Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Zürich und Gottfried Keller

›Wohl niemals ist ein Wesen auf Erden so froh beschwingt über Stralsunds teilweise noch grasbüschelgeschmücktes Pflaster vom alten Schulkloster bis zur Post am Neuen Markt geflogen wie ich damals, nachdem mir der kugelrunde, kleine, bebrillte Schulrat aus Stettin feierlich meine Dispension vom mündlichen Abiturium vor versammeltem Heerrat der Lehrer und den bedrückten Examensopferlämmern verkündet hatte. Galt es doch, die frohe Botschaft den Eltern schnellstens zu depeschieren. Ein unglaubliches Gefühl gänzlicher seelischer Entspannung, die Wonne eines Sonnenaufgangs, gemischt mit den romantischen Gefühlen eines Toröffnens des Lebens und einer jubelnden Wanderstimmung: »Hinaus! Hinaus!« – das ist ein im Leben so nie wiederkehrendes Mulusgefühl! Wie tief muß der Druck des Schulzwanges sein, die bange Sorge, ob all die Fronarbeit mit der Tyrannei des Lernenmüssens vielleicht nicht doch an einem kurzen Vormittag umsonst gewesen sein könnte, wenn diese Gemütsbelastung, das Schreckgespenst des möglichen: »Durchgefallen!« uns Studierte alle das ganze spätere Leben nicht verläßt und als Traum des nicht bestandenen Abiturientenexamens immer wieder einmal alpdruckartig aus der Tiefe der Vergangenheit emportaucht bis in die ältesten, oft schon klapprig gewordenen Ganglienregister! Um so seliger aber das Glück des Augenblickes, die Erfüllung kühnster Hoffnungen.

Und so hätte denn ein stummer Zeuge der triumphierenden Lust, mit welcher ich die zerfetzten Schulbücher an die Wand meines Pensionsstübchens eins um das andere stiegen ließ, die Berserkerfreude, mit der ich die bekritzelten Schulhefte, namentlich die mit mathematischen Menetekeln gespickten, zerriß und symbolisch verprügelte, gewiß eine geistige Entgleisung bei mir befürchtet. Als ich im Eisenbahnzug mit einem unendlich befreienden Seufzer armebreitend auf meinen Sitz sank, hätte er ein Neidgefühl haben müssen gleich jenem Handwerksburschen in Eichendorffs unsterblichem: »Aus dem Leben eines Taugenichts«, der einer davonrollenden Postkutsche nachrief: »Ach! wer da mitfahren könnte in der prächtigen Sommernacht!« Ich vermag gar nicht zu schildern, wie wonnig der Empfang im Elternhaus war, wie die liebe Mutter unseren Markt in Stettin vor dem Hause für nicht breit genug erklärte, angesichts ihres Stolzes auf den ältesten Sohn, während mein guter Vater die Sache mit einer noch schmeichelhafteren Selbstverständlichkeit behandelte. Auf meine Schwestern sah ich natürlich mit einem gutmütigen, aber distanzierenden Stolze herab und sonnte mich in dem Gefühl ihrer Belehrsamkeit in allen Dingen durch ihren großen Bruder.

Kam ich doch an mit einem Sack voll Gedichten, mehreren Dramen und Epen, welche alle ich ihnen und den Eltern abends restlos vorsetzen mußte, mit einer Grausamkeit, welche, wie so oft, nur die Naivität entschuldigen konnte. Dazwischen ging's mit dem Vater ans Plänemachen. Der Beruf, das Studium der Medizin, stand fest. Da war ich ganz im Banne meines ehrfürchtig verehrten Alten, einem Zwange, von dem ich mich zeit seines Lebens nicht befreien mochte – vielleicht zu meinem Glück. Innerlich war ich aber doch fest entschlossen, nebenbei »ein Dichter« zu werden. Die Medizin war mir ein selbstverständlicher Tribut der Liebe. Lange schwankte mein Vater, ob ich in Bologna, Grenoble oder Zürich studieren sollte. Jedenfalls sollte ich erst einmal die Fremde sehen. Es gingen dazumal viele Stettiner junge Studierende nach Zürich, und so wurde alles für die Limmatstadt bereitet, ja, Onkel Schlutow vom Vulkan, der Bankier der Stadt, redete meinem Vater die unbedingte Notwendigkeit auf, mich mit einem Notkreditbrief von einigen tausend Mark auszustatten, »da man immer nicht wissen könne, was einem in der Fremde begegne«! Mein Gott! Das einzige Furchtbare war, daß sie in wenigen Wochen von mir im Taumel der Vergnügungen abgehoben waren, da ich keine Ahnung hatte, daß so etwas indiskreterweise durch die Bank nach Stettin ins Vaterhaus gemeldet werden würde. Das Entsetzen über die sehr deutlichen Fragezeichen, was denn mit dem Gelde geworden sei, in den sehr dringlichen Briefen meines alten Herrn, war einer der ersten Schatten, der in mein junges Leben fiel.

Aber ich will nicht vorgreifen. Mit Freund Wolter aus Anklam, einem Stralsunder Mitabiturienten, der Naturwissenschaft studieren wollte, und dem Freunde meiner Jugend, Curt Zander, der Jurist wurde, ging's auf die Reise. In Berlin, woselbst wir drei Tage »ausruhten«, wurden wir geneppt. Mir wurde meine ganze Barschaft von 800 Mark in dem sonst sehr amüsanten Walhallatheater gestohlen. Am nächsten Tage fanden sie sich bei einem telegraphisch durch den Vater bemühten Geldbriefträger wieder. Sogar ohne Rüffel deckte der Gute den unerhörten Verlust. Ich war auch wirklich ganz schuldlos bestohlen worden.

Nun ging's mit einem Ruck über Lindau, Romanshorn nach Zürich. Als wir hinter München vom Kupee aus die ersten mit Schnee bedeckten Berge sahen, tat sich uns Ostseeflachlandkindern eine ferne Wunderwelt auf, und so war es Freund Zander und mir selbstverständlich, daß wir unmittelbar nach unserer Ankunft in Zürich unser Gepäck auf dem Bahnhof ließen und schnurstracks zur Limmat und an das Seeufer eilten, ein Boot bestiegen, mitten in den See hineinruderten, die Ruder einzogen und uns überselig und ganz still längelang in das Boot warfen, um Himmel, Küste und den hell und fern aufglühenden Gletscherring der Glarner Alpen zu bestaunen, der den Horizont im Süden märchenhaft umrahmt. Wir waren beide so erschüttert, daß wir lange Zeit keine Worte für unsere Ergriffenheit fanden. Mit einem Schlage wurde es uns klar, was Schweizerheimweh sei. Etwas wie Neid beschlich uns Undankbare, nicht hier geboren zu sein, so war die See, die Heimatwiese und die Nebelebene vergessen! Freilich rächten sie sich bei mir drei Monate später mit einem so tragischen Pommernheimweh, daß ich ernstlich erkrankte. Heimweh ist ein Massenüberfall alles Fremden. Das erfuhr ich dann mitten in der Wunderpracht der Schweizer Schönheiten. Zuvörderst aber atmeten wir in vollen Zügen diese himmlische Luft der Freiheit, in der das Alpenpanorama stand wie eine phantastische Fata Morgana, und ich weiß nicht, wie es kam, ich begriff mit einem Male die ewigen, politisch so unklugen Züge der Goten, Wandalen und Sachsen, die Italienkoller von Theodorich und Alarich bis zu Konradin und König Enzio. Ich ahnte auch die Macht der Dämonien einer weichen Luft, begriff die Berggespenster und Fabelwesenerscheinungen der Kordilleren. Es war, als wäre die Schwerkraft in Sehnsucht nach oben, in die Wunderlüfte umgebogen. Am liebsten wären wir gleich den Alpen entgegengerudert und hinaufgeklettert zu den leuchtenden Gletschern da oben und auf die höchsten Zacken dieses grandiosen Vorbaus vor Italiens Blumengarten. Zuvörderst aber nahmen wir oben auf den Bergen über Zürich in Hottingen, nahe dem Polytechnikum, Quartier, woselbst ich das erste Semester hindurch wohnen blieb; später zog ich in die Stadt in ein Häuschen an der Promenade, vis-à-vis dem Balkon, von dem einst Richard Wagner dem deutschen Volke verkündete, daß es eine Kunst besitze, wenn es ihn als Meister aller Meister anerkenne!

Nach einem rauschartigen Orientierungsversuch über unsere Vergnügungsmöglichkeiten in der neuen Stadt und Umgebung ging's an die unerläßlichen Vorbedingungen zum Studium. Bei diesen Präliminarien ist es während meines fast zweijährigen Aufenthaltes in der Schweiz auch geblieben. Es war zu schön zum Studieren, das hätte man zur Not und besser in weniger berauschender Umwelt haben können; hier galt es zu genießen, zu schwärmen, romantisch zu sein, zu toben! O einzigartige Zügellosigkeit der Studentenzeit, einmalige kurze Möglichkeit, »so frei zu sein, wie die Vögel sind«! Es ist dieser mittelalterliche Einschlag, dieser Nachglanz unseres einst klassischen Deutschtums, diese fast versunkene Romantik des Burschentums, die das hinreißende Wesen dessen ausmacht, was man damals noch »Studentsein« nennen konnte. Übermut bis zur Wildheit, das Taumeln an der Grenze des Verderbens, und doch dies Sicherheitsgefühl, Talent zum Leben zu haben und ein Kerl zu sein – Rekruten des Geistes, jeder mit dem Feldmarschallstab in der Tasche, höchst eingebildete Ziele und doch die unbekümmerte Bereitschaft, das Leben jeden Augenblick für die Ehre dahinzugehen und bei ihrer leisesten Verletzung schlägergerüstet und farbengeweiht aufzuspringen zum Kampf Auge um Auge –, das alles ist zwar eine Illusion bis zur Unsinnigkeit, aber doch ein gewaltiger, unvergleichlicher Zug zum Ideal schönster Menschenmöglichkeiten, zur Brüderlichkeit und liebender, schwärmender Blutgemeinschaft! Es ist ein Kommunismus der Herzen.

Hier und da wurde aber doch eine Gastrolle in den Hallen der Wissenschaft gegeben, obwohl uns das Gefühl, Student zu sein, die meisten Stunden am Tage nicht gerade »wissens«durstig verflackern zu lassen, vollauf genügte. Ich hörte bisweilen Anatomie bei Hermann Meyer, einem lieben alten, feurigen Herrn, mit dem ich mich an manchem lustigen alten Herrenabend bei Wein und Bier freilich weit besser verstand als im Präpariersaal und am Mikroskop. Er war sehr freundlich gerade zu mir und hat mich notorischen Kollegienschwänzer des öfteren morgens in unbegreiflicher Frühe aus dem Bett geholt und persönlich verhaftet, damit ich nicht ganz »die Innervation mit der Medizin« verlieren solle. Auf dem Wege zur Universität hat er mir, der gute liebe Studentenvater, manch Privatkolleg abgehalten, weil es wirklich schade wäre, wenn ich allen Boden unter den Fußen verlöre.

Übrigens muß ich gestehen, daß mir der Eintritt in die Vorhallen der medizinischen Wissenschaft einen geradezu schaurigen und abstoßenden Eindruck machte. Die Unsauberkeit im Anatomiesaal, das Herumliegen von zerschnittenen Verstorbenen, die Roheit der Wärter, welche die Leichen der Unseligen herbeischleppten, der üble Duft und die Wühlarbeit der Medizinmäuse in den bisher nie geschauten, nun enthüllt liegenden inneren Teilen, Schädel ohne Augen, spiegelnde Gehirne, zerschnittene Herzen – das alles zusammen mit einer geheimen Ahnung von dem Frevel eines allzu populären Wissensdurstes, der sich an den Leibern der Verfemten, Namen- und Heimatlosen, dem Freiwild von Verbrechertum, Armut und tiefer Gesunkenheit Genüge tat – wohl auch eine innere Unruhe über die Gefahr einer Blutvergiftung –, das alles erfüllte mich mit tiefem Grauen! Als ich dann in dem Physiologischen Seminar von Prof. Hermann, dem hartnäckigen Gegner Dubois-Reymonds, als Entreeakt die Enthauptung von sechs Fröschen mittels glatten Scherenschnittes und den blitzartigen Hirnrückenmarkstich ( Noeud vital) bei einigen armen, gurrenden Tauben mit ansehen mußte, da war es aus mit meiner Begeisterung für die Medizin. Mich packte eine Wut, und ich war entschlossen, ihr für immer Valet zu sagen. Mir schien es unmöglich, diese sinnlosen Grausamkeiten mitzumachen. Aus Mitleid wollte ich Tor ein Arzt der Leidenden werden, und hier stand ich entsetzt vor einer Lehrstätte, ja einem Kultus der grausamsten Gleichgültigkeit gegen Leid und Tod. Wann wird es Anatomen und Physiologen geben, die in vollem Bewußtsein der Fürchterlichkeit ihrer Arbeit dem Novizen der Heilkunde schon hier die ersten Schritte leichter machen durch freundliches Zureden und einen besänftigenden Hinweis auf das hohe humane Ziel und wenigstens hier und da einmal den Versuch wagen, so etwas wie eine Lehre von Mitleid mit der leidenden Kreatur in die Herzen der noch empfindsamen jungen Leute zu senken? Damals waren auch die ersten russischen Studentinnen im Anatomiesaal, und so wenig zaghaft mein Gemüt im Verkehr mit jungen Damen sonst gewesen sein mag, hier war es mir einfach unmöglich, angesichts aller Nuditäten den manchmal noch dazu sehr hübschen Kolleginnen in die Augen zu sehen. Ich raste wie ein Berserker über alle diese Selbstverständlichkeiten, wofür ich natürlich von den »reiferen« Genossen beim Frühschoppen oder dem kaum noch mundenden Mittagsmahl weidlichst gefoppt wurde. Anatomierenommage und Essenstisch! Es war zum Tollwerden. Und so schrieb ich denn eines guten Tags meinem Vater, daß ich nach reiflicher Selbstprüfung mich für außerstande hielte, das Studium (mein Gott, wie stolz der Name für meine zeitweisen Neugieranfälle klang!) fortzusetzen. Schuster, Schneider, Maler, Komponist, Cellovirtuos oder Dichter – alles eher als diese Schinderei Lebendiger und Toter. Mein guter Vater schrieb mir sehr besänftigend. Das hätten sie alle durchgemacht, und die Schrecklichkeiten dieser Art hätten doch nicht hindern können, sogar bedingt, daß ein Graefe Tausende von Blinden sehend gemacht habe, daß sein Freund Wilms täglich Kinder ihren Eltern durch solche Eingriffe erhalte usw. usw. »Ich selbst, Dein Vater, in dem Du doch gewiß die Menschlichkeit und Toleranz selbst mit einem Lebenswandel wie dem Deinigen nicht erstorben weißt, habe genau so gefühlt und bin doch voll von Mitgefühl mit allem Leid! Nichts Edles auf der Welt gelingt ohne Opfer. Sieh alles das mit Deinen Mitleidsaugen an, bemühe Dich sogar, Deine Kollegen zu einem gleichen Blicke zu erziehen, aber vor allem, tue es mir nicht an, der Medizin den Rücken zu kehren!« Das zog, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich später meine chronische Kollegienschwänzerei gern mit der überstandenen Sentimentalität meines empfindsamen Herzens zu maskieren versuchte. Ach ja, Zürichs wundervolle Umgebung, die für Freund Zander und mich bis nach Bern, Basel und dem Rigi reichte, Seefahrten, Ütliwanderungen und die Revisionen des inneren Gefüges aller Wirtshäuser ringsum interessierten mich vor Lebenslust förmlich Schäumenden weit mehr als die Tempelhallen des Wissens. Leben war mehr als Lernen.

Einst ruderten wir zu mehreren im Dunkeln über den See, und ich sang wie ein Bacchant in den sternenbesäten Himmel, als neben uns ein Boot anruderte, jemand uns zu halten bat und ein kleines schwarzes Männlein in echt »zürcherischer« Mundart eifrig fragte: »Wä hätt do äbe g'sunge?« – »Der!« rief Freund Zander. »Dann choommet Sie emol, bittä, morgen in der Fruh zu mir uffe in die Berggasse. I hoab eppes schön's für Sie. I bin der Musikdirektor Attenhofer. A feines Stimmli hent Sie doa!« Namen und Adresse wurden getauscht, und am nächsten Morgen stand ich vor dem berühmten Komponisten schönster Männerchöre, die wir ständig sangen im Studentengesangverein, dem ich längst als Tenor angehörte. Er prüfte mich und teilte mir mit, daß er auch Dirigent des Züricher Männerchors sei, dem 140 Sänger angehörten. In acht Tagen sei nun ein großes, internationales Sängerfest in Rotterdam, an dem sich der Züricher Männerchor mit aller Aussicht auf Sieg beteiligen würde. Dafür sei ein Preischor geschrieben mit einem Soloquartett, in dem der erste Baß an einer sehr heiklen Stelle hoch über den ersten Tenor hinaufsteigen müsse. Meine Stimme, hoch und doch baritonal, sei wie geschaffen für diese Partie. Sie könnten keinen der Art finden. Das Einmogeln eines lyrischen echten Tenors sei als Kniff zu deutlich. Ob ich musikalisch sei? Ich müßte unbedingt die betreffende Solostelle übernehmen. »Sie sind also heute abend im Rathaussaal. Sie kommen mit nach Rotterdam!« – »Verzeihen Sie, ein armer Student, mir fehlen die Mittel!« – »Unsinn! Das kostet Sie nicht einen Batzen. Es geht alles per Bons. Fahrt, Hotel, Essen, Trinken frei!« Schwerenot! Das letztere war mein Fall. Also – nach acht Tagen trug ich einen Vereinshut mit Schweizerkokarde und Vereinswams, unter dem mein pommersches Herz erwartungsfreudig klopfte, und mit 140 Sangesbrüdern ging's bis Bingen in einem Ruck per Extrazug, und von da im eigens gemieteten Salondampfer bis Köln hinab. Nie werde ich über all der Lust an Bord, über all dem Zauber dieser Rheinreise die Anfahrt in Köln, den Dom, die Flut, die Brücken, vergessen. Am Ufer stand der ganze hochberühmte Kölner Männergesangverein, unser schärfster Konkurrent für Rotterdam, mit seinen Damen in festlichem Weiß, die Sänger mit Blumen geschmückt. Als wir anlegten, klang es wundervoll vom Ufer her aus hundert deutschen Männerkehlen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen!« Uns kamen Tränen in die Augen. Wir antworteten mit »Gott grüße dich!« Dann stiegen wir aus. Jeder von uns wurde umrahmt und umarmt von einem Männlein und einem Fräulein aus Köln, und so ging's zum Vereinshaus zur Begrüßung und herrlichen Bewirtung. Abends war ein Wettsingen. Chöre und die Stimmen wurden gegeneinander ausgespielt. Ich sang unter Beifall »Edward« von Löwe und spielte mit Attenhofer auf dem Cello Schumann-Sachen. Am nächsten Morgen sollte es nach Rotterdam gehen. Attenhofer ermahnte unser Soloquartett dringend, nicht zu »kneipen«, was uns vier engverbrüderte Halunken nicht abhielt, nachts gegen drei im Rathauskeller anzutreten, um von Attenhofer erwischt zu werden, der mit dem alten Ferdinand Hiller, dessen Duette bei uns daheim in jedem Haus gesungen wurden, die Nacht verplauderte. Furchtbarer Ausbruch eines gerechten Dirigentenzornes, der dann endete mit dem Befehl: »Na, dann singt wenigstens dem Hiller euren Solosang!« Und so schmetterten wir unter den gotischen Bögen unser Lied. Aber ungelabt mußten wir ins Bett. Umsonst die Tugend. Am nächsten Morgen Depesche: »Sängerfahrt wegen Todesfalls in holländischer Königsfamilie abgesagt.« Ich muß gestehen, ich war dem Weinen nahe. Vorstandssitzung und Beschluß, 14 Konzerte in den Rhein- und Mainstädten zu geben. Hurra! Das war mindestens ebenso verlockend. Und so zogen wir nach Düsseldorf, Frankfurt, Mainz, Heidelberg, Baden-Baden, Straßburg usw. Elitechöre und alle paar Abende unser ganzes Rotterdamer Programm mit Preislied und Solochor, wundervollen Hegarschen Quartettballaden und meistens einigen Cellonummern meinerseits. In Mainz erhielt ich Quartier bei einem alten Arzte mit einem reizenden Töchterlein, der aufhorchte bei meiner Namensnennung. »Schleich? Schleich? Nein, nein! Das kann ja gar nicht stimmen. Sie sind ja Schweizer!« – »Bewahre! Ich bin aus Pommern, Stettin!« – »Doch nicht der Sohn meines Jugendfreundes Carl Schleich, des Bonner Frankonen?« – »Natürlich!« – »An meine Brust!« Das romantische Erlebnis endigte natürlich mit einem kräftigen, aber bereitwilligst gewährten Pump bei dem alten Herrn. »Denn«, wie mein Vater schrieb, »obwohl Du angeblich alles frei hast auf Deiner Dir gern gegönnten Rheinreise, weiß ich nicht, warum ich Dir dauernd telegraphisch Deinen Geldbeutel füllen muß!« Der Gute hatte keine Ahnung, welche Nebenunkosten so ein romantischer Sängerzug verursachte!

Zurückgekehrt nach Zürich, wurde ich nun gänzlich musiktoll. Ich studierte bei Hegar und Attenhofer Harmonielehre, Kontrapunkt und Fuge, spielte in den herrlichen Hegarschen Symphoniekonzerten mit und durfte sogar manchmal Soli mit Orchesterbegleitung oder zur Orgel, wie schon in Stralsund, spielen. Im Wintersemester nahm ich abends täglich Platz im Opernorchester am Cellopult. Gegen Ende des Monats erhielt ich dann von meinem Instrumentalkollegen bereitwilligst alle für Violoncello prominenten Solostellen überwiesen, weil das am Ersten des Monats sehr viel Freibier aus meiner Verschwenderhand bedeutete. Mein Wechsel war gewöhnlich innerhalb der ersten Tage nach Empfang dahin, aber ich genoß einen unbegrenzten Kredit bei unseren manchmal entzückenden Kellnerinnen und Wirtsfrauen. Wenn ich die Summen bedenke, welche ich bisweilen zu fordern die Kühnheit hatte, so muß eine hinreißende Beredsamkeit über meine Lebensnot damals mir zu Gebote gestanden haben, denn das reizende schwarze Liesel drüben überm See, das meiner so oft im Mondschein unter Linden wartete, wenn ich des Nachts von der Kneipe fort über die Flut ruderte im Sternenschein, weinte oft Tränen bei der Schilderung meiner schweren Berufssorgen.

Ich Medizinflüchtiger musizierte lustig weiter, und beinahe hätte mich diese Flucht wirklich dauernd auf die Bühne geführt; meinte doch einmal der alte Meyer gelegentlich einer Musikaufführung im Züricher Studentengesangverein: »Den halten wir nicht, der schwirrt mit solcher Stimme doch zur Oper!« Wirklich – ich wäre beinahe Sänger geworden. Eines Tages bei einer Probe im Opernhaus (Stadttheater) war es. Das berühmte Sängerpaar Vogl aus München sollte am Abend gastieren und vormittags mit uns den »Faust« probieren. Vogl-Faust streikte und wollte aus irgendeiner Laune nicht singen. Vogl-Gretchen war empört, und es gab eine kleine Eheszene auf offener Bühne von höchst unfaustischem Gepräge. Der stellvertretende Kapellmeister war in Verzweiflung. »Wir können dann überhaupt nicht probieren, Curiel (der lyrische Tenor) kann die Faustpartie nicht, dann müßte ich die Oper absagen!« Da erhob ich mich von meinem Cellositz und erklärte, den Faust singen zu können, ich wüßte ihn auswendig. Wenn es nur auf die Probe ankäme, so wolle ich es gern versuchen. Allgemeines Erstaunen. Ich mußte über die Rampe klettern, und nun ging's los. »Doch dieser Gott, was vermag er für mich?« Anteilvolle Blicke ermunterten mich, und ich muß ganz leidlich meinen Mann gestanden haben, denn in der Mitte des zweiten Aktes bekam Vogl wieder Stimme und sang bis zum Schluß wundervoll. Meine gewiß ungeschulte, aber junge Stimme hatte ihm Lust gemacht, einmal ordentlich zu zeigen, was er konnte. Nach der Probe aber sagte er vor allen: »Mensch! Sie müssen Sänger werden! Sie haben ja wer weiß was in der Kehle. Wozu wollen Sie sich da mit dem elenden Marterholz herumquälen!« – »Ich spiele nur zum Vergnügen, Herr Kammersänger! Ich studiere (?) Medizin«, sagte ich stolz. »No, dann erst recht!« Und nun sagte er: »Wie ich höre, reist Curiel morgen nach Italien. Lassen Sie sich im Konservatorium dort prüfen. Man macht sicher mit Ihnen Kontrakt, und Sie gehen zur Oper!« Mir schlug's wie Feuer in die Glieder, aber: »Nein! Das geht nicht, dazu habe ich kein Geld. Ich bin ein armer Student!« – »Unsinn! Hier sind zweihundert Francs, damit kommen Sie hin. Das übrige wird sich schon finden!« Und so reiste ich mit »Kollege« Curiel, einem geborenen Italiener, wirklich nach Mailand, wurde im Konservatorium eingehend geprüft und ein Kontrakt gemacht, ich glaube dreieinhalb Jahre freie Ausbildung und Unterhalt, dann 20 Prozent aller Einnahmen an die Alma mater des Gesanges. Sofort telegraphierte ich nach Stettin: »Bin Mailand, werde Sänger. Dein treuer Sohn!« Nicht lange kam ein Depesche zurück: »Bin übermorgen mittag Mailand. Dein treuer Vater!« Himmel, was soll das geben? Er kam, der getreue Eckehard, und verwandte eine Methode, um mich abzubringen von meinem Plan, die seiner psychologischen Erkenntnis alle Ehre machte. Anfangs tat er gar nicht erstaunt. Gewiß, mit hübscher Stimme, warum sollte man nicht Sänger werden? Das sei ein ehrenvoller Beruf wie jeder andere. Die Ehre stecke immer in dem, der sie irgendeinem Beruf anvertraue. Aber so alles auf ein kleines Organ, den Kehlkopf, zu setzen? Er sagte höchst humorvoll, mit einem entzückend ironischen Seitenblick: »Du weißt ja genau, wie so ein Stimmapparat gebaut ist!« Ich wurde rot. »Alles steht auf zwei zarten kurzen Bändern. Wie bei deinem Onkel Hans (der ein berühmter Tenor in Paris gewesen war) – eine kleine Warze sprießt darauf, und aus ist es mit allem Glanz der Stimme! Aber davon abgesehen. Zu einem Tenoristen gehört eine so fabelhafte Selbstsicherheit, ein Vertrauen in seine sieghafte Persönlichkeit und seine Gottesbegnadigung, daß ich nicht weiß, ob du sie in dem nötigen Maße besitzest.« Inzwischen hatte der Listige mich auf einen größeren Platz geführt, an dessen einem Laternenpfeiler eine gedeckte Tonne stand. Mit einem Male hier stehenbleibend, rief er: »Ich will dir etwas sagen. Wenn du Courage hast, steig hinauf und singe los. Die Italiener sind ein gesanglustiges und leicht erregbares Volk, wenn sie dich auf den Schultern zum Hotel tragen, magst du Sänger werden; wenn du aber polizeilich verhaftet werden solltest, laß es bleiben!« Mir schoß es blitzartig durch den Sinn: »Walter Stolzing. Preislied!« Dann aber senkte ich das Haupt und sagte: »Komm, Vater! Laß uns nach Zürich fahren. Ich bleibe Mediziner!« Als ich die Geschichte meiner ruhmreichen, aber kurzen Sängerlaufbahn viele, viele Jahre später in einer großen Gesellschaft in Berlin preisgab, erhob sich oben an der Tafel ein alter Herr und rief: »So bist du das verfluchte Kerl von Mailand, der uns hat ausgerissen. Kontrakt geschrieben, gute Stimme und ecco! – davon! Warte, du Racker!« Es war der berühmte Gesangsmeister Lamperti, der mich damals in Mailand geprüft hatte, hier auf Alterssitz Stimmen probte und mir überraschend so mein Abenteuer bestätigte.

Ich hatte heimlich depeschiert nach Zürich: »Achtung! Vater kommt!« Meine Korpsbrüder hatten den Wink verstanden. Meine Stube war zu einem Faustkabinett geworden. Pergament und Folianten, Retorten, Phiolen, Skelette und Schädel lagen umher! Mein Vater sah sich um und meinte: »Na, die Witze brauchst du mir nicht vorzumachen.« Zahlte meine Schulden, war bei uns auf einem Kommers und reiste in die Heimat. Dann war ich auch wirklich eine Zeitlang sehr fleißig. Aber ich hatte Pech mit dem Studieren. In dem kommenden Winter fror der ganze Zürichsee, befahrbar für Schlittschuhe, Pferdeschlitten und Wagen, seit 30 Jahren zum ersten Male wieder zu. Bei herrlichstem Wetter entwickelte sich ein förmlicher Eisschollenkoller, die ganze Stadt wimmelte auf dem glatten Spiegel herum. Welche Spiele, Feuerwalzer, Musikaufführungen, Fackeltänze und Courschneiderei auf dem gepanzerten Rücken der fest erstarrten Flut. Von Frankfurt, Paris, Wien sogar kamen Extrazüge mit Schlittschuhläufern an. Ein Taumel hatte uns alle ergriffen. Am schönsten aber fand mein Freund Grimm und ich es, uns nachts vom Kneiplokal fortzuschleichen und die Schlittschuhe anzuschnallen, und nun »holländernd« hinauszuschweben in die Sternennacht, welche ihre Riesenkuppel über wundervolle Bergespracht wölbte. Diese Schwärmerei hätte uns beiden beinahe das Leben gekostet. Wir hatten auf solcher nächtlichen Wonnefahrt in Bendlikon haltgemacht und einen alten Herrn von uns, einen Pastor, herausgeklopft und uns sehr viel Grog spendieren lassen. Bei dem endlichen Aufbruch ermahnte er uns, ja recht vorsichtig und rechts zu halten, links sei es in der Mitte gefährlich, einer warmen Quelle wegen, die vom Ufer bis dorthin reiche. Er machte es sehr dringlich, hatte aber, vielleicht durch ungewohnten Groggenuß verwirrt, rechts und links verwechselt; genug, wir liefen los, und zwar genau nach einer von uns beiden vorher getroffenen Würfelbecherbestimmung, Grimm 100 Schritt voran, ich dahinter. Im Falle dem vorderen etwas zustoße, solle der andere seinen Überzieher ausziehen, ihn an einem Ärmel dem Einbrechenden zuschleudern und ihn so retten. – War das eine Fahrt! Der segelnde Halbmond, die Spiegelung von ihm und den Schiffslaternen der Sterne und das nächtlich angeglühte Alpenpanorama, das dunkel, aber unaufhörlich aufblitzende weiche Ebenholz des Sees, dessen gurgelnden Lippen der Frost ein festes Schloß angelegt hatte. Nur hier und da ging ein Ruck, ein Knack, fast wie ein Schuß, und dann ein Zittern über den straffen Seidenatlasteppich. Es war ein Traumzustand, in dem ich mit verschränkten Armen Bogen schlug. Plötzlich sah ich Grimm nicht mehr. Mein Gott! Herankommend, sah ich ihn im Wasser paddeln und hörte ihn schwer prusten. Herunter mit dem Paletot! Verabredungsgemäßes Zuwerfen desselben. Aber o weh! Beim Ausholen und Schwung – ein Knack wie von springendem Glas –, es teilte sich etwas unter mir – und hinein sank auch ich in das kalte Naß. Ich griff nach Scholle um Scholle. Sie glitten flutwärts unter mir fort; endlich kam ich zu einer resistenteren Kante, scharf wie eine geschliffene Glasplatte. Ich hatte die Überlegung, uferwärts zu streben. Aber ach, auch sie brach. Weiter zum Lande! Als immer wieder und wieder die dünne Eisdecke abbrach, gab ich es auf. »Du mußt sterben.« Ganz ruhig legte ich mich in die Flut zurück. Hatte über mir die Sterne und mußte plötzlich an meine Mutter denken. Das gab mir einen Ruck. Ich versuchte es noch einmal. Die Scholle hielt. Ich gelangte tastend und die Knie nachziehend, vorsichtig wie ein Dieb, mit einem Bein auf die feste Fläche, dann mit dem anderen, und nun stand ich hoch und sah zurück. Noch schau' ich die leichten Kräuselungen kleiner Wellen da unten und daneben im Mondeslicht. Aber von Grimm oder meinem Überzieher keine Spur! Ich fing, gegen das Ufer laufend, wild an zu brüllen und um Hilfe! Hilfe! zu schreien. Der Weg war länger, als ich geglaubt hatte. Als ich ans Ufer kam – wer saß an einem Trog am Brunnen? Mein lieber Grimm, und heulte und stöhnte: »Schleich! Mein armer, guter Schleich ist ersoffen!«

»So?« sagte ich, »du Ausreißer! Und wo blieb dein Überzieher? Hm? Und wo ist der meine? Judas!«

Als ich meinen Vater am nächsten Tag telegraphisch um 200 Mark für einen neuen Winterpaletot bat, erhielt ich das Geld mit einem Brief, in dem er mich ersuchte, bei meinen allerdings reichlich dicht folgenden Bitten um Zuschuß solche Romanzen, wie mit dem Überzieher, mit dem nun wohl die Nixen ihr Spiel trieben (so hatte ich mich ausgedrückt), ruhig zu unterlassen. Glauben tue er so etwas doch nicht – und – so geht es – hier, wo ich nun wirklich einmal die volle Wahrheit aus Geldnot gesagt hatte, hat er mir zeitlebens den Glauben versagt! Und doch hatte die Sache tags darauf ausführlich in der Zeitung gestanden!

Im kommenden Frühling waren Sechseläuten, Maifeiern, Ufenauausflüge, Sängerfahrten mit Preissingen und Preiserhalten unseres Studentenvereins (wir errangen jedesmal mit Meister Attenhofers »Rothaarig ist mein Schätzelein!« eine erste Auszeichnung), Epochen der Lust und Schwärmerei, deren Vorbereitung und Ausführung uns gänzlich in Anspruch nahmen. Zu den meisten Festen dichtete ich kleine Stücke, und der Russe Kornitzki, der eine herrliche Baßstimme sein nannte, Vonwyler und ich, wir sangen die tollsten, selbstausgedachten Terzette. Wer sollte da Zeit zum Studieren aufbringen?! Mein bester Schweizer Freund war der Mediziner Felix, den ich noch heute schwärmerisch liebe. Hell aber leuchten von da meine Erinnerungen auf. Eines Tages, als unser Soloquartett gerade die Schweizer Hymne, von Attenhofer komponiert, gesungen hatte, tat sich die Tür auf, und ein kleiner, rundlicher, älterer Mann trat ein und sagte: »Singet dös noch einmal! Der Text isch von mir!« Wir mußten es viermal singen. Dann setzte er sich zu uns, und eine tolle Zecherei begann. Er mußte von meiner Trinkfestigkeit einen tiefen Eindruck bekommen haben; denn nach kurzer Zeit kam er wieder in den »Gambrinus« und fragte unser Reseli: »Wo ist der Dütsche, der so wunderherrlich suffe cha?« Da saß ich und winkte. »Ich heiße Keller!« Keine Erregung meinerseits. Er bat mich zur »Meise« zum Abendessen. Wieder reichliche Libation von Bacchus. Von da ab erschien der alte Herr ungefähr alle sechs Wochen, um den »Dütsche Studente« abzuholen und mit ihm zu pokulieren. Einmal schrieb ich meinem Vater, es sei da ein Stadtschreiber Keller, der sich meiner sehr freundlich annehme. Mein Vater fragte postwendend, ob das etwa der Dichter Gottfried Keller sei, wenn ja, sei ich der größte Glückspilz, denn das sei für ihn nach Goethe der erste ganze Dichtermensch. Richtig, es war der göttliche Gottfried, von dem ich damals mit 20 Jahren auch nicht eine Zeile gelesen hatte. Mein Vater aber sandte mir seine gesammelten Werke, und ich las nun staunend Zug um Zug alle die herrlichen Dinge. Dieser große Mann – mein Kneipphilister! Gespannt wartete ich auf sein Wiedererscheinen, und er kam. In ganz anderer Distanz von ihm ging ich neben ihm. her, schweigend, tief atemholend und fromm geworden, zur »Meise«. Ich war gut vorbereitet. Als wir saßen, nahm ich mir ein Herz und begann: »Herr Keller! Ich habe ja gar nicht gewußt, daß Sie ein so großer Dichter sind!« Da fuhr er auf: »Wennst noch an oinzig's Wurt von Dichten soagst, da hau i di an Schellen. Wir chommet hier nütt zusamme, um von Literatur zu schwätze, sonder um zu suffe! Also halt din Gosche!« Da saß ich mit all meinen Analysen von Novellen, Legenden und dem »Grünen Heinrich«, griff prostend zum Glas, und wir fanden uns im Weine wieder. Manchmal geleitete ich ihn nach Hause, und seine Schwester erwartete ihn ängstlich am Tor und schalt mich zeternd aus, so daß ich wie ein Pudel im Regen davonschlich. Dieser gewaltige Geist, in welchem die tiefste Zartheit der Empfindung plötzlich in vulkanisches Toben ausbrach, der still und fleißig seine Wunderwerke spann, bis ihn eine Dämonie wie einen schäumenden Nöck ans den stillen Tiefen rief, war beim Pokulieren der schlichteste, echteste und gröbste Schweizer, der es sehr übelnahm, wenn irgend jemand seiner Werkstatt in die Scheiben sah.

Später aber haben wir doch von Literatur »geschwätzt«. Er hat mir sogar ein wundervolles Wort gesagt vom Wesen der Dichtung. Einst fragte ich ihn, als er schon sänftiglich auf solche Themata einging: Wie man denn es mache, daß aus allen Versen und Zeilen so die geschlossene Eigenart, das Absonderliche, die unnachahmliche Persönlichkeit herausleuchte? »Wie wird man«, fragte ich unerschrocken, »eigentlich zum Dichter?«

Gottfried Keller sann lange überm Glase, und dann sagte er ganz weich und leise: »Wenn du das Wunder in dir entdeckst – dann bist du einer!« – Unwillkürlich summte es an mir vorbei: »Da halte dein Ohr dran, dann hörst du etwas«, wie es in seinem Liebe vom »milchjungen Knaben« hieß. Ich fragte ihn später einmal, ob er die Komposition dieses seines Gedichtes von Brahms, das ich inzwischen gefunden und gesungen, kenne. Er bejahte es: aber er möge es nicht hören, er müsse dabei zu schwer weinen. Wie der »milchjunge Knab«, so habe er eigentlich dem ganzen Leben ständig hilflos gegenübergestanden. Es sei etwas von Fabius Cunetator in ihm. Ich dachte an die Unentschlossenheit seines »Grünen Heinrich«, dem man immer zurufen möchte: »Na, denn doch vorwärts! Liebe endlich einmal los!« Dieser Gefühls- und Gedankenriese hatte die scheueste Seele, und nur wie ein Testament seiner schollengebürtigen Urkraft brach einmal lawinendonnernde Derbheit hervor. Einst erzählte er mir von seinem Aufenthalte in Berlin. Er sei im Dunckerschen Haus zum Tee geladen gewesen. Lindau, Spielhagen, Heyse und die ganze »kritzelnde« Dichterjugend sei beisammen gewesen. Da habe ihn jemand ganz »plump« gefragt, was er, Keller, denn von der jungen Berliner Literatur halte. »Weischt, was ich gemacht hob?« (Er nannte mich immer du, was ich, ohne zu erstarren, nicht zu erwidern gewagt hätte!) »I bin ussi go, sah uff'm Flur alli di Zylinderhüet von selle Poeten und hob sie aufgetrieben! Damit bin i furt – uff Nimmawiedersehn!« Die Geschichte hat mir später Paul Lindau als buchstäblich geschehen bestätigt.

Einmal las ich ihm auch schüchtern und mit bebender Stimme eigene Verse vor, darunter ein Föhnlied und ein Lied an die See. Er ließ sich dann von meiner Heimatsee vorschwärmen und hörte aufmerkend zu, dann sagte er: »Dös da muscht du dichten, dös vom Föhn verstehst du net!«


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