Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Nest und Geburt

Erste Jugend

In der alten Oderstadt Stettin, am 19. Juli 1859 mittags um 12 Uhr, an einem Sonntage, soll ich das Licht der Welt unter mächtigem und nachhaltigem Sträuben gegen meine Existenz erblickt und den Eintritt in dies Tal der Tränen, wie ich gestehe, völlig unbewußt vollzogen haben. Ich habe entsetzlich geschrien, und ich weiß mich des Grundes meines ausfälligen Unbehagens wirklich nicht mehr zu entsinnen. Ich habe nur einen einzigen, aber wirklich zuverlässigen Zeugen für die Geschehnisse im Beginn meiner Lebensbahn, dessen Aussagen zu bezweifeln ich ein ganzes Leben hindurch keinen Grund gefunden habe – meine Mutter. Sie hat die Sache so dargestellt, als habe ich mich von Beginn an höchst undankbar gegen das Lebensgeschenk und seine Spender benommen, zumal ich mit viel größerer Freude und Genugtuung begrüßt worden sei als meine beiden Vorläufer, meine Schwestern Anna und Käthe. Ja, in gewisser Weise war ich für meine Mutter sogar eine Art Erlösung und Entsühnung. Mein Großvater Schleich war nämlich so grausam, meine arme Mutter seit der Geburt meiner Schwestern kaum noch anzusehen; er verachtete sie, weil sie ja doch »nur Mädchen« zur Welt bringen könne. Diese Ungnade, in welche meine Erzeugerin, glaube ich, völlig schuldlos gefallen war, hob ich mit meinem Erscheinen glücklicherweise auf; ich gestehe aber, daß auch alle meine späteren, hier und da gerühmten Freudebereitungen sich im Grunde genau so unbewußt und verdienstlos, gewissermaßen automatisch, vollzogen haben wie diese erste. Was ist das aber eigentlich für eine barbarische Handlungsweise, einer Schwiegertochter seine väterliche Gunst so lange vorzuenthalten, bis sie einen Jungen zur Welt gebracht hat? Hat die ganze Welt, Mann und Frau, wirklich die stillschweigende Überzeugung von der höheren Wertigkeit des Männlichen? Meldet sich schon so früh die Sorge um ein rechtzeitiges Ringelein? Oder soll durchaus der Familienname erhalten bleiben? Genug, ich persönlich muß es also als einen hohen Glücksfall betrachten, daß ich ein Knabe war, als ich ventre à terre (Zeugnis meiner Mutter und meiner Hebamme – mein Vater hatte sich angeblich anderer Berufspflichten wegen der Zeugenschaft entzogen) zur Welt kam, nur um zu versuchen, sie sofort unter Protest mit Händen und Füßen wieder von mir zu stoßen. Sie erwies sich als die stärkere von uns beiden. Und so blieb ich auf ihr zurück, wenngleich ich in meiner Jugend später noch vielfach alle möglichen Versuche machte, mich ihr auf dem Wege recht zahlreicher Kinderkrankheiten wieder stillschweigend zu entziehen. Meine Kronzeugin sagt aus, ich sei eigentlich immer krank und darum ein sehr schwächliches und zartes Kind gewesen bis zu den Flegeljahren, von wo ab es sich merkwürdigerweise rapide mit mir gebessert habe. Wie dauerhaft kann ein Organismus werden, der anfangs gleichsam nur mit Treibhauspflege zu einer gewissen Bodenständigkeit heraufgepäppelt werden muß. Denn ich habe eine zweite Kronzeugin, meine Gattin, dafür, daß ich schließlich als mit einer Bombennatur begnadet mich erwiesen habe. Ich nehme an, daß hier die Mutterliebe, allerdings in starker Konkurrenz mit der meiner alten Pflegerin aus unserem Heimatsdorf mütterlicherseits auf der Insel Wollin, die 13 Jahre meine Beschützerin gewesen ist (Berta Gehm hieß die Gute), dafür das meiste getan hat. Sicher kann die Mutterliebe außerordentlich dazu beitragen, die Konstruktionsfehler der Anlagen solcher gepäppelten kleinen Maschinchen zu kompensieren.

Freilich war ich ihr Sorgenkind und bin es leider auch bis in ihr sehr hohes Alter geblieben. Sie wurde 86 Jahre alt. Wie vieles muß ich ihr jetzt abbitten, wenn ich hinauswandle auf den Kirchhof zu Stahnsdorf bei Wannsee zu ihrem Grabe, um immer den gleichen bekümmerten Schmerz vor dem Blumenhügel zu empfinden, wie alle Grabbesucher, nicht darüber allein so sehr, daß die Lieben nicht mehr sind, als vor allem darüber, daß noch keiner den Geschiedenen so viel Gutes getan hat, als sie es um uns verdienten. Erst wenn man jemand verloren hat, fühlt man ganz deutlich, wieviel an Liebestaten man versäumte.

Meine Familie stammt letzten Endes aus Bayern. Laut Mitteilung meines Vaters wanderte im 17. Jahrhundert ein merkwürdigerweise protestantischer Pfarrer, Christian Schleich, aus München nach Freienwalde an der Oder aus. Wir pommerschen Schleichs, seine Nachkommen, sind also mit den Münchener Malern Schleich verwandt, was mich angesichts der hohen Künstlerschaft eines Eduard, Ernst und Robert Schleich mit Stolz erfüllt, auch erklärt, warum das Malen- und Zeichnenmüssen mir und meinem Bruder, vor allem meinem Onkel Hans Schleich, dem bekannten, sehr bedeutenden Seemaler und Landschafter, im Blute steckte. Die pommerschen Schleichs kamen dann in die Umgegend Stettins. Um 1780 herum gab es eine berühmte Kornspeicherei von »Goldammer und Schleich« bei Stettin, die einer meiner Vorfahren begründet hatte. Noch heute gibt es einen Volksliedvers, der darauf hindeutet. Er lautet:

Jo! Wer da wohnt up de Wyk (Vorstadt von Stettin),
De is so rik
As »Goldammer und Shlyk« (Schleich).

Dieser kaufmännische Sinn muß vollständig verkümmert sein. Mütterlicherseits sind wir ganz reine Niedersachsen. Die Familie Küster stammt aus Mecklenburg, der älteste aufspürbare Sohn war ein Dorfschulmeister in Malchin. Die folgenden Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern, Fischer, Ansiedler um das Stettiner Haff und auf der Insel Wollin. Die Familie meiner mütterlichen Großmutter, Haushalter, war lange in der Stadt Wollin, in deren Umgebung die alte Stadt Vineta versunken sein soll, ansässig. Eine richtige Bürgermeisterfamilie.

Ehe ich mich an den Versuch, mein Elternhaus zu schildern, heranwage, möchte ich einiges über meine alte Vaterstadt selbst berichten, wie ja auch zu einer richtigen Naturbeschreibung eines Vogels zunächst der Baum oder Strauch gehört, auf dem er nistet, bevor die Struktur des Nestes erörtert zu werden pflegt. Aus Bau und Art beider kann manches auf die Lebensweise des Erbrüteten erschlossen werden.

Stettin, die alte Wendenfeste, ist eine echte Hafenstadt am Abhang des mit schwerem Laubwald tief umhüllten uralisch-baltischen Höhenzuges. Es liegt zu beiden Seiten der Oder, deren mehrere Arme Teile von ihm inselartig umfassen. Der breite, nur träge, grau und lässig dahinfließende Strom durchquert die Altstadt direkt nach Norden, links und rechts von Hafenanlagen, Werften, Villen und bergigen, schön bewaldeten Vororten umrahmt, die bald auf der rechten Seite von flachen Wiesen abgelöst werden. Der Strom erweitert sich dann in einen großen See, den Dammschen, und das breite Papenwasser, um dann mächtig in das Haff auszuladen. Diesem Haff und seinen drei fächerartig gespreiteten Armen: Peene, Swine, Dievenow, werfen sich die Inseln Wollin und Usedom dammartig entgegen und trennen das Haff von dem Meer der Pommern, Balten und Skandinavier, der Ostsee. Die Insel Wollin war die Heimat meiner Mutter, woselbst sie mit 12 Geschwistern eine auch mein Leben sonnig überstrahlende Jugend genoß, deren die ganze kinderreiche Sippe in dem Dorfe Kalkofen auf den Besitzungen meiner Großeltern und Onkels bis zu unserer Reife wie eines großen Glückes teilhaftig wurde. Meine ganze Jugend war eine Glückspendel-Bewegung zwischen Stettin und dieser herrlichen Insel Wollin, von der das sommerreisende Publikum ja nur ein kleines Stückchen um Misdroy herum lieben gelernt hat. Von den schönen Wundern ihres Innern werde ich noch vieles zu berichten haben. Sie ist mein Ithaka der Jugend, das die Erinnerung mit allen Zaubern des ständigen Heimwehs umwoben hat. Stettin ist bergig auf der Westhälfte und fällt ziemlich steil zum Hafen ab und trug in meiner Jugend noch vornehmlich das Gepräge einer echten Fischer- und Kommerzstadt. Die ganze blühende Entwicklung vom vorherrschenden Großsegel- und Vollschiff bis zum mächtigen Kauffahrteidampfer und den häuserhohen Ozeanriesen habe ich miterlebt. War doch der »Vulkan«, diese weltberühmte Werft, eine Hauptproduktionsstätte größter Dampfer und Kriegsfahrzeuge für aller Herren Länder. Eng waren wir Schleichs mit dem Vulkan verwachsen. Nicht nur, daß mein Vater Augenarzt an diesem Institut war, in dem Tausende von Arbeitern den Stahl zu Schiffsrippen, Rumpfgliedern und Maschinenkesseln umschmolzen, ihn weißglühten, hämmerten und nieteten, was wir Jungen alles eifrig mit ansahen, auch die leitenden Persönlichkeiten waren uns verwandt oder wenigstens eng befreundet. So meine Oheime Schneppe und Koppen, von denen der erstere Aufsichtsrat und der andere ein Jahrzehnt und länger der erste Direktor der Werft war, so Albert Schlutow, der Liebling Kaiser Wilhelms II. (er hieß im Schloß nur »Onkel Schlutow«, genau wie bei uns). In welche naive Zeit meine erwachende Jugend noch hinaufreicht, beweist ein von mir in jungen Jahren belauschtes und bewahrtes Gespräch, das zum Streit anschwoll, zwischen meinem Vater und Onkel Schneppe, einem Vatermörderkragen-Original von eigentümlichster Römerkopfprägung, wie es dazumal in Stettin viele gab, urwüchsig derb, rückständig bis in die Puppen, aber lebetoll und ein Schwerenöter. Ich höre ihn noch über den strittigen Schiffsbau also sprechen: »Karl, dat is ja 'n Unsinn mit den Eisenschiffen! Dat weiß doch jedes Kind: Holz schwimmt woll, Eisen versinkt. Et is unmöglich, dat sich eiserne Schiffe über Wasser halten!« Sonderbar. Er hat in gewissem Sinne für seinen beschränkt stettinischen Standpunkt recht behalten! Denn Stettin hatte wahrlich damals kein Glück mit seinen großen heimatlichen Eisenschiffen. In meiner Jugend bildete sich eine Stettin-Neuyorker Passagierdampfer-Verbindung, der »Baltische Lloyd« genannt. Drei prachtvolle, große Ozeandampfer dieser Gesellschaft, alles Schiffe des Vulkan, versanken hintereinander, zwei davon ohne jede Kunde, eins, an die norwegische Küste verschlagen, mit Mann und Maus! Wieviel Hunderte der schönsten und berühmtesten Seekolosse liefen später auf der Vulkanwerft vom Stapel, diese drei heimischen Riesen erwürgte die Flut! Oh, wieviele Großfeste haben wir als Kinder mitgemacht, die Stapelläufe der berühmtesten Amerikafahrer der Welt und die herrlichen Stammesriesen unserer aufblühenden, wappenstolzen Marine, die nun jetzt am Grunde der See oder in fremden Häfen entehrt und entfahnt trauern. Diesen Trümmerbruch einer Jugendhoffnung unseres Vaterlandes, die ich wachsen und blühen sah mit eigenen Augen wie mein eigenes junges Leben –, diesen Schmerz eines echten Hafenkindes werde ich niemals verwinden. Ja, glühend, staunend haben unsere Kinderaugen gehangen an dem einen kurzen Tau, nach dessen Kappung, wenn die Champagnerflasche, aus königlicher Hand gegen den Schiffsbug geschleudert, schäumend barst,Anatole France irrt, wenn er diese Sitte, am Steven des vom Stapel laufenden Schiffes eine Champagnerflasche zu zertrümmern, eine alte barbarische List nennt, die Götter zu besänftigen etwa wie mit dem geopferten Ring des Polykrates. Wir seefahrenden Pommern haben dafür eine weit sinnvollere Erklärung:

Ich fragte einen alten Kapitain,
Warum an Schiffen, die von Stapel gehn,
Man müsse die Flasche Champagner zerschellen?
Der sagte: Süss versupen's in de Wellen!
De irste Schuum, de den Steven leckt,
Wenn de oll Buddel zerbreckt,
Die möt von de Sünn' geboren sin!
Die Sünn' moakt Water und moakt den Win;
Doch möt de Preister de Buddel segnen,
Süss künn den nigen Kahn doch wat begegnen.
Denn, müßt' hei ahn' Win in't Water krupen,
Möt hei versupen!
der Koloß zu zittern begann, furchtbar drohend kaum merklich ein wenig seitlich hin und her schwankte und nun wie ein Seeungeheuer rückwärts hineinglitt in die Flut, aus deren Geist und Wesen ihn Menschengeist erschaffen! Wie stolz fühlten unsere Kinderherzen hier dutzendfach Reich und Heimat sich gleichsam hineinbohren in die große Welt zur Ebenbürtigkeit der Nationen – und nun? Wann wird der deutsche Siegfried ein solches Schwert wieder schmieden können, wie es die schöne deutsche Flotte war, für deren Bau die Hände meiner Landsleute so viele Jahrzehnte Schwielen trugen?

Natürlich lagen wir Jungen ständig auf dem Wasser oder trieben uns im Hafen, am Bollwerk in nicht immer holdester Eintracht mit den eingeborenen Bollwerksbrüdern umher, da es überall etwas an Überseewaren zu bestaunen, studieren, stibitzen und zu naschen gab. Da galt es Johannisbrot, Mandeln, Apfelsinen, Zuckerkand, Rohrzucker, Lakritzen und allerhand Gewürze zu mausen. So verlief meine erste Jugend ziemlich kriegerisch in Gemeinschaft von Räubergenossenschaften und Bummlergesindel, da meine Eltern meiner Erinnerung nach bis in meine bewußten Jahre auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, mich standesgemäß zu erziehen, wofür ich ihnen von Herzen danke, denn ich habe mir aus dieser Zeit des Verkehrs mit Schnapphähnen, Bowkies und Latschenträgern, deren futuristisch-kubistisch geflickte Hosen eine sonderbare Neigung besaßen, ständig abwärts zu rutschen, eine gewisse Vorurteilslosigkeit gegen Standesunterschiede und eine gewisse Vorliebe für die Enterbten der Nation bewahrt, nebst der humoristisch-fatalistischen Neigung, irgendein herannahendes Schicksal ruhig auf mich zukommen zu lassen wie den Schutzmann des Bollwerks. Aus zahlreichen Bollwerks- und Straßengefechten, namentlich auf den Abhängen der »Grünen Schanze«, wurden strategisch sorgsam vorbereitete Straßenschlachten mit Besenstielen und Faßreifen, die prächtige runde Husarensäbel abgaben, entwickelt; aus vielen solcher Renkontres, bei denen es häufiger Zahn um Zahn als Auge um Auge ging, habe ich mir eine gewisse Zuversicht in allen Kampflagen erworben, aber auch eine deutliche respektvolle Hinneigung zu meinen Feinden; denn wenn wir uns auch prügelten, wir hatten uns doch ganz gerne, und so habe ich auch meinen zahlreichen und manchmal nicht sehr zarten Gegnern im Lebenskampfe nie so recht bös sein können. Von den Jugendkampfspielen her wußte ich, man vertrug sich ja doch schließlich wieder, und es kam immer eine Zeit, in der »alles nicht gewesen sein mußte«! Vielleicht wissen wir Männer gar nicht, wie lange wir eigentlich »Jungens« bleiben und mit den ernstesten Dingen ein leider viel zu wichtig genommenes Spiel treiben. Nur wenn man die Wissenschaft allzu ernst nimmt, wird man bös. Bewußtsein der Lustigkeit des Gedankenspiels macht gütig und tolerant. Auch blieben natürlich zur Milderung unserer Sitten romantische Aventüren mit den nicht immer appetitlichen Schwesterchen unserer Feinde keineswegs aus, und ich entsinne mich mancher Wanderungen in den alten, streng gesperrten Festungswällen und über die Kasematten der Garnison mit Beutegeschenken, Räuber- und Pfänderspielen, Blumenpflücken und Liebkosungen aller Art auf diesen Zügen in Scharen und zu Paaren.

Ein gütiges Geschick hat mir diesen Zug ins Romantische bewahrt und mir bis in mein hohes Alter dieses echt deutsche Schweben durch die Dinge und über ihnen nicht verleidet, ein deutliches Gefühl, als sei dies Leben und seine Erscheinungen nicht das allein Erreichbare, sondern als gehe noch etwas Unerkennbares da mit und nebenher, ja, als sei alles gar nicht so wirklich, wie es scheine. Ich erinnere mich, daß wir darüber schon früh nachdenkliche Reden, im Grase sitzend, führten, daß man doch eigentlich gar nicht wissen könne, ob nicht immer »Wer« mit einem gehe, eine Vorstellung, die sich dann in meinem lieben Freunde und späteren Schwager Paul Oelschlaeger schon früh in der drolligen Vorstellung eines ihn ständig begleitenden »Luftroberts« verdichteten und die ich in meinem Traumroman »Es läuten die Glocken« zu seinem Gedächtnis poetisch auszuwerten versucht habe. In unsern Spielen blühte überhaupt bisweilen eine gewisse Geistigkeit und Frühreife, eine Art spöttischen Kritizismus und eine Naseweisheit auf, die ich mir nicht anders erklären kann als mit dem Ab- und Nachglanz einer Art geistiger Klassizität Stettins, die um das Jahr 1840 dort einsetzte und über 20 Jahre eine Hochspannung geistig-künstlerischen Lebens erzeugte, die mich aus den Erzählungen meiner Eltern und älteren Verwandten stets angemutet hat, als habe sie etwas von Weimarer Luft ausgestrahlt. Diese Periode in Stettins Entwicklung verdient einmal beleuchtet zu werden, zumal ich glaube, daß diese Blütezeit meiner Vaterstadt auf uns »jüngere Stettiner« damals von einem sehr erheblichen Einfluß gewesen ist. Nicht, als ob um eine geistige Persönlichkeit vom überragenden Schlage eines Goethe sich die intellektuellen Kreise konzentriert hatten oder als ob eines Fürsten Mediceertum die Geister besonders angezogen hätte, aber es war damals in Stettin eine Schar hochbedeutender Männer und Frauen vereinigt durch die Gunst der Zeit, deren Namen auch weit in die Lande hinausleuchteten. Der Balladen-Komponist Carl Löwe, Organist an der St.-Jakobi-Kirche, in deren Orgel, in der Höhlung der großen C-Flöte, in goldener Kapsel sein Herz laut testamentarischer Bestimmung eingemauert ist; der Komponist herrlicher gemischter Chöre, Ferdinand Oelschlaeger, der Großvater meiner Frau, dessen in der Musikliteratur einzigartige Meisterquartette einst in Pommern und in der Mark populärer waren als die Mendelsohns und sie an Feinheit und Originalität der Stimmführung weit überragen. Der Historiker Schmidt, der Dichter Ludwig Giesebrecht, ein Lyriker und Epiker ersten Ranges, ein Mann, der – man lese ihn nur – wahrhaft Goethesche Töne hatte und der Carl Löwe unzählige Texte zu Liedern, Balladen und Oratorien lieferte. Dann war da ein Universalgenie, Robert Graßmann, der, eine Autorität im Sanskrit, zugleich ein perfekter Musiker und ein weltberühmter Physiker, Mathematiker und Philosoph war, den die französische Akademie zu ihrem Ehrenmitgliede ernannte. Leider war er beim Empfang der Ehrung schon tot. Da war der hochgeistige Gymnasialprofessor Calo, ein förmlich mystischer Mann, den, groß, schlank, blaß, mit schneeweißem, hutlosem Haupt in eigentümlich griechisch wallendem Faltenmantel ich noch oft in seiner imponierenden Erscheinung über den Roßmarkt wandeln gesehen habe. Calo hatte Weltreisen gemacht, war ein Mysterium-Sucher, hatte einen sonderbar faszinierenden Einfluß, laut Schilderungen meines Vaters und anderer, auf die Stettiner Gymnasialjugend, die für ihn begeistert war und von ihm etwas wie griechisches Weinlaub um die Stirne gewunden und einige Tropfen vom Safte des Dionys ins Blut geträufelt erhielt. Calo hat sonderbare Novellen und tiefinnige Sonette verfaßt, die ich unter dem Einfluß der Schwärmereien meines Vaters und meiner Oheime verschlang und von denen ich noch heute nicht begreife, daß sie nicht ihren Siegeszug durch die Welt genommen haben. Eine Stadt mit merkwürdiger Physiognomie war Stettin. Sie tat von je nie etwas für ihre großen Söhne, sie ließ ihren Ruhm in ihren Mauern eingeschlossen, tat, als ob es gar nichts wäre, einen Löwe, einen Giesebrecht den ihren zu nennen, ließ ihre Sterne nicht über ihre Vorwerke hinausleuchten, besaß aber zugleich einen so hohen Stolz über ihre Geistigkeit, daß ihr von außen, von Berlin schon gar nichts recht imponieren konnte, wodurch sie lange Zeit für produzierende Künstler ein verhaßter und gefürchteter Boden war. Der Ton in Stettin war »überkiekig«, snobbistisch noch bis in meine Jünglingsjahre hinein. Nur nichts Fremdes anerkennen! Das hatten wir ja Gott sei Dank alles bei uns selbst. Es war erstaunlich für uns Jüngere zu hören, daß den richtigen Stettiner Leuten es gar nicht besonders imponierte, daß allsonnabendlich in der Gesellschaft ein gewisser Carl Löwe mit einem neuen Manuskript angezogen kam und den Verwandten eine frisch gesetzte Ballade so »Nach Tisch« vortrug, die sie auch wirklich »recht hübsch« zu finden geruhten, und es paßt ganz gut zu diesem selbstbewußt stettinisch kühlen Ton des Ansichherankommenlassens, daß viele alte Stettiner noch spät verwundert waren, daß »unser Carl Löwe« so etwas wie ein klassischer Genius gewesen sein solle. »Is woll nich möglich? Das kleine Männchen? Na, ja«, usw. Es paßt ganz gut dazu, daß die damaligen Väter der Stadt diesem Heros der Ballade glatt den Abschied gaben, als er nach mehr als fünfzig Dienstjahren, krank bis ins Mark, um einen Erholungsurlaub bat, noch dazu mit schäbiger Pension. Mögen sie sich im Grabe umdrehen vor Schmach und Schande! Mögen sie es verantworten, daß der Komponist ganz unsterblicher Gesänge, Ferdinand Oelschlaeger, im Winter mit seinen Söhnen das Eis der Waschschüsseln mit dem Stiefelknecht aufschlagen mußte, weil sie zu arm waren, um sich Heizholz halten zu können, und mögen sie es rechtfertigen, daß derselbe Mann, der von seinem Könige für ein herrliches Hohenzollern-Quartett goldene Dosen erhielt, fast Hungers starb und doch in stiller Größe himmlische Weisen der Orgel der kleinen Schloßkirche am Königstor entlockte! Sie haben es nicht gesehen, welch ein echter deutscher Meister er war, eine dankbare Fachwelt wird ihn neu entdecken. Sie haben nicht gewahrt, daß ein komplettes Genie, der alte Dohrn, der Vater des weltberühmten Neapeler Zoologen Anton Dohrn, unter ihnen dichtete, komponierte, entdeckte. Er hat mehrere Bände spanischer Dramen herausgegeben und eigene gedichtet, Volksliedersammlungen aller Herren Länder veranstaltet, unzählige naturwissenschaftliche Originalarbeiten geschrieben und wie ein echter Musensohn gefiedelt, gesungen und die Welt durchwandert: überall froh begrüßt und geehrt. Nur Stettin, seine Vaterstadt, hat nicht gewußt, wie genial er war, nur daß er ein schnurriger Kauz schien. Ein Trotzkopf von Stadt. Alles selbstverständlich und »na! so doll ist's doch woll nich!« Die Goldammer, eine feinsinnige Dichterfrau, gab Oelschlaeger Lieder, die man in jeder Hütte, auf dem Wasser, im Walde überall vierstimmig in reinem Satz noch in meiner Jugendzeit erschallen hören konnte. Die Zitelmanns, einer immer geistiger, klüger und musikalischer als der oder die andere, deren Sproß, Conrad Telmann, ein selbst in Stettin anerkannter Dichter war, von denen heute noch Käthe und Valerie Zitelmann in Berlin leben und weithin wirken als Schriftstellerinnen und Gesangspädagoginnen. Ferner der Komponist Heinrich Triest, dessen schöne ein- und mehrstimmige Gesänge, kaum verlegt, tausend Herzen in Pommern höher schlagen ließen. Robert Prutz, der Dichter Kugler (»An der Saale hellem Strande« und »Gregor am Stein«) und einer der Herrlichsten, der alte Glagau, ein Lehrer der weiblichen Jugend, den Tausende von Stettiner Müttern im Herzen getragen wie ein Kleinod ihrer geistigen Heimat. Da war der alte Mahnke, ein Repräsentant des ehrenfesten Bürgertums, ein klassischer Junggeselle von höchster geistiger Feinheit, ein schlichter Weinhändler, der aber komponierte, mit einem wundervollen Sarastrobaß, ein alter treuer Ekkehard der Jugend Stettins in meiner Kindheit, der Typus von Biederkeit und Herzensgüte, der den besten Charakteren in »Soll und Haben« völlig ebenbürtig zur Seite steht. Noch oft schauen wir dankbar verehrend zu seinem schönen Porträt auf, das wir besitzen, denn er war der Patenonkel meiner Frau. Da waren die »Ivers«, eine Musikfamilie, deren acht Mitglieder ich noch das Mendelssohnsche Oktett herunterfiedeln gehört habe. Schlutows, die sehr feingeistigen Geldaristokraten der Stadt, Grunows und Plüddemanns, deren Sproß Martin Plüddemann, der einzige ebenbürtige Erbe und Verehrer Löwes, der von Richard Wagner als der bedeutendste seiner Schüler bezeichnet wurde, der in Stettin kaum bekannt, schließlich versunken und vergessen noch heute auf eine Nachblüte seiner unsterblichen, mehr als fünf Bände umfassenden Werke harrt. Sie wird kommen, so gewiß wie auch Löwe noch einst zu den größten Klassikern gerechnet werden wird. Von Adolf Lorenz, Löwes Nachfolger im Amte, hätte ich noch besonders zu sprechen; auch ihn haben sie nicht ganz gewürdigt.Viele seiner Oratorien sind Meisterwerke, sein »Golgatha« ist von überwältigender Schönheit. Da waren die Kritiker Koßmaly, Nathusius, Robert Seidel, alle auch aktiv musikalisch. Da die Wilsnachs, Steffens, die Behms, deren Sprossin Rosa mein hier reproduziertes Kinderporträt gemalt hat, und von denen Eduard Behm einen hochgeachteten Namen in der Kunstwelt sich errungen hat.

Es gab hier trauliche Kunstnester in Familienkreisen von einem geistigen Kaliber, das man in der Metropole mit Laternen suchen kann, ohne eine solche Fülle von Geistigkeit und künstlerischem Niveau zu finden.

Von dieser klassischen Epoche Stettins, der nachzuspüren sich auch kulturhistorisch wohl einmal lohnte, wehte noch ein vergoldeter holder Hauch in meine Jugend hinein. Mein Vater sprach viel und mit einem gewissen Begeisterungsblick von dem Glanz jener Tage, und es mag wohl sein, daß die anbetende Verehrung, mit welcher er trotz eigener ungewöhnlicher Begabung aufsah zu seinen großen Lehrern und Zeitgenossen, von erheblichem Einfluß auf meine hochgespannte geistige Sehnsucht gewesen ist. Das war jedenfalls ein Kulturboden ganz erlesener Art, auf dem das Pflänzlein meiner Wichtigkeit wohl üppiger hätte gedeihen können. In unserem Besitz ist noch ein Dokument aus dieser Zeit, welches Bände spricht von dem Stil jener Blütentage Stettins: ein Opernbuch, in Stettin gefertigt, ein Erinnerungsalbum, welches eine freie Dilettantenvereinigung, »der Opernverein«, geschaffen hatte. In wundervollen Aquarellzeichnungen sind die einzelnen Opern und ihre Mitwirkenden initialenhaft festgehalten – die schönen Zeichnungen und Blätter erinnern an Menzels Adressen –, welche von den Sängern und Spielern im Familienkreise ausgeführt wurden. Darunter figurieren: »Die Zauberflöte«, »Don Juan«, »Jessonda«, »Templer und Jüdin«, »Fidelio«, die, wie die Altvorderen berichten, schöner als irgendwo auf der Bühne besetzt waren, ausschließlich von Mitgliedern dieser einzigartigen Vereinigung, welche als Dirigent Ferdinand Oelschlaeger zusammenhielt, der aus der Orchesterpartitur akkompagnierte, und immer noch Zeit fand, dem neben ihm sitzenden Sohne, wenn er nicht rechtzeitig die Notenblätter umschlug, trotz Partiturenlesen und Dirigieren, eine sanfte Ohrfeige zu applizieren. Auf welcher Höhe muß das Können dieser Dilettanten gestanden haben, wenn eines Tages bei der Erkrankung des Tenors am Stadttheater ein Mitglied derselben ohne Vorbereitung in Lortzings »Waffenschmied« mit vollem Erfolge einsprang. Hier sang auch als junger Mann mein Oheim Hans Schleich mit, der ein in ganz Deutschland hochberühmter Tenor wurde, nachdem er von dem Tenorkönig Roger in Paris auf Kosten meines Vaters ausgebildet war. Ich habe ihn noch als Kind als Raoul in den »Hugenotten«, als George Brown und als Joseph in Ägypten auf dem Stettiner sehr schönen Stadttheater singen hören. Ich erinnere mich noch deutlich des eigentümlichen Gefühls über das stolze Bewußtsein, daß der, der da so himmlisch schön sang, daß das Publikum aufsprang und zu rasen begann, mein Onkel sei. Ich fühlte mich völlig verantwortlich für seine gewaltigen Triumphe. Einst kam er mit dem gefeierten Champion des Gesanges, jenem weltberühmten Pariser Tenor Roger, von dem Albert Niemann mir sagte, daß er 100 Prozent besser als Caruso gewesen sei, nach Stettin. Dieser wollte seines Lieblingsschülers, der sein Freund geworden war, Heimat sehen. Er sang den Massaniello und den George Brown in Stettin. Es war ein unbeschreiblicher Jubel in der Stadt. Ich glaube, selbst Albert Niemanns Organ reichte nicht an die Fülle dieser Löwenstimme heran. Abends war Roger im Hause meines Vaters, und ich erinnere mich genau des kleinen Mannes mit dem künstlichen linken Arm. Roger war auf einer Jagd verstümmelt und danach amputiert worden. Er aß, während wir Jungens, mein Bruder Ernst und ich, verstohlen hinter seinem Stuhl herumspionierten, mit einer eingehakten künstlichen Hand, der er eine eigene goldene Gabel einfügte. Nach Tisch sang er einmal, meine Tante, Therese Schleich, begleitete ihn. Ich höre ihn noch: Schuberts »Erlkönig«. Ich weiß noch gut, daß wir beiden kleinen Kerle vor Angst hinter die Gardinen krochen, als der Stimmriese echt französisch das hohe A auf dem »brauch' ich Gewalt!« herausschmetterte. Mein Onkel Hans, der bei uns wohnte, imitierte ihn zum Entsetzen meiner Kaffee trinkenden und ruhig frühstückenden Großmutter Schleich am nächsten Morgen, indem er, so wie ihn Gott geschaffen, den Tamino übend, ins Zimmer stürzte und herausbrüllend: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! sonst bin ich verloren! Der gräßlichen Schlange zum Opfer erkoren!« sich der Länge nach auf den Teppich warf. Die alte Dame hätte bald vor Schreck Schaden gelitten, mein Vater und wir Kinder wollten uns nach der ersten Verblüffung totlachen über den tollen Einfall. Denn er erhob sich drollig-ernst und sagte: »Na, was ist denn los? Ich übe ja bloß und mache Roger nach!«

Doch ich greife meinen Erlebnissen vor.

Meine ersten Erinnerungen reichen deutlich bis zum Jahre 1864, also nur bis zu meinem 5. Kinderjahre. Das kann ich deshalb so sicher konstatieren, weil ich mich genau an die österreichischen Soldaten in weißen Mänteln und blauen Kappen erinnere, die damals auf dem Durchmarsch nach Schleswig-Holstein in Stettin Quartier nahmen. Manch einer hat mich an die Hand genommen, und ich marschierte stolz neben der Kompanie durch die Straßen. Das ist mir sehr deutlich als Bild im Gedächtnis. Dann weiß ich noch genau jede Stelle auf unserm Haushof zu bezeichnen, der ein ganzes Arsenal war von Weinhändlergerät, Riesentonnen, Flaschenständern, Weinkannen, Riesenfiltriertrichtern und Glashebern, Küferschürzen, Winden und Holzrollen mit tief eingeschnürten Furchen, welche die mit vollen Tonnen schwer belasteten Taue, von vielen Arbeiterfäusten langsam abwärts in den Keller gelassen, eingerillt hatten. Dieser Hof mit seinen Speichern, Ställen, Spülräumen, Wendeltreppen war ein förmliches Paradies für unsere Kinderspiele. Die kleinen Wagen für Stückgut waren uns wahre Glücksgefährte. Die tiefen gewölbten Keller waren von mittelalterlicher dumpfer, unheimlicher Anziehungskraft. Hier wurde unter Führung von Georg Knaak, einem förmlich mysteriösen, schon älteren spinnbeinigen Geisterling à la E. T. A. Hoffmann, uns versammelten Spielkameraden allerhand Hokuspokus beigebracht. Hier wurde Pulver fabriziert, Feuerwerk zusammengestellt und manche Explosion veranlaßt, Blei gegossen, Geräte eingeschmolzen, harmlose Falschmünzerei getrieben und in Retorten gesiedet und gebraut, so daß es ein Wunder ist, daß wir nicht die ganze Wollweberstraße 22 in die Luft gesprengt haben. Es scheint nachträglich erstaunlich, daß man uns so gewähren ließ. Der alte dicke Weinhändler Scheibert, unser Hauswirt, ließ uns aber nach Herzenslust schalten und walten und betrachtete uns, fürchte ich, bei seinen zahlreichen Obliegenheiten des Küperns, Weintaufens und -probens nur wie eine Art Kaninchen, die ihm wohl einmal zwischen die Beine kamen, aber seinen rollenden Trott nicht stören konnten.

Ich weiß mich noch ganz genau einer Stelle auf diesem paradiesischen Spielplatz kindlicher Romantik zu erinnern, und sehe mich noch dasitzen mit Stein auf Steinen eine Taschenuhr zerklopfend, die mir Fünfjährigem (o Vater-Geist!) mein Papa unverantwortlicherweise geschenkt hatte. Es war wohl Wissensdrang, der mich zwang, dem kleinen Vogel der Zeit die Flügel zu rupfen, wenigstens soll ich, von allen, auch vom Vater, arg beschimpft wegen dieser Missetat, weinend herausgeplärrt haben: »Jungens müssen doch wissen, was da 'inn is!«


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