von dem Einfühlen in das Leid beigebracht hatte! Wie geschickt zeigte er uns die erforderlichen Handgriffe. Seine Art zu sezieren war von höchster Meisterschaft, schon rein technisch. Ich habe ihn einmal im Frack eine Obduktion ausführen sehen. Kein Fleckchen, kein Spritzerchen auf den Manschetten. Nichts entging seinem einzigartigen Scharfblick und der Schlußkraft seiner Kombination. Einmal standen seine höchst gelehrten Assistenten Jürgens, der elegante und geniale Bonvivant und Ganglienforscher, Grawitz, der Prophet der schlummernden Zellen, ein Mann von wahrscheinlich einst allergrößter Bedeutung, Israël, der ehrgeizige Zynikus, und natürlich wir Duodezanatomen ratlos vor einer nach allen Regeln der Kunst obduzierten Leiche, und keiner wußte die Ursache des Todes aufzudecken. Einer von uns Zauberlehrlingen mußte den Herrn und Meister holen, und siehe! Die Brille hochgeschoben, alle Organe durchschaut, ein Schnitt ins Becken, und dann sagte er lächelnd: »Meine Herren, Sie haben den Plexus vesicalis nicht freigelegt. Hier die Thrombose von einem kleinen Blasengeschwür und hier der kleine embolische Pfropf in der Arteria coronaria des Herzens. Genügt Ihnen das? Daran stirbt man eben!«

Wahrlich, ein Adlerauge war sein, das tiefste Blicke tun konnte in die verstecktesten Zusammenhänge des kranken Lebens, auf die grauen Schrittspuren des Todes und der Krankheit, über die Blumenfelder und Wiesen des blühenden Lebens, und es ist wohl recht, daß man ihm ein Denkmal gesetzt hat, auf dem er einen symbolischen Ringkampf mit dem Ungeheuer der Schmerzen auf sich nimmt! Wahrlich, er hat die unerhörteste Menschenarbeit eines ruhelosen Lebens darangesetzt, dem Unhold der Krankheit bis in alle Winkel nachzuspüren, und es wird sein ewiges Werk sein, was er geleistet, indem er die letzten Verstecke in den Mosaikgrotten des Organismus, den Zellen, aufspürte, an denen die vielfingerige Krallenhand der gestörten Lebensbedingungen einsetzt. Er hat eben alle Gewebe auf alle von ihm allein geschaffenen Krankheitssymptome in einem ungeheuren System von der Entzündung bis zur Geschwulstlehre durchstöbert. Ein Riesenwerk! Freilich, allein gehört ihm der Ruhm des ursprünglichen Gedankens nicht, wenn auch die Ausführung allein ihm, Rudolf Virchow, dem Schivelbeiner, gelang. Erstens hat er unbegreiflicherweise den alten Kölliker in Würzburg mit ganz ähnlichen Gedanken über die Zellenlehre, wie Virchow sie selbst später proklamierte, jahrelang bekämpft (so erzählt Kölliker in seiner Selbstbiographie), und zweitens war ein junges, mit 27 Jahren verschiedenes Genie, Karl Reinhard, laut Zeugenschaft meines Vaters, der mit beiden intim verkehrte, der Urheber des genialen Gedankens, die Schwannsche Zellenlehre für die Pflanzen auf die menschliche Organisation zu übertragen. So ist die erste Arbeit über die Zellen in »Virchows Archiv« nicht von ihm, sondern eben von Karl Reinhard, während Virchow in den ersten Bänden nur Aufsätze über allgemeine Fragen, wie: »Autoritäten und Schulen«, »Hungertyphus«, »Seuchen« usw., publizierte. Ja, in dem VI. Bande dieses »Archivs« kann man nicht nur zwischen den Zeilen der Virchowschen Rede am Grabe Karl Reinhards lesen, daß dieser früh dahingeraffte, ungewöhnliche Mensch die überaus fruchtbare Divination gehabt hat, eine zellulare Pathologie, die Virchow allerdings mit unerhörter Konsequenz durchgeführt hat, zu schaffen, ja, Virchow hat dies auch direkt bekundet. War der Gedanke auch nicht ganz sein, die Tat gehörte ihm allein.

Übrigens will ich beiläufig erwähnen, daß die Vorrede zu Virchows Standardwerk »Die Zellularpathologie« in dem Dorado meiner Jugend, in dem Ostseebad Misdroy, das meine Freunde mit der Insel Wollin aus meinem Märchenbuche »Es läuten die Glocken« kennen, an Ort und Stelle von Virchow verfaßt und unterzeichnet ist.

Es ist mir nicht möglich, alles zu beschreiben, was ich von Virchow weiß, und was ich mit ihm resp. in seinem Lichtkreis erleben durfte, davon könnte ich ein ganzes Buch schreiben, denn der Mann lebt in meinem Herzen. Ich muß es mir versagen, die herrlich lehrreichen Fahrten mit ihm zu den Araukanern, Mikrozephalen, Riesen, Monstren aller Art des Panoptikums, des Zoologischen Gartens, des Aquariums zu schildern; von vielen weiß ich sehr ergötzliche Geschichten zu berichten, auch kann ich weder bei den Ausgrabungen auf Wollin, noch bei der Exhumierung eines Negers, der ein halbes Jahr schon in meiner Heimaterde bei Stettin den Todesschlaf schlief, verweilen, auch kann ich nicht von den tausenden und aber tausenden Schädelmessungen Virchows berichten nebst ihren manchmal drolligen Begleiterscheinungen. Auch widerstrebt es mir, an dieser Stelle die Begebenheiten in Virchows Hause bei Bällen und anderen festlichen Gelegenheiten zu schildern. Ich will nur noch einige Gespräche mitteilen, welche zwischen uns ausgeführt wurden auf solchen Ausflügen zu Studienzwecken, bei denen ich das hohe (mein Vater sagte immer das »unverschämte«) Glück hatte, Virchow allein zu begleiten, weil sie etwas von der Weltanschauung dieses hochbedeutenden, aber doch ein wenig einseitigen Forschers bekunden. Es soll gleich gesagt sein: Virchow war ganz krasser Mechanist und Materialist und wollte die Gesamterscheinungen des Lebens aus dem Mechanismus der Zellen erklärt wissen.

So kamen wir einst von der Sektion eines jung verstorbenen Mädchens aus dem der Charité nicht fernen Augustahospital. Das Gespräch begann mit einigen despektierlichen Bemerkungen über die Kaiserin Augusta: »Wie er (Wilhelm I.) seine Soldaten hat, so hat sie eben ihre Spitäler! Die Leutchen müssen sich doch auch beschäftigen.«

Dabei kamen wir auf Glaubensdinge zu sprechen. Ich äußerte einige Bedenken über die Entstehung der Welt aus Zufall. Ich erinnere mich genau, den Zufall einen Clown der Möglichkeiten genannt zu haben, von dem es doch wohl unbegreifbar sei, daß er die eisernen Gesetze der Natur geschaffen. »Nun«, sagte der Meister, »in Ihnen ist auch noch solche Art von dichterischem Verleimungszustand (er sagte kolliquativem) des Gehirns vorhanden. Sie haften auch noch, wie wir alle als Kinder, an allerlei theistischen oder pantheistischen Märchen!« – »Aber meinen Herr Geheimrat wirklich, daß auch z. B. ein Goethe solchen Verleimungszustand in einem sonst doch tadellosen Gehirn gehabt hat?« – »Natürlich ist dichterische Betrachtung der Welt etwas ganz anderes wie naturwissenschaftliche. Seine Unzugänglichkeit exakten Denkens zeigt sich deutlich in der Farbenlehre. Die ist wirklich kolliquativ.« Ach, hätte ich ihm damals doch das sagen können, was ich heute davon weiß! (Siehe das Kapitel dieser Erinnerungen, welches Strindbergs Namen trägt.)

Dann sagte Virchow: »Sie können es ja seitenweise bei mir lesen, wie ich zu allem Transzendenten und Metaphysischen stehe. Hier hört buchstäblich mein Interesse auf!« – »Ja«, warf ich ein, »es ist nur merkwürdig, daß für so viele Leute gerade da das Interesse beginnt, z. B. in der Frage nach Gott!«

»Aber«, rief er, »lassen Sie doch alle die theologischen Mätzchen aus dem Spiel. Lesen Sie bei Kant, was er von den sogenannten Beweisen für das Dasein Gottes gedacht hat!« – »Aber man befindet sich doch mit dem Gottesglauben in einer sehr guten Gesellschaft. Ich kenne keinen ganz überragenden bedeutenden Menschen, der nicht an so etwas wie Gott oder Geist der Natur geglaubt hat!« sagte ich etwas unvorsichtig. Virchow blieb stehen und fragte ganz naiv: »Halten Sie mich nicht für bedeutend?« – »Natürlich!« stammelte ich. »Na also!« war die Antwort.

Ein andermal kamen wir auf solchem Gange auf den Darwinismus zu sprechen. Virchow sagte: »Ich glaube nicht an diese Dinge. Wenn ich auf meinem Sofa liege und die Möglichkeiten von mir blase, wie andere den Dampf ihrer Zigarre, so kann ich solchen Träumereien wohl folgen. Aber dem Wissen hält das nicht stand. Häckel ist ein Narr. Das wird sich schon noch herausstellen. Wenn übrigens so etwas wie Transmutation vorkäme, so könnte es nur auf dem Wege pathologischer Entartung geschehen!« – »Das heißt«, sagte ich sehr naseweis, »Darwin hätte in Berlin pathologische Anatomie studieren sollen!« Er schwieg vernichtend. Jürgens, dem ich von diesem Gespräch berichtete, meinte: »Das dürfen Sie nicht tun, das vergißt Ihnen Virchow nie!«

Ich kann es nicht glauben. Er war eigentlich immer freundlich zu mir, bis auf einmal; als ich viele Jahre später unter seinem Vorsitz eine Reihe von Geschwülsten demonstrierte, welche ich ohne Narkose mit meiner Infiltrationsanästhesie schmerzlos entfernt hatte, da sagte er: »Das haben Sie alles mit Einspritzungen gemacht? Das glaube ich Ihnen nicht!« Darauf lud ich ihn mit folgenden Worten ein: »Herr Geheimrat! Meine Unterrichtsstunden sind von 10-12 vormittags!« Nun, wenn meine Fachkollegen mich wegen dieser Segenstat aus dem Saale wiesen, so hätte ich es nicht als Kränkung zu empfinden brauchen, wenn Rudolf Virchow, ein Anatom, diese Dinge gröblich verkannte.

Übrigens wußte er sonst gerade in chirurgischen Dingen außerordentlich Bescheid. Mein Freund Langerhans, dessen Kinder ich schon früher glücklich operiert hatte, Virchows Patenkind, ließ mich rufen, als ich schon Chirurg war. Er hatte nach einer Verwundung bei einer Sektion unzweifelhaft Wundstarrkrampfanfälle. Virchow kam herbei und fragte, was ich zu tun gedenke. Ich entwickelte meinen Plan. »Seien Sie mir nicht böse!« sagte er im Nebenzimmer sehr freundlich, »wollen Sie eine so verzweifelte Sache nicht lieber einem älteren Chirurgen überweisen, z. B. von Bergmann bitten, daß er hier beisteht?« – »Aber natürlich!« sagte ich und eilte spornstreichs hinweg, fand Bergmann nicht, aber Sonnenburg, der sofort kam und Virchow genehm war. Er operierte (zu meiner Genugtuung genau in der geplanten Schnittführung), Virchow warf mir einen billigenden Blick zu; ich leitete die Narkose, und hier bewährte Virchow sich als ein Kenner sehr feiner chirurgischer Maximen. Es ist eine Regel, die noch nicht einmal alle Chirurgen kennen, daß nur beim Tetanusanfall die Narkose trotz anscheinender Erstickungsgefahr auf das energischste in alle Tiefe erzwungen werden muß, wegen des zu überwindenden Stimmbandmuskelkrampfes. Der arme Langerhans bekam während der Operation einen neuen Tetanuskrampf, ich goß Massen von Chloroform auf die Maske, sah Virchow an, und er nickte: »Ja, ja, nur immerzu, trotzdem er ganz blau ist!« Das hat mir sehr imponiert.

Ich danke Virchow unendlich viel. Bergmann hatte wohl recht, als er mich beglückwünschte zu dem Segen solcher Schule. Virchow war ausschließlich Naturwissenschaftler, und es rächt sich wohl bei vielen Geistesheroen, daß ihnen die Basis gleichsam der mikroskopischen Anschauung bei ihren unausbleiblichen Gedankenexkursen in das biologische Gebiet fehlt. In Virchows Schulung habe ich die ersten Schritte getan zu einer ganz vom Überlieferten abweichenden Vorstellung über das Nervenleben und die Funktion der Neuroglia, was gerade in Virchows Augen, der die Neuroglia für ein einfaches Stütz- und Rankengewebe aus Bindesubstanz erklärt hatte, ein an Tempelschändung grenzendes Vergehen gewesen wäre. Unter Professor Jürgens habe ich Tausende von Serienschnitten durch das Gehirn machen und durchmustern müssen, und mir ging damals schon der Gedanke von der Hemmungstätigkeit dieses eigentümlichen Gewebes auf. Aber Virchow hätte mich als einen Junker Naseweis gewiß unliebsam angelassen. Das geschah mir auch mit einer Anregung, die mich leicht zu einer medizinischen Berühmtheit in jungen Jahren hätte machen können. Mir war es, angesichts sehr schwerer tödlicher Entbindungserfahrungen im Gynäkologischen Institut Gusserows aufgefallen, daß niemand bei schwerer Geburt wegen Beckenenge gewagt hatte, die Symphyse, d. i. den vorderen Beckenknorpel, unter der Haut mit einem gekrümmten Messer zu durchschneiden. Als ich ganz naiv das einmal im Kreise der Assistenten fragend erwähnte, entstand allgemeines Verblüffen und dann Gelächter, als Bindemann höhnend sagte: »Operier du man den Düwel noch'n Schwanz af!« Und Freund Prowe, wohl der bedeutendste unter uns allen (er starb früh in Südamerika), meinte: »Frag mal Virchow!« Getan wie gedacht. Aber auch Virchow meinte abwehrend: »Nun, und dann sechs Wochen nach dem Schnitt? Dann bricht Ihnen die Frau hinten im Kreuz zusammen!« Viel Spott und Hohn ließen die Sache einschlafen. Aber viele Jahre später machte von Frankreich her die Symphyseotomie den Siegeslauf durch die Welt und gilt noch heute für eine Großtat. Von Bindemann besitze ich noch eine Karte, in der er schreibt: Symphyseotomie (s. Paris. Journal médical 1896, Nr. 12). »Also doch, min Jung. Gratuliere!« Ebenso schrieb mir Prowe, wie schade das sei, daß ich die Sache nicht gegen alle verfochten hätte. Nun, später habe ich das bei anderen Gelegenheiten mannhaft getan, aber mit noch viel deprimierenderem Erfolge.

Virchows Einfluß verdanke ich unbedingt meine besondere Stellung zur Geschwulstlehre, und zwar aus folgenden Gründen: Neben mir im Mikroskopiersaal saß der Japaner A..., welcher sämtliche dem Institut eingesandte Krebsfälle überwiesen bekam, das bedeutete die Überlassung fast sämtlicher in Berlin operierter Krebsgeschwülste. Ein herrliches Material, das ich in Tausenden von A... gefertigten Schnitten gewissermaßen gratis zu studieren bekam. Nach zwei Jahren fragte Virchow: »Nun, Herr Dr. A..., haben Sie etwas gefunden?« Echt japanisch sagte dieser mit einem devoten Knicks: »Hai, o gar nix, Herr Keheimratt.« Ich aber folgte Virchow und entwickelte ihm meine gewonnene Überzeugung, daß der Krebs eine Folge einer Bastardehe zwischen den Zellen sei, also eine Art Zellinzestes, einer anarchistischen Zellenunzucht; das Produkt dieser pathologischen Zeugung und Befruchtung sei eine Art fragmentarischen Embryos, eine unvollkommene, nicht voll lebensfähige partielle Kindklumpenbildung an falscher Stelle. Er sei ein Produkt krankhafter Zellzeugung, wie das normale Kind an rechter Stelle das Produkt physiologischer Zellzeugung sei. Virchow sah mich groß an und sagte: »Das haben wir alle einmal gedacht!« Ich habe bis auf den heutigen Tag nirgends gefunden, wo diese »alle« ihr Denkmaterial niedergelegt haben. Darum habe ich diese Theorie 1889 veröffentlicht. Sie steht noch heute unerschüttert da, und Czerny, Miculicz, Angerer und Sänger haben sie gelehrt.

Nun ist er lange dahin. Er, der große Dichter des Romans von der Zelle, er, der nicht wußte, daß auch er des ewig-kolliquativen Verleimungszustandes des Gehirns teilhaftig geworden war, welcher allen Genies die Möglichkeit staunenswerter, unerhörter Assoziation, die Ahnung wunderbarster Zusammenhänge überhaupt erst ermöglicht. Was er kolliquativ (verschmelzend) dachte, war eben ein Plus von Ganglienverbindungen aus dem Gebiet verschiedener Überschaubarkeiten. Virchow aber war trotz des ungeheuren Schatzes an Einzelwissen doch in gewissem Sinne dogmatisch. Er selbst arbeitete deduktiv, während er sich für den Klassiker der Induktion hielt, was er gewiß auch war. Aber was heißt es, die Lehre von den Pflanzenzellen Schleidens und Schwanns auf die menschliche Lebensmechanik zu übertragen, anders als nach einer deduktiven Idee zu verfahren, welche induktiv Material, Beweise herbeischafft? Er hat nicht geahnt, daß 20 Jahre genügen würden, seinen Kernsatz: »Die Zelle ist ein Elementarorganismus« völlig umzustoßen. Die Zelle ist ebenso hoch organisiert wie der Mensch selbst, nur ein winziger Bestandteil von ihr, der Zellkern, ist eine allgemeine Elektrizitäts-Aktiengesellschaft mit 100 Milliarden von Molekülen und 100 Milliarden Möglichkeiten von Elektronenwirbeln, in welchen alle Lebenserscheinungen, auch die des Krankseins, Interferenzen, Prismenwirkung, Lichtfelderverschiebungen bedeuten. Wo bleibt da der Elementarorganismus? So etwas gibt es überhaupt nicht. Gibt es doch nicht einmal für die moderne Physik einen Stoff, eine Substanz. Alles ist Bewegung, Idee, Fluß. Die Welt ist völlig geistig geworden. Der Materialismus und Mechanismus ist tot. Das Leben ist eine Manifestation der Weltseele. Schon Form ist Geist dieser metaphysischen »Elementarorganismen«, den man: »Das Gott« nennen muß.Ich glaube, viele Denkvorstellungen hätten zu weniger schweren Glaubenskonflikten geführt, wenn man das Göttliche weder maskulin, noch feminin (»der« Gott, »die« Göttin) apostrophiert hätte – schon » die« Natur leitet irre –, über den Begriff »Das Gott« ließen sich noch heute religiöse und naturwissenschaftliche Weltanschauungen zwanglos versöhnen!

So ist es gekommen, daß ein Mann, der Jahrzehnte hindurch der Beherrscher und Besetzer aller Lehrstühle der Medizin war, heute fast zu den Vergessenen gehört, der hier und da noch einmal erwähnt wird, meist zur Bekämpfung seiner Lehren, während es durch Jahrzehnte keine Seite, die von Medizin handelte, gab, auf der er nicht fünf- bis sechsmal zitiert wurde.

Ehe er es gedacht und für möglich gehalten hätte, gehört er zum Mittelalter und ist Klassiker geworden. Seine Terminologie steht, seine Lehre ist dahin. Erst ein Revolutionär mit den Prometheus-Licht-Gedanken, dann eine Phase des Alleinherrschers, dann eine schwere Hemmung des Kommenden. Das ist die Tragik des Genies, und allein an diesem zwingenden Verhältnis läßt sich erweisen, wie groß er war.


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