Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Unter Bernhard von Langenbeck in der Ziegelstraße

Das Physikum in Greifswald war also endlich wider aller Erwarten und unter sichtlichem Beistand der Götter erledigt, und der Triumph über alle mich schon völlig verloren gebenden, unter mir und meinem Lebensübermut überaus schwer leidenden lieben Verwandten wurde von meinem Vater und mir in vollen Zügen genossen. Die schönsten Hoffnungen lösten sich in ein odembeklemmendes »Also doch!« auf. Ich ging nach Berlin Anfang 1882, das ich seitdem nur für kurze Pausen verlassen habe. Einer der ersten Bekannten, denen ich begegnete, war Hermann Bindemann, mein Schulkamerad aus Stralsund, der schon ein Semester früher Kandidat der Medizin geworden war als ich. Meine Frage nach seinem Vorhaben beantwortete er in seiner drolligen Vorpommernmanier: »Je, dat sall woll sin! Wi waren alle grote Deerts (Tiere). Wi sünd bi von Langenbecken in de Gardeklinik.« Dann meinte er gönnerhaft, er wolle mit »Sonnenburgen« sprechen, es sei eine Unterassistentenstelle frei, wenn ich Lust habe, wolle er mich dort gern anbringen. Das war nun ein großes Glück für mich. Der Eintritt bei von Langenbeck war der Beginn eines von dem gewöhnlichen Lehrgang der Medizinkandidaten in ihren klinischen Semestern völlig abweichenden Studienweges. Ich habe von 1882 ab bis 1887 eigentlich nur »famuliert«, das heißt: Ich war als Koassistent an den verschiedensten Instituten angestellt und war als solcher, ohne andere Collegia zu hören, bei von Langenbeck, Bergmann, Senator, Virchow, Olshausen. Nur bei Helferich, später in Greifswald, blieb ich als wirklicher Assistent. Diese frühzeitige Berührung des jungen Klinikers ausschließlich mit der speziellsten Praxis unter weltberühmten Meistern, ohne nennenswerte Vorbereitung – man springt eben unter Aufsicht einfach in ein tiefes Wasser, um schwimmen zu lernen –, ist in England Brauch und hat ihr Gutes. Die Theorie und die Fundamentierung des Wissens kommt dort nach einem vorbereitenden Gehilfendienst bei Praktikern der Medizin. Beispielsweise las ich erst Virchows »Zellularpathologie«, nachdem ich schon anderthalb Jahre praktisch seziert und mikroskopiert hatte: man macht eben alles den Besten zunächst einmal nach und läßt sich von ihnen brockenweise und ohne System unterweisen. Später füllt die Theorie und das Buchstudium die Lücken. Das hat jenen großen Vorzug für das Studium der Medizin, daß man alles zur Information Gelesene mit schon erlebten Anschauungsbildern belegen kann. Der umgekehrte Weg ist bedenklicher. Bei dem Schauen der Krankheitsformen nach vorangegangener buch- oder kollegiengemäßer Unterweisung soll man sich des abstrakt Vorgetragenen gegebenenfalls erinnern, was eine durchaus schwierigere Gedächtnistätigkeit erfordert, als wenn bei systematischen Erörterungen die Erinnerung sich ständig auf Erlebnisse stützen kann, die gewöhnlich wegen ihrer Erstmaligkeit in den jungen Gehirnen sehr fest haften. Ich wäre durchaus für eine Reform des Medizinstudiums in diesem Sinne: statt Kollegienhören und Bänkedrücken gleich kopfüber in eine Stätte der Arbeitspflichten, die, wenn sie auch anfangs subaltern ist, doch das Wesentliche im Arzt vorbereiten hilft: gut beobachten und wissenschaftlich richtige Fragen stellen. Also ich trat bei von Langenbeck in die Chirurgische Klinik in der Ziegelstraße ein und wurde Themistokles Gluck und Sonnenburg zunächst für die überaus besuchte Poliklinik attachiert. Hier gerierte sich Bindemann als völlig überlegenen Kollegen, trotzdem er auch gerade erst die Pommernnase in eine chirurgische Werkstatt gesteckt hatte. So erinnere ich mich genau, daß er bei einer Herzuntersuchung das Hörrohr umgekehrt gegen die Herzspitze richtete. Da ich bei meinem Vater dies verlängerte Ohr des Arztes oft im Gebrauch gesehen hatte, wagte ich kleinmütig ihn zu fragen, ob er den Spieß nicht umkehren wolle, worauf mit verlegen-überlegener Miene folgte: »Wir (diese Kühnheit!) machen das hier auch so!« Ich selbst freilich klopfte bei erster Gelegenheit den Hammer gegen den nackten Brustkorb, immer die Rippen entlang. Wie oft haben wir uns mit diesen unseren Gesellenentgleisungen gegenseitig geneckt! Bindemann pflegte dann zu sagen: »Wir waren eben damals noch das, was die Juristen Referendarlehrlinge nennen!« Gluck, der jetzt hochberühmte Chirurg, der Begründer der heute so modernen Überpflanzungstechnik von Fremdgeweben in einen defekten Organteil, der ebenso bitter unter seinem genialen Weitblick zu leiden hatte, wie alle die Bahnbrecher unter den Gelehrten und Künstlern, nahm sich unser beider sehr herzlich an, und ich danke dem allzeit mir wohlgesinnten Meister viele, mein ganzes Leben haftende Winke für Beruf und Leben. Gluck war äußerst humorvoll, eine »schuldlose« Burgundernase zierte das korpsstudentlich durchnarbte Gesicht, aus dem ein paar überaus freundlich-listige Augen leuchteten, deren gutmütig-überlegener Blick auch nicht einen Moment vor Groll aufblitzte, wenn später die Bergmannsche Schule gegen den ehemaligen Langenbeckschüler (Autoritäten und Schulen – schwere Ketten des Fortschritts überall!) die heftigsten Attacken auf berühmt gewordenen Chirurgenkongreßtagungen ritt. Gluck war ein Rumäne und hatte schon im Türkisch-Rumänischen Krieg reiche Erfahrungen gesammelt. Gegen ihn war Sonnenburg, der sehr gewählt ss-sprechende Hannoveraner, von würdevollem Ss-tolz und ss-teifleinener Ss-tatur. Er ging sehr selbstbewußt hintenüber gelehnt, mit vorgebeugtem Bäuchlein, wie der stolzierende, geheimrätliche Hahn auf Großvaters Gutshof. Wir boshaften Famuli nannten ihn (ich fürchte, auf meinen Vorschlag) Helios mit der Arroganz-Lordose (das ist die Verbiegung der Brustwirbelsäule nach vorn). Kollege Hoek dagegen, eine völlig mysteriöse Persönlichkeit, besaß eine Demut-Kyphose ( vulgo einen veritablen Rückenfehler, der weder ihn noch Emanuel Kant gehindert hat, Philosophen von höherem und geradem Sinn zu werden). Der später durch seine Blinddarmtherapie so hochberühmte Chef des Berliner Moabiter Krankenhauses, Sonnenburg, ehren- und ordenübersät, von dem blinddarmoperiert zu sein eine Weile in Berlin und Umgegend Stilangelegenheit und Modesache war, leitete die Poliklinik und hat uns mit seiner meisterhaften Diagnostik schnell gefördert.

Eines Tages kam die erste Berührung mit Langenbeck. Ich augenspiegelte gerade eine Krankenschwester, die die augenärztliche Meisterschaft meines Vaters natürlich für unbedingt vererbt ansah; Langenbeck kam darüber hinzu und erzählte mir, als er meine Ungeübtheit mit einem Blicke erkannte, folgende wahre Geschichte:

Der alte Jüngken, der Chirurg an der Charité vor v. Bardeleben, wollte absolut nichts vom Genie Albrecht v. Graefes und seiner hohlen Augenspiegelei wissen, hatte es auch nie der Mühe für wert gehalten – »wie Sie«, sagte er mit der ihm eigenen scharmanten Verneigungsgeste –, sich in dieser Sache zu üben. Endlich aber der Gewalt der Tatsachen sich beugend, ging er doch den Kanossaweg in Graefes Privatklinik. Graefe führte ihn zu einer Patientin, reichte ihm Spiegel und Linse, gab ihm das Reflektorband mit durchbohrtem Hohlspiegel. O weh, statt in das Pupillenloch flog der Lichtschein launisch an der Wand, über Ofen und Türrahmen immer hin und her, auf und ab, wie der unsichere Schein einer Diebslaterne, während Jüngken mit zugekniffenen Augen emphatisch hervorknirschte: »Is ja reizend, o wie reizend!« Graefe aber hielt sich im Rücken des alten erbitterten Feindes die Seiten vor geheimem Lachen. Obwohl ich die Geschichte schon von meinem Vater kannte, der sie miterlebt hatte und sie höchst humoristisch vortrug, interessierte es mich ungemein, die verschiedenen Stile zu vergleichen, mit welchen diese beiden Verehrten sie vortrugen. Langenbeck, der zierliche Aristokrat, gab die Anekdote mit ungemein graziöser Ironie, mein Vater brachte mehr die burleske Komik zur Geltung. Dann setzte sich der hochberühmte Meister vor mich hin und unterwies mich mit rührender Geduld und größter Höflichkeit. Bindemann meinte nachher: »Dat is en wahrhaft feiner Mann, er spreekt mit unserein as wär'n wi'n Graf!« Ja, so war es: er war der ritterlichste Aristokrat, den ich je gesehen. Wie der leicht schwebende Gang dieses kleinen Mannes mit dem schon weißen, vollen und strähnigen Lockenhaar, mit der für das feingeschnittene Gesicht fast zu hoch ausladenden Stirn, der scharfen Geiernase, dem König-Wilhelm-Backenbart mit ausrasiertem Kinn und vor allem diesen weiten blauen Königsaugen, die er beim Operieren schon mit dem großen goldenen Kneifer bewaffnen mußte, wie sein vornehm-rhythmischer Gang, so war sein ganzes Wesen voller ausnehmend eindringlicher und stiller Freundlichkeit zu dem Geringsten unter uns. Konnten wir Famuli, auf den Gängen der Klinik ihm begegnend, doch nicht früh genug unsere Verbeugung im Vorübergehen anbringen, er kam uns beinahe immer zuvor mit seiner Morgengrußverneigung. Das habe ich einmal später einem meiner Chefs zornig entgegengehalten, der, ein grober Klotz, in uns Assistenten nichts sah als aseptische Knechte.

Als ich von Langenbeck zum erstenmal in seiner technisch unübertroffenen Vollendung operieren sah – er ist der eleganteste Chirurg aller Zeiten geblieben, er war der Vater der ganzen plastischen Chirurgie, zahllose der künstlerischsten Schnittführungen und Wundadaptionen, so z. B. die kniffligen Wolfsrachen-Hasenscharten-Operationsmethoden, stammen von ihm –, fühlte ich wieder einmal meinen Entschluß, Arzt zu bleiben, wanken. Es war eine sehr blutige Exstirpation beider Leistendrüsen. Ich stieß innerliche Stoßgebete aus und dachte bebend in mir: »Das lernst du nie!« Aber die Sache selbst fesselte mich schneller als damals in Zürich die Anatomie, auch war mir ja Bindemanns Onkel-Bräsig-Humor immer zur Seite, dessen Kritik der Chirurgie lautete: »Carlchen, Swin slachten is noch schlimmer!«

Von Langenbeck unterwies uns Jüngere sehr freundlich bei der Gelegenheit, die ersten Technizismen der Narkose zeigte er mir persönlich, und ich wurde durch ihn allmählich der Chloroformspezialist der Klinik. Er war sehr ängstlich mit der Narkose und sagte einmal: »Jede Narkose ist so, als hielte man jemand bei der Kehle eine Zeitlang aus einem Zimmer im vierten Stock!« Vielleicht danke ich ihm den Ernst, mit welchem ich später der schematisierten Narkose zu Leibe ging. Große Freude machte es ihm, uns an den allerdings bruchsicheren Kiefern der Grenadierkasernen-Mitglieder von da drüben neben der Ziegelstraße das Zahnziehen beizubringen. Er selbst zog mit einer sonderbaren Laune aller Chirurgen mit Vorliebe Zähne, und ich erinnere mich noch seines erstaunten Lächelns, als ich meinen ersten Backzahn glücklich herausbeförderte. Langenbeck besah ihn aufmerksam und sagte: »Oh, das ist der falsche.« Nahm den ganz gesunden elefantoiden Backenambos und pflanzte ihn zurück in seine Kiefernheimat. Diese Manipulation, deren Sinn er mir sofort auseinandersetzte – »die gütige Mutter Natur repariert auch solche kleinen Irrtümer! Der heilt wieder ein!« –, verblüffte mich noch mehr als mein Vergreifen an dem allerdings statuenhaft stillhaltenden Opferlamm.

Bernhard von Langenbeck täglich operieren zu sehen, ihn ab und zu auf der Privatpraxis zu Handreichungen begleiten zu dürfen, waren Stunden höchster Spannung, und ich war mir allezeit bewußt, welche Gunst mir der Himmel und Bindemann gewährte, indem sie mich in die Nähe dieses wahrhaft großen und bedeutenden Mannes führten. Sein Bildnis, das ich besitze, ist geziert mit einer Widmung von seiner Hand: B. von L. seinem letzten Famulus C. S.; denn mit dem jetzigen Generalarzt Keitel, einem Neffen Langenbecks, war ich 1882 sein letzter Koassistent und wurde von seinem Nachfolger Ernst von Bergmann übernommen.

Von der Schnelligkeit, mit welcher von Langenbeck operierte, macht man sich keinen Begriff. Er selbst erzählte davon eine bezeichnende Anekdote. Bekanntlich habe er verschiedene Amputationsschnitte ersonnen, um möglichst schnell zu operieren, was für die frühere Zeit der Wundsepsisinfektion von großer Wichtigkeit war, da die Dauer einer Operation natürlich die Gefahr der Infektion steigere, zumal in früheren Zeiten, als es noch kein Chloroform gab, schnell operieren auch identisch mit Schmerzen sparen gewesen sei. Aus diesem humanen Gesichtspunkt heraus habe Dr. Larrey, Napoleons Leibarzt und Feldchirurg, es fertiggebracht, eine Exartikulation des ganzen Beines in der Hüfte in 5 ½ Minuten mit allen Unterbindungen und Nähten einschließlich Verband zu vollziehen. Im gleichen Bestreben operiere auch er sehr schnell, um Gefahren auszuweichen. Da sei einmal ein Chirurg extra aus Amerika zu ihm herübergekommen, um seinen neuen Zirkelschnitt am Bein mitanzusehen. Aber der Unglückliche sei ein leidenschaftlicher Tabakschnupfer gewesen. »Da stand er«, sagt von Langenbeck, auf einen bestimmten Platz im Operationssaal der Ziegelstraße hinweisend, den ich noch heute nicht betreten kann bei Besuchen seines zweiten Thronerben, unseres prachtvollen August Bier, ohne dieser Geschichte zu gedenken. »Da stand er, und als ich mich anschickte, blitzschnell mit dem Messer das Bein zu umkreisen, hatte er sich zu einem Prieschen beiseite und umgewandt, das Nastuch gezogen, und als er sich, um zu schauen, zu mir zurückwandte – war das Bein schon herunter, und eine Amerikareise verniest, was den Doktor arg verschnupfte.«

Einmal war eine interessante Sektion einer Schädelverletzung auszuführen, zu der der pathologische Anatom des Friedrichhains und Virchows Assistent, übrigens mich ein Stralsunder Kind, zitiert wurden. Die bildschöne Herrenreiterin Carola Renz war abends im Zirkus gestürzt, hatte sich einen Schädelbruch zugezogen und wurde sterbend in unsere Klinik gebracht. Es war die erste wissenschaftliche Obduktion, welche ich miterlebte, und mich durchzuckte es mit Grauen, als ich das scharfe Neugiermesser sich in diesen griechisch-schönen Frauenleib senken sah. Immer wieder mußte ich bei solchen Gelegenheiten ruckweise mein ganzes Empfinden von der Unverletzlichkeit eines edlen Menschenleibes mit allen ästhetischen Betrachtungen gleichsam mit harter Hand wie an einem Kabel bei mir abstellen, um nicht ohnmächtig umzufallen, wie das bei Sektionen ja gar nicht so selten ist (Staatsanwälte, Protokollanten, Zeugen habe ich später oft dabei vornüber sinken sehen). Als nun dieses schöne Haupt geöffnet werden sollte, stellte sich heraus, daß kein Wärter vorhanden oder mitgebracht war, welcher der schweren und ständig geübt sein wollenden Arbeit des Rundherum-Aufsägens des Schädels gewachsen gewesen wäre. Also mußte der Gelehrte selbst heran. Es mißlang die schwierige Technik gänzlich. Auch Virchows Assistent blamierte sich, was bei beiden nicht wundernehmen konnte, man muß entweder sehr geschickt sein oder es täglich ausüben. Von Langenbeck war kribblig geworden, schüttelte das Haupt und sagte dann freundlich: »Aber meine Herren Anatomen! Von der Pike dienen! Von der Pike an! Dann erlauben Sie mir wohl einmal!« Nahm die Bogensäge, und mit ungemeiner Akkuratesse und einer technischen Meisterschaft hob er die durchsägte Schädeldecke von der durchbluteten Hirnhaut ab.

Ich mag diese kurze Erinnerung an den großen Bernhard von Langenbeck nicht beschließen, ohne einer Episode zu gedenken, die mir einen unendlich nachhaltigen und tiefen Eindruck für meine ganze Stellung zur Medizin hinterlassen hat. Langenbeck hatte am Vormittag eine von ihm ersonnene Methode zur Resektion der Speiseröhre und des Schlundes zum dritten Male an einem Unglücklichen ausgeführt. Diese Schnitt- und Nahtführung ist heute noch subtil. Diese Methode erfordert das volle Geschick eines Meisters. Der Fall sollte ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Medizin werden, so hoffte der Beherrscher der Plastik. Alles war auf das schönste gelungen. Langenbeck aber und die Assistenten hatten in der Ereignisfreude vergessen, der Schwester zu verbieten, dem Mann irgend etwas zu trinken zu geben. Der entsetzliche Durst ließ den Armen den gereichten Becher Milch in gierigen Zügen herunterschlingen. Die Fäden rissen sämtlich durch, die infizierende Flüssigkeit ergoß sich in den Brustraum, und der Mann starb schon am Abend. Als wir am nächsten Morgen vor dem Zimmer des Chefs mit unseren abzuliefernden Krankengeschichten antraten und klopften, kam unser lieber Oberwärter, ein Prachtkerl, mit Stille gebietender Lippengeste leise herausgeschlichen, schloß wieder ab und sagte flüsternd:

»Herr Geheimrat haben sich eingeschlossen, Herr Geheimrat sind noch hier, die ganze Nacht. Er liegt vor dem Kruzifix. Er betet in eins weg!« Das Bild des Schuldgefühls dieses Genius verließ mich niemals, es wurde mir ein heiliges Testament.

Eine sehr innige Beziehung hatte ich zu Langenbecks Oberwärter und Faktotum Wernicke, dem Mann mit dem Kehlkopfschnitt und der pfeifend-krächzenden Flüsterstimme, einem ganz prächtigen Menschen, der eine Seele von Gold und Langenbecks ganzes Vertrauen besaß. Seine Stellung bei Langenbeck – jeder Chirurg hat so eine, ihn beinahe beherrschende, unentbehrliche rechte Hand – knüpfte sich an folgendes tragisches Schicksal. Er war als Soldat mit einer kleinen Verletzung an der Hand in die Klinik in der Ziegelstraße eingeliefert worden. Schon fast geheilt, beauftragte ihn Langenbeck, seinem Hauptmann die für ihn deponierte Summe von 300 M. zurückzubringen. Er kam bei seinem Herrn an, hatte aber die Summe verloren. Der Hauptmann machte nur ein eigentümliches Gesicht. Wernicke lief spornstreichs in die Klinik, verschaffte sich ein Amputationsmesser und durchschnitt sich den Hals. Langenbeck rettete ihn. Tags darauf fanden sich die verlorenen 300 M. im Flur des Hauptmanns. Langenbeck behielt ihn bei sich und machte ihn zu seinem chirurgischen Adlatus, der uns Jungen über Frakturen und Verrenkungen Privatkurse gab, wie ich sie besser von keinem berühmten Professor gehört habe. Er dozierte mit Krächzen und Knarren. Seine Kehlkopfnarbe, das Symbol seines höchsten Ehrgefühls, gestattete keine weichen Töne. Mich persönlich verband mit ihm die Liebe zur Musik. Und er geriet ganz außer sich, wenn ich ihm mitten im Operationssaal beim Verbandschneiden und Instrumentenreinigen Carl Swoboda imitierte, wie er im nicht fernen Friedrich-Wilhelms-Theater »Nur für Natur« oder »Ach! ich hab' sie ja nur« mit schönem Schmelz von sich gab. Dann wurde der alte Wernicke ganz gerührt, und die Baßsaiten seiner malträtierten Stimmbänder gnurpsten dann rhythmisch in meine Kantilene. Wernicke revanchierte sich, indem er mir eine wirklich exakte Kenntnis der chirurgischen Instrumentenlehre beibrachte und mich in alle Technizismen und kleinen Geheimkniffe der Verbandlehre einweihte. Ich habe von dieser Perle eines chirurgischen Untermeisters die wertvollsten Einblicke in manch sonst von Gelehrten völlig vernachlässigtes Gebiet chirurgischen Könnens erhalten.

Als von Langenbeck ging, schluchzte Wernicke wie ein Kind. Bernhard von Langenbeck bezog eine Villa in Wiesbaden. Ein eigenes Geschick brachte ihn um sein Vermögen, und so mußte dieser Fürst der Chirurgie in der neuen Heimat, woselbst er ausruhen wollte von rastloser Arbeit in Krieg und Frieden und treuem Dienst bei seinem über alles geliebten Kaiser, dessen Attentatwunden er mit sanftesten Händen heilte, noch einmal, wie einst als praktischer Arzt im Holsteinischen, mit Hammer und Hörrohr treppauf, treppab klappern, um sein täglich Brot zu verdienen.

»Ist es nicht tragisch«, sagte Sonnenburg zu mir – als wir die Medizinische Gesellschaft verließen, vor der zwei Jahre früher B. von Langenbeck einen Vortrag »über die Behandlung der Gelenktuberkulose mit inneren Arsenikdosen« gehalten hatte –, »daß dieser Operateur par excellence, dieser Virtuose der Resektionen – mit einem Male konservative Chirurgie treibt, weil er verdienen muß?« In der Tat hatten die Ärzte Wiesbadens eine Beschwerde bei der Berliner Medizinischen Gesellschaft eingereicht über Bernhard von Langenbeck, der ihnen als »inneren« Ärzten mit seinem großen Namen unberechtigte Konkurrenz mache. Das war der Lohn für das Lebenswerk eines Genius.

Wann wird endlich einmal diese Nasenlängen-Wettrennen-Politik der Ärzteschaft aufhören?


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